Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.03.2007. In der FR überlegen Ingo Schulze und Antje Ravic Strubel, was es bedeutet, ein "Ost-Schriftsteller" zu sein. In der NZZ warnen zwei Jesuiten vor römischen Blitzen, die auf den Befreiungstheologen Jan Sobrino niedergehen. Die taz analysiert das Zwitschern städtischer Stare. In der Berliner Zeitung schildert Hermann Nitsch die Nachteile von zu viel Blut in der Kunst. Die SZ verteidigt Anglizismen: Bausparen sei auch nicht schöner als Downloaden.

NZZ, 21.03.2007

"Römische Blitze" trafen den 68-jährigen, in Salvador wirkenden Jesuiten Jon Sobrino, berichten empört Andreas Batlogg und Michael Sievernich, beide selbst Jesuiten. "In einer am 14. März veröffentlichten 'Notificatio' ('Erklärende Note') wurde vor einigen Thesen des prominenten Befreiungstheologen, die 'entweder irreführend oder gefährlich' seien, gewarnt. Gleichzeitig betonte der Pressesprecher des Vatikans, Federico Lombardi (ein Jesuit), dass dies keine Verurteilung bedeute." Die Autoren erinnern daran, dass der Papst nie ein Freund der Befreiungstheologie war. "Im Mai wird Papst Benedikt XVI. im brasilianischen Aparecida die Fünfte Vollversammlung des Lateinamerikanischen Bischofsrates eröffnen, der sich in Medellin (1968) und Puebla (1979) für eine 'vorrangige Option für die Armen' ausgesprochen hat. Macht der Papst im Vorfeld reinen Tisch? Die 'Option für die Armen' wird am Anfang der Notifikation ausdrücklich als zur unaufgebbaren Sendung der Kirche gehörend erwähnt. Welches Signal setzt er jetzt, da er doch die jetzt erst veröffentlichte Notifikation am 13. Oktober 2006 ausdrücklich gebilligt hat? Stehen im Hintergrund vielleicht lateinamerikanische, weit in den Vatikan hineinreichende Seilschaften von Bischöfen und Kardinälen, die ganz andere Optionen getroffen haben? Werden alte Rechnungen beglichen?"

Urs Schoettli war in Hongkong und Tokio im Kino, um "Das Leben der anderen" zu sehen. "Das Tokioter Publikum saß den ganzen Film hindurch, ohne dass auch nur einmal eine Reaktion zu hören war. Demgegenüber wurde in Hongkong an all denjenigen Stellen gelacht, an denen der Film das Absurde an den politischen Verhältnissen in der DDR herausstrich."

Weiteres: Das werden teure Olympische Spiele in London, erzählt Lilo Weber. Fast das Dreifache der ursprünglich budgetierten Summe sollen sie laut Kulturministerin Tessa Jowell kosten, "nämlich über 9,3 statt 3,4 Milliarden Pfund. Man hatte die Mehrwertsteuer vergessen und sich auch sonst ein bisschen verrechnet." Besprochen werden das "zauberhafte" Filmporträt der englischen Kinderbuchautorin Beatrix Potter (mit Renee Zellweger in der Hauptrolle) und Bücher, darunter Andreas Bernards Geschichte des Fahrstuhls und die Lebenserinnerungen des Germanisten Peter Wapnewski (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 21.03.2007

In einem Interview spricht Ingo Schulze über sein für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiertes Buch "Handy" und die Ostperspektive in seinen Büchern: "Die Ostperspektive ist, von der Tendenz her, die des Neulings, des Dazugekommenen, der das Vorhandene nie so im kleinen Finger haben wird wie jemand, der schon immer da war. Man hat ja ganz andere Erfahrungen gemacht und wundert sich über manches, das jemandem, der im Westen aufgewachsen ist, als völlig normal, vielleicht sogar als naturgegeben erscheint. Es geht dabei nicht nur um Deutschland. Wenn man Pamuk liest oder arabische Autoren, dann ist der Westen ein Bezugspunkt, aber man kommt von außen. Die meisten Menschen auf der Welt sind 'Draußenstehende' oder 'Dazugekommene'."

Ina Hartwig stellt ein Themenheft der Neuen Rundschau über "Historische Stoffe" vor, in dem die Schriftstellerin Antje Ravic Strubel über ihre DDR-Herkunft schreibt: "Im allgemeinen halte ich diese Herkunftssorgen, von denen Schriftsteller so oft umgetrieben sind, für unwesentlich; ein Großteil des Lebens ist sowieso ausgedacht. In jeder Erinnerung stecken vielleicht fünf Prozent Tatsachen, der Rest ist Alkohol. Die eigene Herkunft dient bestenfalls als Material, das nicht mehr recherchiert werden muss."

