Heute in den Feuilletons

Mao, Mao, warum hast du uns verlassen?

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.02.2008. Die FAZ erinnert an die antisemitischen Säuberungen in Polen 1968. Außerdem sieht Hans Christoph Buch schwarz für Afrika. Claus Peymanns Strategie des Wandels durch Anbiederung an das Teheraner Regime ist nicht aufgegeangen, meint der Tagesspiegel. Die taz beklagt regressive Tendenzen in der neueren Soulmusik. Jungle World erinnert an die Mao-Idolatrie der 68er

Welt, 15.02.2008

"Ihr Haar ist goldgelockt und sie sieht aus zehn Metern Entfernung aus wie 23. Na gut, wie 27", schwärmt Holger Kreitling von Madonna und ihrem Auftritt auf der Berlinale. Thomas Kielinger berichtet halb entsetzt, halb belustigt über die Prüderie der Engländer, die die Londoner U-Bahn nun davon abhält, ein Ausstellungsplakat mit einer nackten Venus von Lucas Cranach zu zeigen. Gerhard Charles Rump kann sich das Massensterben der Kunstmessen nur mit Panik erklären. Dankwart Guratzsch meldet, dass die Dresdner Brückengegner genug Unterschriften für ein neues Bürgerbegehren zusammen haben. Eckhard Fuhr berichtet von neuen Plänen für das Berliner Deutschlandhaus.

Auf der Berlinale-Seite konstatiert Peter Zander, dass er letztes Jahr in "Blood Diamond" mehr über Kindersoldaten erfahren hat als in Luigi Falornis umstrittenem "Feuerherz" ("Er erzählt eine ganz große Geschichte ganz klein."). Cosima Lutz zeichnet ein Porträt der arabisch-israelischen Schauspielerin Hiam Abbass, das "bewegendste Gesicht" dieser Berlinale. Gerhard Midding unterhält sich mit Luis Bunuels' Drehbuchautor Jean-Claude Carriere.

TAZ, 15.02.2008

Bei den Grammy-Verleihung ließ Amy Winehouse "mit ihrem altbackenen Motown-Sound" die Souldiven Mary J. Blige, Beyonce und Rihanna hinter sich, staunt Uh-Young Kim und erklärt sich dies mit einem "regressiven Verständnis" von Soul: "Wo sonst als auf dem alten Kontinent hat sich der Glaube an das Echte, die Fixierung auf Ursprung und Essenz in der Soulmusik hartnäckig gehalten. Als Säulenheilige wachen übliche Originale wie Marvin Gaye, Stevie Wonder oder Aretha Franklin über das verlorene Paradies. Mitte der Sechzigerjahre gingen tanzwütige Jugendliche aus der Arbeiterklasse im Norden Englands zu amerikanischer Soulmusik ab und legten damit einen der Grundsteine für folgende DJ-Kulturen. Schwarze Musik wurde zum Soundtrack für weiße Rebellion. Und als ob es nie Disco, House und Eminem gegeben hätte, knüpft Winehouse wieder bei Elvis, Chet Baker und den Folgen in Europa an... Aus afroamerikanischer Sicht dagegen schwingt im Motown-Sound die Anpassung an eine weiße Klientel mit - und somit auch ein Stück Selbstaufgabe."

Eine Meldung bringt Belustigendes aus London: Dort beschlossen die Verkehrsbetriebe, das Werbeplakat für eine Lucas-Cranach-Ausstellung wegen des vor knapp 500 Jahren entstandenen expliziten Venus-Motivs aus ihren Bahnhöfen zu verbannen.

Auf den Berlinale-Seiten unterhält sich Ines Kappert mit der französischen Schauspielerin und dem Fast-Jury-Mitglied Sandrine Bonnaire über ihre erste Regiearbeit "Elle sappelle Sabine", in der sie ihre autistische Schwester proträtiert. Diedrich Diederichsen verteilt eigene Bären, unter anderem an das in allen ostasiatischen Beiträgen immergleiche Wetter. Besprochen werden Porträts von Künstlern wie Wolfgang Tillmans, Gilbert & George, Michel Auder, Heinz Emigholz' Architekturfilm "Loos ornamental", die japanischen Beiträge "Megane" und "Higurashi", Luigi Falornis "Feuerherz" und Albertina Carris "La Rabia".

Für die vorderen Seiten hat Sascha Zastiral eine Reportage über die heftigen Proteste pakistanischer Anwälte und Juristen gegen Musharraf geschickt.

