Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.09.2007. Die SZ staunt über Hans Magnus Enzensberger, der einen ganz neuen Begriff der "teilnehmenden Beobachtung" prägte. Die taz beklagt die Verrohung der Medien, die die Berichterstattung über Uwe Barschel stets mit dem Badewannen-Foto garnieren. Die Welt sieht Hanna Schygulla als die Brigitte Mira des neuen deutschen Films. Die FAZ beobachtete Mahmud Ahmadineschad bei seinem Auftritt an der Columbia Unveristät in New York. Der Freitod Andre Gorz' und seiner Frau Dorine bewegt alle Feuilletons.

NZZ, 26.09.2007

Andrea Köhler berichtet von juristischen Auseinandersetzungen um eine vom Künstler Christoph Büchel in Massachussetts geplante, aber nie fertiggestellte Installation mit dem Titel "Trainingsplatz der Demokratie". Es geht bei dem Streit durchaus um Grundsätzliches: "Unter Berufung auf die Visual Artist Rights Act (VARA), die Künstlern das Recht zuspricht, die Veröffentlichung eines Kunstwerks in ihrem Namen zu verhindern, sofern dieses verändert oder entstellt worden ist, klagte Büchel zurück... Letzten Freitag wurde der Streit, den die hiesige Kunstwelt mit grosser Anteilnahme verfolgte, fürs Erste entschieden: VARA, so argumentierte der Richter Michael A. Ponsor, treffe nur für ein abgeschlossenes, nicht aber für ein noch im Entstehen begriffenes Kunstwerk zu. Das MassMoCA darf das angesammelte Material gegen den erklärten Willen des Künstlers somit als 'Work in Progress' ausstellen, wenn es dasselbe als 'unfertig' deklariert." (Auf seiner Website gibt das Museum jetzt bekannt, dass man auf die Ausstellung trotz des Urteils verzichten wird.)

Hans-Jürgen Telschow mag die Kritik Sonja Margolinas am Verhalten der Esten im Denkmalstreit nicht teilen, auch will er nicht glauben, dass die Russen in Estland einfach gegen ihre "Unmündigkeit" protestierten, und doch bezieht er aus den Ereignissen auch Hoffnung: "Vielleicht erfahren (die Russen) oder gelangen selbst zu der Erkenntnis, dass ihre Eltern bzw. Großeltern meist willige Werkzeuge einer bis in die achtziger Jahre andauernden rücksichtslosen Russifizierungspolitik gewesen sind. Die Verinnerlichung einer solchen Erkenntnis könnte der Beginn einer Aufarbeitung der eigenen Geschichte sein und sogar auf Russland ausstrahlen."

Weitere Artikel: Paul Jandl stellt die vierzigste Ausgabe des Steirischen Herbstes vor. Joachim Güntner hält das Verfahren der Bayreuth-Bewerbung von Katharina Wagner und Christian Thielemann für unseriös - und den Ausgang für alles andere als gewiss.

Besprochen werden ausschließlich Bücher, darunter Nicholas Shakespeares Roman "Sturm", Philippe Bessons Roman "Nachsaison" und die Erinnerungen des Historikers Fritz Stern mit dem Titel "Fünf Deutschland und ein Leben" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 26.09.2007

Im Gespräch mit Peter Michalzik unterhalten sich die Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann und Patrick Primavesi über Perspektiven des Theaters und eine nicht näher benannte bevorstehende Konferenzveranstaltung zum Thema. Arno Widmann würdigt in einem Nachruf den Soziologen Andre Gorz, der sich gemeinsam mit seiner Frau das Leben genommen hat. Und in Times mager wertet Daniel Kothenschulte den mit 25.000 Euro dotierten Filmpreis Köln, der übermorgen im Rahmen des rheinischen Film- und Fernsehfestivals Cologne Conference an den Drehbuchautor und Oscar-Preisträger Paul Haggis ("Million Dollar Baby") als "Kommgeld".