Weitere Artikel: Peter Michalzik kommentiert das Urteil einer Frankfurter Richterin, die mit dem Koran die Rechtmäßigkeit des Prügelns einer marokkanischen Ehefrau bestätigte. Christoph Manus informiert uns über das Frankfurter Projekt Repertoire International des Sources Musicales, kurz: RISM, ein riesiges Netzwerk für Musik-Handschriften und Drucke aus aller Welt. Und in Times mager bringt Christian Thomas mühelos prozessrelevante Fortschritte der Neurowissenschaften mit der "Rettung" von Eisbärbaby Knut zusammen.

Besprochen werden die Ausstellung "Edvard Munch. Zeichen der Moderne" in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel, und Bücher, darunter Günter Grass' Gedichtband und Abrechnung mit seinen Kritikern "Dummer August" und das Tagebuch der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja, das in ihrer russischen Heimat nicht erscheinen darf (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der Literaturbeilage bespricht Ulrich Rüdenauer Edward St Aubyns Erstling "Schöne Verhältnisse".

TAZ, 21.03.2007

In einem jahreszeitlich passenden und gut beobachteten Essay hört Cord Riechelmann den Gesängen der städtischen Stare hinterher. "Sie sind genauso empfänglich für Töne anderer Vogelarten wie Spatzen, Amseln oder Krähen und bauen auch Hundebellen, Katzenschnurren oder Froschlaute in ihre Vorträge ein. In der Stadt werden sie außerdem zum Resonanzraum des Straßenverkehrs, indem sie die Geräusche anfahrender oder bremsender Autos, Polizeisirenen und Baustellenlärm imitieren. Dadurch spiegeln ihre Gesänge auf für Menschenohren subtile Weise ihren Lebensraum und ihre verschiedenen Klangmuster. Dabei sind sie so etwas wie die Biografie des Sängers und die seiner soziologischen Ontologie."

Besprochen werden Detlev Bucks Verfilmung des Kinderbuchbestsellers "Hände weg von Mississippi" von Cornelia Funke und Robert Gernhardts posthum erschienener letzter Erzählband "Denken wir uns" (siehe dazu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und in tazzwei listet Maxim Biller 25 Gründe auf, alle deutschen Terroristen sofort aus dem Gefängnis zu entlassen. Und Cosima Schmitt berichtet über eine CDU-Initiative für "sprachlichen Verbraucherschutz gegen Anglizismen".

Schließlich Tom.

Welt, 21.03.2007

Uta Baier besucht den Künstler Gerwald Rockenschaub, dessen am Computer entworfene Raumsituationen auf der Documenta zu sehen sein werden: "Bilder? Nein, Bilder kommen ihm nicht an die Wand." Gestern ging der Trend laut Welt in Deutschland noch zur Flucht aus der Wirklichkeit, heute meldet Peter Zander aus Hollywood, dass die Verfilmung realer Geschichten ganz groß im Kommen ist. Eckhard Fuhr freut sich über den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, der heute an den Historiker Gerd Koenen und den Philosophen Michail Ryklin vergeben wird. Dankwart Guratzsch widmet sich in der Randspalte der Denkmalpflege in Leipzig,

Besprochen werden das Album "Life in Cartoon Motion" des britischen Newcomers Mika und die Ausstellung "Spectacular City" im Düsseldorfer NRW-Forum (die Gerd Held veranlasst, darüber nachzudenken, ob die Großstadt wirklich ein Angriff auf die menschliche Eigenliebe darstellt) und das spanische Musical "Mar i Cel", das derzeit in Halle gastiert.

Tagesspiegel, 21.03.2007

Deike Diening hat die in Potsdam lebende Schriftstellerin Antje Ravic Strubel besucht, deren neuer Roman "Kältere Schichten der Luft" (hier eine Leseprobe) für den Preis der Leizpiger Buchmesse nominiert ist. Entstanden ist ein Porträt von Person und Werk: "Strubel misstraut dem Pars pro Toto. Worauf verpflichtet eigentlich das Detail das Ganze? (...) Es ist bei ihr nicht zulässig, dass der Leser sich eines Ganzen sicher wähnt, das tut ja nicht einmal die Autorin. 'Ich sehe beim Schreiben nie die ganze Person. Ich sehe eine Hand, eine Geste.' Strubels Bücher sind eine Beweisführung, dass man noch gar nichts weiß und sich auch darüber nicht sicher sein kann. 'Was man für Klarheit hält, ist oft nur ein Klischee.'"
Stichwörter: Strubel, Antje Ravic

Berliner Zeitung, 21.03.2007

Im Interview spricht der Aktionskünstler Hermann Nitsch, der auch als Komponist tätig ist, über seine zwischen "Bruckner" und "Geschrei" angesiedelte Musik: "Ich habe Popbands gebraucht, weil sie das ganze Equipment hatten, die Verstärker und Instrumente, und die konnten richtig laut spielen. Ich habe sie dann genauso eingesetzt wie eine Blaskapelle oder einen Chor. Sie haben sich in mein Orchester eingefügt und es verstärkt. Zum ersten Mal war das 1978 in Berlin mit der Gruppe PVC. Da kam ja der Punk gerade auf, und es hieß damals, dass wir, also die Wiener Aktionisten, die Punkmusiker beeinflusst hätten. Vielleicht waren wir ja so was wie die ersten Punks. Mit PVC habe ich dann in einem riesigen Fabrikgebäude die 60. Aktion gemacht. Danach war da alles versaut, überall war Blut und unter uns war ein Büro, und da ist das Blut dann durch die Decke heruntergetropft."
Stichwörter: Berlin, Nitsch, Hermann, Orchester