Und Tom.

NZZ, 15.02.2008

Das Goethe-Institut in New York hat eine neue Dependance, berichtet Andrea Köhler. Neben dem Haupthaus in der sehr vornehmen Upper East Side hat der neue Programmdirektor Stephan Wackwitz gerade mit der Ausstellung "published and be damned" das Ludlow 38 an der rührigen und jungen Bowery in Downtown Manhattan eröffnet. "Dabei wird 'Ludlow 38' nicht allein von deutschen Steuergeldern, sondern nach amerikanischem Modell mit der Unterstützung von BMW bewirtschaftet. Jährlich wechselnde Kuratoren sorgen für ein Konzept, das sich nicht an die übliche Goethe-Einladungsliste halten muss, die seit Jahrzehnten Pina Bausch und Peter Schneider als Repräsentanten der deutschen Kultur durch die Welt schickt. Heutzutage, meint Wackwitz, haben solche nationalen Beschränkungen keinen Sinn mehr, weshalb er eher die internationale Zusammenarbeit stark machen will."

Weitere Artikel: Nicolas Sarkozy hat bisher noch keine Anstalten gemacht, Ayaan Hirsi Ali zu einer französischen Staatsbürgerschaft zu verhelfen, meldet Marc Zitzmann. Angesichts der 50.000 Euro Schmerzensgeld, die Maxim Biller an seine Exfreundin zahlen muss, ruft Joachim Güntner potentiellen Skandalautoren zu: "Werdet gewitzter dort, wo ihr schamlos sein möchtet!". Ein gemischtes Resümee des Festivals der Musica Viva München zieht Marco Frei.

Besprochen werden die Ausstellung "Fotos schreiben Kunstgeschichte" im Düsseldorfer museum kunst palast, Irmgard Langes Inszenierung der "Medea" am Luzerner Theater, ein Mozart-Klavierkonzert mit Fazil Say in Zürich, Todd Haynes' Bob-Dylan-Film "I'm Not There" (ein "polyfones Furioso", lobt Ueli Bernays) und Bücher, darunter ein Band des Musikkritikers Nick Tosche, "Muddy Waters isst selten Fisch", und Bernd Greiners Buch über den Vietnamkrieg "Krieg ohne Fronten" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Medienseite schildert der SWR-Redakteur Uwe Bork die Tücken einer Gottesdienstübertragung live aus Südafrika: "Im Nähkästchen offener Redaktionsgeheimnisse finden sich da beispielsweise Chöre, deren Auftrittsstärke auf wunderbare Weise zwischen drei- und vierhundert Sängern schwankt. Da gibt es Predigten, die von der in Violett oder gar Rot angetretenen Kirchenprominenz noch kurz vor der Sendung ohne Rücksprache geändert werden, oder wir müssen uns an der optischen Umsetzung ganzer Sequenzen ungeprobter katholischer Liturgie versuchen, von denen niemand weiss, wie lange sie eigentlich dauern. Vor Gott sind tausend Jahre wie ein Tag, wer wird da um Minuten feilschen?"

Weiteres: Thomas Schuler informiert die Schweizer Leser über die neuesten Entwicklungen beim Spiegel. R.M. stellt Eric Bergkrauts Dokumentarfilm über die ermordete Journalistin Anna Politkowskaja vor (zu sehen am 20. Februar auf 3sat).

FR, 15.02.2008

Peter Michalzik und Christian Thomas zitieren aus den zwei offenen Briefen, die die unzufriedene Redaktion der Berliner Zeitung gestern an Chefredakteur Depenbrock und Eigentümer Montgomery geschickt hat. Depenbrock wird zum Rücktritt aufgefordert, Montgomery um den Stopp des Sparprogramms gebeten. "Als Alternative schlägt die Redaktion Montgomerys Firma Mecom vor, einen neuen Eigner zu suchen. 'Sollte Mecom außerstande sein, eine solche Strategie vorzulegen, fordern wir im Interesse der Zeitung und ihrer Leser, nach einem neuen, geeigneten Eigentümer für die Berliner Zeitung zu suchen.'"

