Heute in den Feuilletons

"Regime von Ausschlusskriterien"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.10.2007. Die meisten Zeitungen sind ja ganz begeistert von Keith Jarrett, nur die FR sieht ihn als tief sentimentalen amerikanischen Pianisten. In der SZ freuen sich polnische Schriftsteller: Die Kaczynskis sind weg vom Fenster. Die NZZ plädiert mit dem Postkolonialismusexperten Albert Memmi für die metissage.

FR, 23.10.2007

Christian Schlüter definiert die neue Bürgerlichkeit als Instrument der Abgrenzung. "Bürgerlichkeit, und das ist der entscheidende Punkt, tritt hier nicht mehr als Reminiszenz ans unwiderruflich Vergangene in Erscheinung, sondern als ein über jeden historischen Zweifel erhabenes, geradezu überhistorisches Ensemble von Werten, mit denen sich nicht etwa nur unser Überleben organisieren lassen soll, sondern die vor allem ein Regime von Ausschlusskriterien etablieren. Nur wer zur - geschlossenen Einheit - der Familie gehört, hat eine Chance zu überleben."

Hans-Jürgen Linke holt Keith Jarrett nach dem Frankfurter Konzert auf den Boden der Tatsachen zurück. "Die Weltausgrenzung, in die er sich hinein gesteigert zu haben scheint, führt dazu, dass er in seinen besten Momenten nicht mehr klingt wie das, was er ist, also ein idiomatisch vielfach beeinflusster Pianist mit einer rhythmisch prägnant arbeitenden linken Hand, einem Hang zum Impressionismus und einem nicht ganz unproblematischen Verhältnis zum Kontrapunkt. Er klingt in seinen schlechteren Phasen wie ein mäßig inspirierter, technisch recht guter, tief sentimentaler amerikanischer Pianist und in seinen besten Momenten wie ein handgebremster, mit Puderzucker bestreuter Brahms, der Jazz gehört hat."

Weitere Artikel: Willem Benjamin improvisiert zum Thema Jarrett über Musikgenuss und Zuschauerverdruss. Hans-Klaus Jungheinrich genießt die Donaueschinger Musiktage. Peter Michalzik hält Ursula von der Leyen in einer Times mager für eine passable Phantomimin.

Besprechungen sind zwei Ausstellungen zu islamischer Kunst im Louvre und Bothos Strauss' Novelle "Die Unbeholfenen" gewidmet.

Welt, 23.10.2007

Thomas Lindemann schwärmt von Keith Jarretts Konzert in Frankfurt, dem ersten in Deutschland seit 15 Jahren. Hannes Stein berichtet von einer New Yorker Konferenz zu jüdischem Anti-Israelismus. Holger Kreitling verkündet die Wiederauferstehung des Comic-Helden Captain America, der eigentlich im Kampf der Superhelden um Bürgerrechte und Landesverteidigung gefallen war. Christian Kirchen erinnert an den deutschen Afrika-Forscher Eduard Schnitzer, der 1876 General Gordon in den Sudan gefolgt war und dort als Emin Pascha Gouverneur des Südsudans wurde. Hanns-Georg Rodek plaudert im Interview mit Michael "Bully" Herbig über seine jetzt anlaufende Klamotte "Lissi und der wilde Kaiser".

Besprochen werden Ingo Metzmachers Aufführung von Humperdincks Oper "Königskinder" an der Zürcher Oper und die arte-Dokumentation "Die Buchretter von Weimar".

NZZ, 23.10.2007

Kersten Knipp erzählt von einer Begegnung mit dem tunesisch-französischen Soziologen und Postkolonialismusexperten Albert Memmi. Memmis letztes Buch heißt "Portrait du decolonise" und behandelt die Zeit nach der Dekolonialisierung. "Das Schlüsselwort heißt für ihn 'metissage'. Es meint die Mischung der Kulturen, ihre fortschreitende Öffnung füreinander. Warum, argumentiert er, sollte man sich nicht einen Muslim als Bürgermeister von Paris vorstellen? Oder einen Juden an der Spitze einer arabischen Stadt?"

