Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.11.2006. In der FAZ beschreibt der Programmierer Charles Simonyi, wie er sich auf seinen Flug in den Weltraum mit der Sojus TMA-10 vorbereitet. In der SZ erzählt Orhan Pamuk, wie er die Dinglichkeit der Dinge findet. In der NZZ schreibt der Orientalist Tilman Nagel über Gewalt und Islam. Die taz findet heraus, dass die Globalisierung an Amokläufen schuld ist. Im Tagesspiegel träumt Klaus Wowereit von einer Berliner Kunsthalle. Und die FR begutachtet die in die Jahre gekommenen Matadoren der Berliner Schaubühne.

NZZ, 25.11.2006

In der Beilage Literatur und Kunst widmet sich der Islamwissenschaftler Tilman Nagel dem Verhältnis von Gewalt und Islam und konstatiert: "Die vom Koran, von den frühen Überlieferungen und ihrer islamrechtlichen Durchdringung getragene Überzeugung, gerade im machtpolitischen Erfolg beweise sich die Wahrheit des Islams, ist ungebrochen lebendig geblieben." Und den offenen Brief, mit dem muslimische Würdenträgern auf den Regensburger Vortrag des Papstes antworteten, kommentiert Nagel sarkastisch: "Kein Muslim zu sein, sei nie ein legitimer 'casus belli' gewesen, schreiben die achtunddreißig. In der Tat, erst wenn der 'Ruf zum Islam' dreimal ignoriert wurde, durfte der Angriff erfolgen, so jedenfalls wollte es Mohammed."

Außerdem schreibt Karin Hellwig über die große Velazquez-Ausstellung in der Londoner National Gallery. Franz Zelger besucht die William-Hogarth-Retrospektive im Pariser Louvre. Und in der Reihe "Das Tier und wir" schreibt Andrea Köhler über den Siebenschläfer.

Im Feuilleton schreibt Marli Feldvoss zum Tod des französischen Filmschauspielers Philippe Noiret. Besprochen werden Simon Stephens' Stück "Motortown" in der kleinen Schiffbauhalle des Schauspielhaus Zürich, ein Auftritt von Evgeny Kissin beim Klavierfestival in Lucerne und Bücher, darunter Peter Sloterdijks politische Psychologie "Zorn und Zeit", Silvio Huonders Roman "Valentinsnacht" und Bernhard J. Dotzlers Studie "Archäologie der Computerkultur" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 25.11.2006

Martin Altmeyer erklärt auf Psychoanalytisch, warum die Globalisierung jetzt auch noch an Amokläufen Schuld ist: "Mit aller Vorsicht ließen sich - aus der Perspektive einer relationalen Psychoanalyse - die gewaltschwangeren Konflikte, die den Globalisierungsprozess begleiten, als unbewältigte Näheprobleme eines Kosmos begreifen, der auch mental zusammenwächst. Mit der Nötigung zur wechselseitigen Anerkennung bringt die globalisierte Intimität, so meine These, auch jene tödliche Kraft der Negation hervor, die Differenz auslöschen muss, um Unterschiedslosigkeit herzustellen."

Weitere Artikel: Der neuerdings als Mohammed- und Christus-Köpfer notorische Regisseur Hans Neuenfels erläutert im Interview das Konzept seiner Inszenierung der "Zauberflöte". Nichts Neues gibt es im Kulturkampf um Suhrkamp - Christoph Schröder referiert es ausführlich. Auf der Meinungsseite geht die Politikwissenschaftlerin Barbara Hollanz-Cunz in einem Gespräch zum Thema Feminismus unter anderem mit der Frauendarstellung in Hamburger Magazinen hart ins Gericht: "Der Spiegel ist in dieser Strategie, Männer zu überhöhen und Frauen herunterzuschreiben, kaum zu überbieten, und zwar schon seit Jahrzehnten."

Besprochen wird Thomas Ostermeiers Inszenierung von Mark Ravenhills neuem Stück "Das Produkt" an der Berliner Schaubühne und Bücher, darunter neue Buch des Spiegel-Redakteurs Gabor Steingart "Weltkrieg um Wohlstand", Jochen Hörischs Klagelied über die "Die ungeliebte Universität" und Horst Denklers Studie zu literarischen Debütanten im Dritten Reich "Werkruinen, Lebenstrümmer" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

In einer literataz-Beilage findet sich neben vorwiegend Kinder- und Hörbuch-Rezensionen auch ein Gespräch mit der Schrifstellerin Karen Duve über ihre Kinderbücher.