Besprochen werden das 2. Fotofestival Mannheim, Ludwigshafen, Heidelberg und Bücher, darunter das dritte Jahresbuch "Zu früh, zu spät" von Karl-Markus Gauß und eine Attacke von Chantal Mouffe, Professorin für Politische Theorie am Centre for the Study of Democracy an der Universität Westminster, gegen die vor allem von Ulrich Beck und Anthony Giddens entwickelten Theorien einer "reflexiven Modernisierung". (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

TAZ, 26.09.2007

"Ich glaube, ich werde in der Türkei von den Linken eins auf den Deckel kriegen", meint Fatih Akin im Interview über seinen neuen Film "Auf der anderen Seite". Weil die Kurdin Ayten am Ende ihre revolutionären Mitstreiter verrät. "Das Feuilleton in der Türkei ist eher linksliberal. Die ersten Reaktionen, die nach Cannes kamen, waren bescheiden, kühl. Auch Il Manifesto in Italien hat geschrieben, dass ich das Gefängnis in der Türkei zeige wie ein Fünf-Sterne-Hotel. Das hat die türkische Zeitung nicht geschrieben, weil sie wahrscheinlich gemerkt haben, wie sorgfältig das Ganze recherchiert ist. Wir haben in einem echten Gefängnis gedreht. All diese hübschen Pastellfarben sind echt. Das Einzige, was ich nicht filmen durfte, war Wäsche, die aus dem Fenster hing. Da sagte der Direktor klipp und klar 'nein'. Denn es gibt EU-Normen, die verbieten eben, dass Wäsche so hängen darf."

Weitere Artikel: Alexander Camman wirft einen Blick in die Jubiläumsausgabe zum 50jährigen Bestehen von Konkret und widmet sich der "großen 68er-Interpretation" des Exmaoisten und Mitherausgebers Joscha Schmierer in der Kommune. Und Petter Larsson berichtet über eine Kontroverse, die die Uraufführung der Oper "Zarah" an der Stockholmer Folkoperan über die Lebensgeschichte von Zarah Leander, der prominentesten schwedischen Nazi-Sympathisantin, ausgelöst hat. Gleich zwei Nachrufe (hier und hier) widmet die taz dem Philosophen Andre Gorz.

In tazzwei beklagt Bettina Gaus, wie sehr das Bild des toten Uwe Barschel in der Badewanne zu einer selbstverständlichen Ikone der Berichterstattung über den Fall geworden ist. "Es gibt viele Fotos vom lebenden Uwe Barschel. Wenn es inzwischen für selbstverständlich gehalten wird, dennoch das Bild des toten Uwe Barschel zu zeigen, dann zeugt das von einer Verrohung der Medien. Aber die Medien zeigen nur, wonach öffentliche Nachfrage besteht. So ist das im Kapitalismus. Er bietet keine Entschuldigung für Voyeurismus."

Besprochen wird Jan Bosses Inszenierung von Kleists "Amphitryon" am Berliner Gorki-Theater.

Schließlich Tom.

FAZ, 26.09.2007

Jordan Mejias hat den nicht so richtig anheimelnden Auftritt des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadineschad an der New Yorker Columbia Universität erlebt: "Die Fragen nach der Rede waren nicht versöhnlicher, ja, Ahmadineschad konnte ihnen in seinen Antworten nicht immer ausweichen. Der Holocaust? Noch nicht genügend erforscht. Homosexualität? Ein Phänomen, das in Iran unbekannt ist. Frauen? Die besten Wesen, die Gott erschuf. Werden zudem in Iran respektiert. Soll man dann lachen oder weinen, wenn der Gast humane Methoden bei der Lösung von Problemen fordert und es als selbstverständlich bezeichnet, dass eine Universität die freie Meinungsäußerung verteidigt? 'Alle Stimmen sollten gehört werden!' verkündet er wiederum mit einem doch nicht recht gewinnenden Lächeln."