Besprochen werden Ingo Metzmachers Aufführung von Humperdinck "Königskinder" im Opernhaus Zürich, ein Konzert des jungen Streicher-Ensembles Quatuor Ebene in Zürich, die Austellung zeitgenössischer asiatischer Kunst "Thermocline of Art - New Asian Waves" im Karlsruher ZKM und Bücher, darunter Erzählungen von und über Regina Ullmann, Peter Weibels Arbeit "Das offene Werk, 1964 - 1979" sowie Immanuel Wallersteins "Die Barbarei der anderen" und Giles Fodens "Die letzte Stadt von Afrika".

SZ, 23.10.2007

Die SZ sammelt Jubelstimmen der Kulturarbeiter zur Wahl in Polen. Der Schriftsteller Pawel Huelle freut sich bis auf Weiteres. "Es ist ein großer Sieg für die aufgeklärten und demokratischen Kräfte, dass die beschämende Politik der Zwillinge Kaczynski so quittiert wurde und dass weder die ultrarechte Liga polnischer Familien (LPR) noch die Selbstverteidigung (Samoobrona) die Fünf-Prozent-Hürde geschafft haben. Ich bin gerade in Köln, wo gestern eine über 1200 Meter lange Schlange zum polnischen Konsulat stand, etwa 6000 Polen kamen zur Wahl. Auch in England und Irland haben Tausende gewählt. Von meinem Sohn, der dort Freunde hat, weiß ich, dass die Situation in Dublin chaotisch war, weil keiner mit einem solchen Andrang gerechnet hatte. Sicher ist es zum großen Teil auch das Verdienst der jungen Menschen in Polen und im Ausland, dass diese Regierung abgewählt wurde. Es gab große SMS-Aktionen, mit denen die Wähler sich gegenseitig ermunterten. Eine der Parolen lautete: 'Geh wählen, und die Vögel sind weg vom Fenster.'"

Weiteres: Der bekanntermaßen empfindliche Keith Jarrett verließ bei seinem Frankfurter Konzert nach einem Huster aus dem Publikum unvermittelt die Bühne, wie Volker Breidecker berichtet, um dann aber strahlend zurückzukehren und die 500 Euro Schwarzmartkpreis für eine Karte zu rechtfertigen. Jean-Michel Berg stellt Gegenbewegungen zum sozialen Web 2.0 vor, wie die Seite Hatebook, auf der man seine Feinde verzeichnen kann. Holger Liebs preist David Chipperfields Berliner "Steinburg", die Galerie am Kupfergraben 10. Hermann Unterstöger ficht in seiner "Zwischenzeit" für Sprache und Rechtschreibung, wenn es sein muss, auch gegen den br und seine Serie "Dahoam is Dahoam". Manfred Geier überbringt dem Philosophen Leszek Kolakowski Glückwünsche zum 80. Geburtstag. Andrian Kreye malt sich mit Lust an der Apokalypse die Folgen eines Streiks der Drehbuchautoren in Hollywood aus, der vielleicht im November beginnt. Helmut Mauro resümiert die glücklicherweise etwas gestraffte Verleihung des 14. Echo-Klassikpreises in der Münchner Philharmonie.

Im Literaturteil begrüßt es Florian Welle ausdrücklich, dass wenigstens der "Wolfenbütteler Arbeitskreis für Renaissanceforschung" sich des Dichters und Juristen Sebastian Brant 550 Jahre nach dessen Geburt annimmt.

Besprochen werden Goethes "Faust" in der Inszenierung von Sebastian Baumgarten und die von Ingo Berk besorgte Uraufführung von Anja Hillings "Schwarzes Tier Traurigkeit" am Theater Hannover, Hayo Freitags Verfilmung von Tomi Ungerers Kinderbuch "Die drei Räuber", und Bücher, darunter Burkhard Spinnens Roman "Mehrkampf" und Marta Kijowskas Literaturstreifzug "Polen, das heißt nirgendwo".