Auf der Meinungsseite beschleicht Warnfried Dettling in der Reihe zur "Rückkehr der Klassengesellschaft" ein übler Verdacht: "Als Unterschichten hat man Gruppen von Menschen definiert, die jede Hoffnung daran aufgegeben haben, durch individuelle Anstrengungen ihr Leben zu verbessern oder ihren Kindern ein besseres Leben zu schaffen. Ist dies nicht eine Definition, die man als Frage auf die Gesellschaft insgesamt übertragen könnte?"

Das taz mag hat heute entschieden einen Zug ins Morbide. Ralf Leonhard macht uns mit dem Umgang der Wiener mit dem Sterben vertraut, in Gegenwart und Geschichte, Wirklichkeit und Legende. Mark Sarg erzählt "Geschichten vom Dachverband der Leichen und Untoten". Und Michael Rutschky meditiert übers Altwerden, aber Appetitlichbleiben.

Und Tom.

FAZ, 25.11.2006

Die FAZ entdeckt jetzt offenbar die Ökologie fürs Feuilleton: Christian Schwägerl hat sich persönlich davon überzeugt, dass mit Sir Nicholas Stern nicht irgendein Ökoromantiker, sondern ein "integrer Ökonom" die gewaltigen Kosten des Klimawandels bemessen hat und in seinem Bericht auf eine Zahl mit zwölf Nullen gekommen ist. In der Randglosse verfolgt Christian Geyer die Debatte um Killerspiele. Dieter Bartetzko erlebte die Wunder des Lichts in Le Corbusiers nun fertig gestellter Kirche St. Pierre in Firminy. Stephan Sahm berichtet von einem Berliner Seminar der Bundesärtzekammer zur Sterbehilfe. Abgedruckt wird Daniel Kehlmanns Dankesrede zur Verleihung des Kleist-Preises. Michael Althen trauert um den französischen Schauspieler Philippe Noiret. Wiebke Hüster gratuliert der Choreografin Trisha Brown zum Siebzigsten. Jürgen Dollase speist im "Hermannsdorfer Schweinsbräu".

Auf der Medienseite berichtet Kerstin Holm über die indiffierenten Reaktionen in Russland auf den Fall des vermutlich vergifteten russischen Ex-Agenten Alexander Litwinenko. Gina Thomas liest die britischen Medien zu dem Fall.

Besprochen werden die Ausstellung "Iranische Kunst heute" im Freiburger Museum für Neue Kunst, Milos Formans Film "Goyas Geister", Roberto Ciullis Inszenierung des "König Lear" in Mühlheim, Mark Ravenhills "Produkt" an der Berliner Schaubühne, die Uraufführung von Erkki-Sven Tüürs Klavierkonzert in Frankfurt und ein Konzert von We are Scientists in Frankfurt. Auf der Plattenseite vergleicht Eleonore Büning Aufnahmen von Leos Janaceks "Intimen Briefen", vorgestellt werden des Weiteren Kuriositäten für Klavier von Robert Schumann und eine Dokumentation zur Post-Punk-Ära.

In der wieder auferstandenen Wochenendbeilage Bilder und Zeiten erzählt Charles Simonyi, der Programmierer von Word und Excel, wie er sich darauf vorbereitet, an Bord der Sojus TMA-10 zur internationalen Raumstation ISS zu fliegen. "Systemtheorie ist mein bestes Fach. Hier geht es darum, aus zerbrechlichen und gefährlichen Teilen etwas Zuverlässiges und Sicheres zusammenzubauen. Die Russen sind Meister in dieser Kunst, zum Teil, weil sie gegenüber ihren amerikanischen Kollegen beträchtliche Handikaps zu tragen hatten: einen Mangel an Ressourcen, einen Mangel an zuverlässigen Zulieferern und viele andere Probleme. Ich bin sehr darauf erpicht, ihre Art zu denken kennenzulernen. Stellen Sie sich vor, was man mit solchen unter Handikaps perfektionierten Techniken erreichen könnte, wenn man sie mit den unbegrenzten Möglichkeiten verbände, über die wir in Silicon Valley verfügen." (Hier sein Logbuch)