Weitere Artikel: Andreas Rossmann kommentiert die Absage der Türkisch-islamischen Union der Anstalt für Religion (Ditib) an Günter Wallraff, der in einer Moschee aus Salman Rushdies "Satanischen Versen" lesen wollte. In der Glosse mokiert sich "tob." über sprachliche und designerische Fehlgriffe des BMW-Chefdesigners Christopher Bangle. Kilian Trotier staunt über den riesigen Antichrist-Zyklus in einem der restituierten Fenster der Marienkirche in Frankfurt (Oder). Gina Thomas begrüßt das soeben errichtete Londoner Laurence-Olivier-Denkmal. Oliver Jungen war dabei, als Peter von Matt (mehr) auf dem Germanistentag mit dem Brüder-Grimm-Preis ausgezeichnet wurde. Der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht war in Brasilien und erklärt uns, was es mit der Revolution des Bewusstseins auf sich hat, die der sich in Wahrheit gar nicht revolutionär gebärdende Präsident Lula bewirkt hat.

Bernd Noack hat in Bayreuth die Rollwenzelei besucht, jene Wirtschaft, in der der Dichter Jean Paul während der letzten fünfzehn Jahre seines Lebens schrieb und Kartoffeln aß und aus der jetzt "Deutschlands kleinstes Literaturmuseum" werden soll. Lorenz Jäger porträtiert den Literaturwissenschaftler Helmut Lethen, der die Leitung des Wiener "Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften" übernimmt. Robert von Lucius berichtet vom Ärger, den in Schweden die Haltung der Europäischen Union auslöst, dass für Hörbücher der volle Mehrwertsteuersatz gezahlt werden soll.

Besprochen werden Fatih Akins neuer Film "Auf der anderen Seite", die Dresdener Ausstellung "Six Feet Under" über den Tod in der Kunst, Susanne Linkes in Bonn gezeigte Ballett-Choreografie "Still Here? It's wonderful" (die Wiebke Hüster gar nicht wundervoll findet), die Uraufführung von Tim Staffels Stück "Next Level Parzival" bei der Ruhrtriennale und Bücher, darunter Klaus Wowereits Autobiografie, aus der aber für Nils Minkmar auch nicht hervorgeht, was Wowereit eigentlich will, und die Wiederauflage von Klaus Hoffers Roman "Bei den Bieresch" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 26.09.2007

Hanns-Georg Rodek zeigt sich beeindruckt von Fatih Akins neuem Film "Auf der anderen Seite", und er analysiert die Rolle Hanna Schygullas im neuen deutschen Kino: "Zunehmend wird sie dem neuen Neuen Deutschen Film, was Schauspieler wie Brigitte Mira oder Karlheinz Böhm für den alten Neuen Deutschen Film darstellten. Wenn sowohl Hans Steinbichler (in 'Winterreise') als auch Fatih Akin auf Schygulla als Galionsfigur einer vergangenen Epoche zurückgreifen, drückt dies Respekt aus und ein Selbstverständnis der Kontinuität."

Weitere Artikel: Uwe Wittstock berichtet über die kulturellen Pläne der Stadt Frankfurt, die sich mit ihrem kulturellen Engagement wieder an die Spitze deutscher Kommunen stellen wolle. Angesichts des laxen Umgangs deutscher Medien mit journalistischen Ethikregeln schreibt Hannes Stein geradezu ehrfürchtig über den "Code of Conduct" der New York Times, die jüngst in die Kritik kam und sich schuldig bekannte, weil sie eine Anzeige der linken Organisation MoveOn.org zum halben Preis veröffentlichte. Josef Engels unterhält sich mit dem Jazzpianisten Herbie Hancock über sein neues Album, eine Hommage auf Joni Mitchell, in der auch Tina Turner ein comeback feiert. Nebenbei bekennt Michael Pilz seine Begeisterung über ein eigentlich gar nicht mehr erwartetes neues Album von Joni Mitchell selbst. Marion Leske berichtet über den ewig andauernden Streit um Hans Arp, seine Hinterlassenschaft und jetzt auch das ihm gewidmete Museum in Rolandseck. Ulf Meyer begeht den neuen Wintergarten des Jüdischen Museums Berlin. Und Letiza Haas zeichnet Debatten um den Antikommunisten Walter Linse nach, der von der Stasi entführt und 1953 in Moskau hingerichtet wurde - nach ihm wollte die Stiftung Hohenschönhausen einen Preis benennen, aber nun scheint sich herauszustellen, das er am Arisierungsprogramm der Nazis mitwirkte.