TAZ, 23.10.2007

Als "Desaster aus Größenwahn, Eitelkeit und Virtuosität" bezeichnet Christian Broecking Keith Jarretts Konzert in der Alten Oper in Frankfurt. William Gibsons bisher nur auf Englisch erschienener Roman "Spook Country" beschreibt die paranoide Gegenwart stilvoll und genau, wenn man Ulrich Gutmair glauben darf. Versöhnt wird Broecking durch das "Enjoy Jazz"-Festival, das sich sechs Wochen Zeit lässt, damit man auch alle Konzerte besuchen kann. Ronald Düker zieht eine durchwachsene Vorab-Bilanz der Schau "New York-Berlin" im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Alexander Cammann blättert in Die Horen, Sinn und Form und der Lettre.

In der zweiten taz stellt Nicole Basel einen neuen Stamm auf der Pazifikinsel Vorovoro vor, der sich über eine Website rekrutiert. Im Medienteil berichtet Niklas Hofmann von den präsidialen Bestrebungen des Komikers Stephen Colbert.

Und Tom.

FAZ, 23.10.2007

Elke Heidenreich freut sich im Aufmacher, dass die Firma Saturn ihren Werbespruch "Geiz ist geil" aufgegeben hat. Rose-Maria Gropp kommentiert in der Leitglosse, dass das Schloss Salem in irgendeiner Form von der Familie Baden an das Land Baden-Württembeg übergehen wird. Gina Thomas kommentiert Debatten um die Äußerungen des Genforschers James Watson zur angeblich geringeren Intelligenz der Afrikaner (zu denen er im Independent einen Artikel geschrieben hat) - sie haben inzwischen zu einem Verlust von Ehren und Posten geführt. Edo Reents stellt den neuen Feuilletonroman der FAZ vor, Ulf Erdmann Zieglers "Autogeografie" "Wilde Wiesen". Stefanie Peter sammelt Stimmen polnischer Schriftsteller zum Ende der Kaczynski-Ära. Christian Geyer gratuliert dem Philosophen Leszek Kolakowski zum Achtzigsten.

Auf einer uns in dieser Form erstmals begegnenden Seite "Forschung und Lehre" fragt Barbara Bohm nach dem erblichen Risiko für den plötzlichen Herztod, während Rechtsprofessor Günter Frankenberg Plagiatsfälle an Universitäten vorstellt. Für die Medienseite blättert Paul Ingendaay in der neu designten Zeitung El Pais, die sich in ihrem Untertitel jetzt stolz als "El periodico global en espanol" präsentiert. Michael Hanfeld schildert neue Unregelmäßigkeiten bei Astrologiesendern.

Für die letzte Seite begibt sich Joseph Hanimann in das Fünftausendseelenstädtchen Ernee an der Loire, das zu einem französischen Zentrum des Antiatomprotestes geworden ist. Der Literaturdetektiv Michael Maar kommentiert Joanne K. Rowlings Outing Albus Dumbledores als schwul (aber Vorsicht: "Harry Potters Ziehvater ist nicht Humbert Humbert. Der pädagogische Eros, der sich in seine Erziehung Harry mischen mag..." und so weiter!) Und Andreas Platthaus macht noch mal deutlich, dass das Neue an David L.R. Litchfields Enthüllungen über das Massaker von Rechnitz die Behauptung einer Beteiligung der Gräfin Batthyany sei (die in der FAZ-Version des Artikels aber seltsamerweise gestrichen war, mehr dazu hier).

Besprochen werden ein Konzert Keith Jarretts in Frankfurt, der laut Wolfgang Sandner nach einigen Beschwerden über Huster im Publikum zu großer Form auflief und einen "wahren Zaubergarten an Fiorituren und Modulationen" über simple Bluesschemata breitete, eine CD mit Klavierquintetten Brahms' und Schumanns, eingespielt von Leif Ove Andsnes und dem Artemis-Quartett, Shakespeare-Komödien in Bochum und Düsseldorf, Humperdincks "Köngskinder" in Zürich und eine Ausstellung über Le Corbusier im Vitra-Design Museum.