Weitere Artikel: Peter Michalzik denkt zudem über die durchs Handy beförderte "Re-Oralisierung" des Alltags nach und über die nur scheinbare Natürlichkeit der Sprache im zeitgenössischen Theater. Judith von Sternburg kommentiert in der Times mager die nackte Venus von Lucas Cranach, die nicht in Londons U-Bahn gezeigt werden darf. Tobais Wenzel gratuliert der englischen Literaturzeitschrift Granta zur hundertsten Ausgabe.

Besprochen werden die erstmals auf Deutsch erschiene "Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt" sowie eine Auswahl von achtzig Zeichnungen aus dem Bestand im Städel Museum Frankfurt.

Tagesspiegel, 15.02.2008

"Moral kann ganz einfach sein. Wer im Karikaturenstreit die Mullahs gegen die Meinungsfreiheit verteidigt, steht auf der falschen Seite. Wer sie mit Theater entzückt, statt ihre Repressalien zu geißeln, sendet die falschen Signale", schreibt Malte Lehming in einem Debattenbeitrag zur manchmal unerquicklichen Verbindung von Kunst und Politik: "Claus Peymann, der Regisseur und Intendant des Berliner Ensembles, hat jetzt in Teheran ein Stück von Brecht aufgeführt. Die Reise war umstritten. Nicht nur Exiliraner legten sie als Solidaritätsgeste aus. Etwas wütend, aber willig beugte sich Peymann den Eingriffen der iranischen Zensur. Er selbst bezeichnete die Zustände als 'neues Mittelalter' - und ließ trotzdem spielen. Das Stück wurde gefeiert, der Auftritt war erbärmlich. Wandel trotz Anbiederung: Diese Rechnung geht nicht auf."

Weitere Medien, 15.02.2008

Felix Wemheuer, Autor eines kommenden Buchs über den Maoismus in Deutschland, erinnert in Jungle World an die Mao-Idolatrie in der deutschen Studentenbewegung: "Dass Mao schon 1967 die Volksbefreiungsarmee einsetzte, um die Ordnung wiederherzustellen, und durch die Land­verschickung von 15 Millionen Jugendlichen die Roten Garden und Rebellengruppen faktisch zerschlagen wurden, ignorierten die bewegten Linken im Westen. Erst als Mao 1972 Nixon in Peking empfing, jammerten etwa die Ton, Steine, Scher­ben auf der Beilage zur Platte 'Keine Macht für niemand': 'Mao, Mao, warum hast du uns verlassen?'"

FAZ, 15.02.2008

Karol Sauerland erinnert sich an 1968 in Polen, als das Regime Studentenproteste mit Stimmungsmache gegen die Juden beantwortete: "Fast alle polnischen Juden, die die Schoa überlebt und nicht gleich nach dem Krieg aus Polen ausgewandert waren, verließen um diese Zeit ... das Land. Der Danziger Bahnhof in Warschau war der Ort, von dem aus sie sich nach Wien begaben, um von dort aus nach Israel, in die Vereinigten Staaten oder auch in die Bundesrepublik weiterzureisen. Man nannte diesen Bahnhof damals den 'Umschlagplatz'. Gott sei Dank führte er nicht in den Tod, aber so gut wie niemand hatte sich freiwillig zur Ausreise entschlossen."

Angsichts all der Stammes- und Bürgerkriege in Afrika, die sich kaum mehr auf den Kolonialismus der reichen Nationen zurückführen lassen, macht sich Hans Christoph Buch Sorgen, dass weitere Länder in Gewalt versinken. Nach Kenia und Tschad auch Südafrika? "Die Kriminalität hat bürgerkriegsähnliche Ausmaße erreicht, der Exodus weißer Farmer ist voll im Gang, und Nelson Mandelas Symbolkraft als einsame Lichtgestalt reicht nicht aus, um die zerstörerischen Mächte im Zaum zu halten."

Der Philosoph und Bibliothekar Ulrich Johannes Schneider sieht im Interview mit Hubert Spiegel Chancen für die kommerziellen Lexikonverleger im Netz - schon wegen des politischen Streits in der Wikipedia, etwa zu Israel und Nahost: "Die Artikel mussten gesperrt werden, und wahrscheinlich werden sie nie wieder geöffnet. Auch das ist ein Grund, weshalb ich glaube, dass sich mit Wissen selbst im Internet, wo fast alles umsonst zu haben ist, in Zukunft Geld verdienen lässt."