SZ, 21.03.2007

Jens Bisky macht sich über den Vorschlag einiger CDU-Politiker lustig, den Verbraucherschutz auch auf die deutsche Sprache auszudehnen und gegen Anglizismen vorzugehen. "Wer die Sorge um die Sprache an den Kampf gegen Anglizismen knüpft, begibt sich vor allem der Chance, mit den Sprechern zu denken statt gegen sie. (...) Gewiss bereitet ein Verb wie 'downloaden' grammatische Schwierigkeiten. Die Akademie für Sprache und Dichtung aber wies bereits vor Jahren darauf hin, dass es mit dem 'Bausparen' auch nicht einfach ist."

Weitere Artikel: Gustav Seibt plädiert für mehr Schutz vor unhöflichen Rauchern. Stephen Uhly erinnert an den 200. Jahrestag des Sklavenhandelverbots in England. Sonja Zekri porträtiert den Historiker Gerd Koenen und den Philosophen Michail Ryklin, die den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhalten. Thomas Urban berichtet über Aktenbefunde, wonach der polnisch-stämmige Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman als junger Erwachsener Mitarbeiter des polnischen Geheimdienstes war. Johannes Willms schreibt einen Nachruf auf den verstorbenen amerikanischen Bismarck-Biografen Otto Pflanze.

Die Schallplattenseite widmet sich heute Passionsgesängen. Reinhard J. Brembeck begeistert sich über die geniale Interpretation von Joseph Haydns "Die sieben letzten Worte" durch die französische Chorleiterin Laurence Equilbey. Vorgestellt werden die Einspielungen von drei Johannes-Passionen: einer womöglich von Giovanni Pierluigi Paisello stammenden aus dem Franziskanerkonvent in Assisi, der von Carl Phillip Emanuel Bach und einer weiteren von Gottfried August Homilius.

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung der Schätze der Liao-Dynastie im Museum für Ostasiatische Kunst in Köln, eine Schau über Wohn-Utopien des 20. Jahrhunderts im Vitra Design Museum in Weil am Rhein, eine Inszenierung von Tine Rahel Völckers Stück "die höhle vor der stadt..." in Weimar und Bücher, darunter der neue Erzähungsband "Loves - Lieben" von Irene Dische und Christina von Brauns weibliche Familiengeschichte "Stille Post" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 21.03.2007

Schwere Zeiten für München konstatiert Eberhard Straub, weil Dresden die schönere Stadt sei: "Dresden hat alles, was München auch hat, nur meist eine Klasse besser."

Weitere Artikel: In der Glosse mokiert sich "hhm" über Bemühungen der Politik, die deutsche Sprache zu schützen. Von der "Musica nova Helsinki" berichtet Wolfgang Sandner. Joseph Croitoru informiert nach dem Blick in osteuropäische Zeitschriften über das Sinken der Geburtenrate in Ungarn und den Rückgang der Beteiligung von Frauen an der Politik in Albanien. Eine Berliner Tagung zur Rolle von Nationalmuseen hat Heinrich Wefing besucht. Über neue Forderungen der Wettiner gegen die Dresdner Museen informiert Andreas Platthaus.Patrick Bahners schreibt den Nachruf auf den Bismarck-Biografen Otto Pflanze. Jürgen Kaube gratuliert dem Pädagogen Jürgen Oelkers zum sechzigsten Geburtstag.

Auf der letzten Seite schreibt Karen Krüger über das deutsche Pflegesystem und seine Probleme. Tilmann Lahme porträtiert den Verleger Mark Lehmstedt, der gerade mit zwei Publikationen zu Hans Mayer auf sich und seinen Verlag aufmerksam gemacht hat. Im "Update" informiert Frank Pergande über weiteren Streit um das Literaturzentrum Neubrandenburg.

Besprochen werden Konzerte der Deutsch-Pop-Bands "Tele" und "Anajo" im direkten Vergleich, eine Münchner Aufführung von Modest Mussorgskys Oper "Chowanschtschina", eine römische Ausstellung mit Bildern Franz Ludwig Catels und Bücher, nämlich Daniel Grohns Roman "Kind oder Zwerg" und Mladen Dolars Theorie der Stimme mit dem Titel "His Master's Voice" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages).

Die Literaturbeilage zur Leipziger Buchmesse befasst sich im Aufmacher mit der deutschen "U 30"-Schriftstellergeneration.