Katja Hoffmann lässt sich von englischen Autor J.G. Ballard bestätigen, dass Einkaufen gut für uns ist. Melanie Mühl unterhält sich mit dem forensischen Psychiater Hans-Ludwig Kröber. Besprochen Pierreluigi Serrainos Buch "NorCalMod - Icons of Northern California Modernism", Lily Bretts Roman "Chuzpe" und der neue Brockhaus (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Ruth Klüger Eduard Mörikes Gedicht "Die Geister am Mummelsee" vor:

"Vom Berge was kommt dort um Mitternacht spät
Mit Fackeln so prächtig herunter?
Ob das wohl zum Tanze, zum Feste noch geht?
Mir klingen die Lieder so munter..."

Welt, 25.11.2006

Im Feuilleton realisiert Cosima Lutz, dass die Menschen immer älter werden, wenn die eigenen Eltern sterben, hält das aber nicht für schlimm. Im Kurzgespräch mit Stefan Kirschner schafft es Berlins "Regierender Kultursenator" Klaus Wowereit, weder zu Opernstiftung noch zum Deutschen Theater irgendetwas Handfestes zu sagen. Jörg von Uthmann schreibt zum Tod des französischen Schauspielers Philippe Noiret. Die Reihe über die Berliner Philharmoniker erreicht die Zeit mit David Oistrach. Gerhard Charles Rump lädt zu den Aufwärmveranstaltungen der Art Basel Miami Beach ein. Gemeldet wir der Tod der Jazzsängerin Anita O?Day.

Besprochen werden Mark Ravenhills Stück "Das Produkt" in der Inszeneirung von Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne und das Album "Kingdom Come" des Rappers Jay-Z.

In der Literarischen Welt gräbt die Publizistin Ulrike Ackermann in ihrer ganzseitigen Warnung vor kulturkampfbedingt wachsender Unfreiheit ein schönes Zitat von Salman Rushdie aus: "Wir müssen uns auf die Dinge einigen, auf die es uns ankommt, als da wären: das Küssen in der Öffentlichkeit, ein Sandwich mit knusprigem Speck, Meinungsverschiedenheiten, avantgardistische Mode, die Literatur, Großmut, Wasser, die gerechtere Verteilung der Güter dieser Erde, Filme, Musik, die Gedankenfreiheit, die Schönheit, die Liebe. Das sind unsere Waffen."

Weiteres: Aufmacher ist Ulrich Weinzierls Salut vor dem vor 125 Jahren geborenen Stefan Zweig. Jennifer Wilton nähert sich lieber der neuen Generation, in Gestalt von Sasa Stanisic, dessen Debütroman "Wie der Soldat das Grammofon reparierte" es bis auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises schaffte. Für die Krimiwelt spricht Wieland Freund mit dem Autor Friedrich Ani.

Tagesspiegel, 25.11.2006

Im Gespräch mit Christine Lemke-Matwey und Rüdiger Schaper bleibt Berlins Kulturprimus Klaus Wowereit in Sachen Opernstiftung gewohnt unscharf. Immerhin springen zwei Absichtserklärungen raus. "Ich möchte weiter den modernen Tanz unterstützen, denn da ist Berlin Weltspitze, mit Malakhov, mit Sasha Waltz und den freien Compagnien. Das kann ausgebaut werden. Mein Traum ist eine Kunsthalle. Das fehlt in dieser Stadt. Es geht um Künstler, für die man noch nicht die Neue Nationalgalerie ausräumen kann und die nicht in den Gropius-Bau passen. Das ist ein ambitioniertes Projekt, dafür brauchen wir Zeit." Es will ja auch niemand drängeln.

FR, 25.11.2006

Mit seiner Inszenierung von Mark Ravenhills "Shoppen und Ficken" kam Regisseur Thomas Ostermeier einst groß raus. Neun Jahre später hat er nun Ravenhills neustes Stück "Das Produkt" in Szene gesetzt. Nikolaus Merck hat die Premiere erlebt: "Ob das pädagogische Konzept in der Schaubühne aufgeht? Die Zuschauer hatten viel Spaß, vielleicht zu viel. Und spendeten begeisterten Applaus für die inzwischen ein wenig angejahrten Matadoren, den verschmitzt lächelnden 'Einrichter' Thomas Ostermeier und, an seiner Hand, Mark Ravenhill, kahl, mit Bäuchlein, im Proleten-Look, der misstrauisch wie ein altes Reptil auf die feixende Menge blickte."