Besprochen werden ein "Ödipus" in Zürich, Paul Dukas' Oper "Ariane et Barbe-Bleue" in Paris und Kleists "Amphitryon" im Berliner Gorki-Theater..

Marko Martin schreibt auf der Magazin-Seite den Nachruf auf Andre Gorz und zitiert aus seinem gerade auf Deutsch erschienenen Buch (Leseprobe hier) "Brief an D.", eine Liebeserklärung an seine Frau Dorine: "Bald wirst du jetzt zweiundachtzig sein. Du bist um sechs Zentimeter kleiner geworden, Du wiegst nur noch fünfundvierzig Kilo, und immer noch bist Du schön, graziös und begehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe Dich mehr denn je. Kürzlich habe ich mich von Neuem in Dich verliebt, und wieder trage ich in meiner Brust diese zehrende Leere, die einzig die Wärme Deines Körpers an dem meinen auszufüllen vermag."

SZ, 26.09.2007

Volker Breidecker staunt über Hans Magnus Enzensbergers Schilderung seines intellektuellen Lebenswegs im aktuellen Nouvel Observateur (hier der Originalbeitrag und hier die Notiz aus unserer aktuellen Magazinrundschau). Darin bezeichnet Enzensberger sich selbst als lediglich "teilnehmenden Beobachter" der Bewegung von 1968. Da hat Breidecker ganz andere Töne im Ohr: Im Mai 68 machte sich Enzensberger in einem Sendesaal des Hessischen Rundfunks zum "flammenden Sprachrohr" im Kampf gegen die damals vom Bundestag verabschiedeten Notstandsgesetze. "Das Vorbild des Pariser Mai 1968 frisch vor Augen rief er zum landesweiten Generalstreik auf: 'Die Lehre ist klar: Bedenken sind nicht genug. Misstrauen ist nicht genug, Protest ist nicht genug. Unser Ziel muss sein: Schaffen wir endlich, auch in Deutschland, französische Zustände.' Da ging ein Donnern durch den Saal und war noch in den entlegensten deutschen Wohnzimmern zu vernehmen."

Weitere Artiikel: Hans-Bernd Zöllner erklärt die Besonderheit der birmesischen Gesellschaft und die Rolle, die die Mönche darin spielen. Stefan Ulrich porträtiert Rita Monaldi und Francesco Sorti, ein international erfolgreiches, in Italien aber verschmähtes Autorenduo historischer Thriller. Gerhard Matzig berichtet über teilweise "perfide" Verhinderungstaktiken der Münchner Werkbundsiedlung. "zri" informiert darüber, dass Günter Wallraff Salman Rushdies "Satanische Verse" nun doch nicht in der geplanten Moschee in Köln-Ehrenfeld lesen darf. Claus Leggewie schreibt den Nachruf auf Andre Gorz. Gemeldet wird, dass die Bayerische Staatsbibliothek bei einer Auktion in London fünf Bände der wertvollen Ottheinrich-Bibel erwerben möchte.

Auf der Schallplattenseite widmet sich Karl Lippegaus dem ungarischen Label BMC, das eine Jazz-Partnerschaft zwischen Budapest und Paris gestiftet hat. In einem Interview spricht der Sänger und Schlagzeuger Robert Wyatt über seinen Gesangsstil und sein neues Album "Comic Opera". Vorgestellt werden neue CDs von Funny van Dannen, Devendra Banhart, Beach House, Betty LaVette und Sven-Ake Johansson.

Besprechungen lesen wir zu Fatih Akins Film "Auf der anderen Seite", Kent Naganos Saisoneröffnung in München mit der "frappanten aber genialen" Kombination von Bernd Alois Zimmermann und Beethoven, Tim Staffels Stück "Next Level Parzival" bei der Ruhrtriennale Essen und Bücher, darunter die Erinnerungen des Historikers Fritz Stern und Frederic Chaudieres "Geschichte einer Stradivari" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).