Weitere Artikel: Der Regisseur Hans Neuenfels spricht im Interview über seine Inszenierung von Mozarts "Zauberflöte". Den Nachruf auf den Schauspieler Philippe Noiret hat Daniel Kothenschulte verfasst. In ihrer Bonanza-Kolumne flucht Karin Ceballos Betancur übers Autofahren.

Besprochen werden die von Paavo Järvi dirigierte Uraufführung von Erkki-Sven Tüürs Klavierkonzert in der Frankfurter Alten Oper, eine Ausstellung mit Gartendarstellungen im Frankfurter "Städel", eine Darmstädter Ausstellung mit Fotomontagen von Alfred Nungesser und eine Nietzsche-Choreografie von Maurice Bejart.

SZ, 25.11.2006

Alex Rühle hat einen Tag an einer bayerischen Hauptschule verbracht. Nicht unbedingt ermutigend, was er zu berichten hat: "In Deutsch werden Handyverträge gelesen. In Ethik geht es um rudimentäre Umgangsformen. Und in allen Fächern wird Deutsch gelernt... Der bayerische Staat spart im kommenden Jahr 1600 Lehrstellen an Hauptschulen ein. 2010 werden in deutschen Großstädten die Hälfte der unter 40-Jährigen einen Migrationshintergrund haben. Es wird dann viele Hauptschulen geben, auf denen kein Kind Deutsch spricht."

Weitere Artikel: Anlässlich des Buy-Nothing-Tags denkt Felix Denk über das Konsumbürgertum nach. In Dresden hat Stefan Koldehoff Bilder gesehen, die einst in Privatsammlungen hingen. Von einem Selbstversuch mit (legalem) Filmdownload berichtet Tobias Kniebe - und warnt: Im Moment ist das nur für "Hartegesottene" eine Alternative zum DVD-Kauf. Helmut Böttiger freut sich über - auch finanziellen - Aufwind für die Goethe-Institute. Gerhard Persche porträtiert den Komponisten Osvaldo Gojilov. Fritz Göttler schreibt den Nachruf auf den Schauspieler Philippe Noiret, Ralf Dombrowski den auf die Jazz-Sängerin .Anita O'Day. Gemeldet wird, dass Cicero, das Magazin für den intellektuellen Krawall, einen bösen Brief von fünf Philosophen bekommen hat, die es gegen Jürgen Habermas auszuspielen versuchte.

Die Literaturseite ist komplett einem Gespräch mit Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk gewidmet. Er gibt darin um sein neues Buch "Istanbul" - Pamuk gibt aber auch Auskunft darüber, wie sein Schreiben zu den Gegenständen findet: "Mithilfe von Fotografien und mithilfe meines Gedächtnisses hefte ich meine Erzählung an Räume und Gebäude, an das Licht im Haus, an Gegenstände, meine kleinen Spielzeugautos, die Anrichte meines Großvaters, die Teppiche oder die Frühstücksteller meiner Großmutter. Ich suche nach der 'Dinglichkeit' der Dinge. "

Besprochen werden Tina Laniks "Medeia"-Inszenierung in München und Thomas Ostermeiers Inszenierung von Mark Ravenhills "Das Produkt" an der Berliner Schaubühne. Anthony Giddens verbindet eine Rezension von Elisabeth Beck-Gernsheims neuem Buch "Die Kinderfrage" mit Glückwünschen zu ihrem sechzigsten Geburtstag (mehr zum Buch in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende berichtet Joachim Sartorius, Lyriker und Intendant der Berliner Festspiele, von einer Reise nach Odessa. Der Schriftsteller Peter Stamm erzählt in "Wir fliegen" eine "Geschichte vom Warten auf die Eltern." Detlef Esslinger berichtet von der Suche zweier Söhne nach einer letzten Ruhestätte für die Asche ihres Vaters. Klaus Raab porträtiert den Gangster-Rapper Zola. Tanja Schwarzenbach hat sich vom neuen Bond-Film zum Casino-Besuch anregen lassen. Im Interview spricht die Innenarchitektin Andree Putman über "Geschmack" und ihre Abneigung gegen das Elitäre: "Ich mag die Vorstellung, alles für alle zu verschönern."