Weitere Artikel: Patrick Bahners wundert sich im Aufmacher, dass die SPD an ihrem Kandidaten für das Bundesverfassungsgericht, Horst Dreier, trotz dessen Verteidigung der Folter, festhält. Rüdiger Soldt schildert neueste Episoden im baden-württembergischen Streit um das gerade verkaufte mittelalterliche "Hausbuch" der Fürsten Waldburg. Julia Voss kommentiert die Entscheidung der Londoner U-Bahn, ein Plakat, das für eine Cranach-Ausstellung warb, wegen Nacktheit der Venus abzulehnen. Andreas Kilb lauschte einem Gespräch der Historiker Heinrich August Winkler und Christopher Clark über das Ende Preußens. Andreas Platthaus gratuliert Art Spiegelman zum Sechzigsten. Edo Reents schreibt ein kleines Porträt über Yvonne Catterfeld, die Romy Schneider spielen soll.

Auf der Berlinale-Seite geht's unter anderem um eine Dokumentation über Ariel Sharon und die Verfilmung von "Feuerherz". Auf der Medienseite schildert Michael Hanfeld den eskalierenden streit zwischen Redaktion und Leitung der Berliner Zeitung. Und Michael Hanfeld berichtet auch über die Proteste der freien Journalisten beim NDR.

Besprochen werden ein Abend mit Jane Birkin in Frankfurt, John Dews "Parsifal"-Inszenierung in Darmstadt und ein "Tristan" in Bühnenbildern von David Hockney in Los Angeles.

SZ, 15.02.2008

Martin Walser hat in einem Vortrag an der Humboldt-Uni die Medien kritisiert. Für Lothar Müller hat er dabei etwas kurz gegriffen: "So findet Walser, wenn er in die Seele von Walser-Kritikern blickt, nur die Formate, Interessen und Konkurrenz der Medien. Wenn ein Kritiker der Zeitung A Walser kritisiert, dann nur, um der Zeitung B eins auszuwischen. Umgekehrt fiele Walser - übrigens zu Recht - aus allen Wolken, hielte ihm jemand vor, er habe bei seinem Berliner Vortrag den amerikanischen Schriftsteller Denis Johnson nur deshalb gelobt, weil Johnsons Bücher - wie die Walsers - bei Rowohlt erscheinen."

Loriot
erhält den Kulturellen Ehrenpreis der Stadt München (Preisträger), und Joachim Kaiser zitiert in seiner Laudatio aus dessem ersten, weitsichtigen Schulzeugnis. "Bernhard-Viktor weist bei sehr gutem Betragen gute Leistungen auf. Er ist fleißig, handgeschickt und kann im Unterricht denkend mitarbeiten, nur zuweilen macht sich eine gewisse Versonnenheit bemerkbar, die wohl, wie überhaupt seine etwas weniger elastische Art, in körperlicher Konstitution begründet sein mag. Sein Ausdruck ist entsprechend, doch gewandt."

Weitere Artikel: Horst Dreiers Haltung zur Folter macht ihn für das Bundesverfassungsgericht ungeeignet, meint Andreas Zielcke im Aufmacher. In acht Jahren will das Büro von Norman Foster in Abu Dhabi die Öko-Stadt Masdar in die Wüste gestellt haben, die keinen Müll und kein Kohlendioxid produziert, imformiert Petra Steinberger. Der Kulturausschuss des Bundestags ist zwar grundsätzlich zufrieden mit der derzeitigen Auswärtigen Kulturpolitk, notiert Ijoma Mangold, würde aber noch gerne einige Folgen des Sparzwangs der Fischer-Ära zurückdrehen.

Im Berlinale-Bereich wird in zwei Mehrfach-Besprechungen Masse gemacht und Filme von "Boy A" bis "Ben X" vorgestellt, natürlich auch die Wettbewerbsbeiträge von Claudel, Guedigian, Grimaldi und Falorni. Außerdem zählt Henning Klüver die Solidaritätsadressen italienischer Künstler an Nanni Moretti auf, der für eine Sexszene in "Caos Calmo" von den heimischen Bischöfen angegriffen wird.

Die Redaktion der Berliner Zeitung hat in zwei offenen Briefen den Rücktritt von Chefredakteur Depenbrock gefordert und die andauernden Einsparungen sowie das Fehlen einer publizistischen Linie kritisiert, berichtet Christopher Keil online. Im Medienteil der Printausgabe trauert Katajun Amirpur um die feministische iranische Zeitschrift Zanan, die gerade verboten wurde.

Besprochen werden eine Schau von Angela Bullochs Lichtinstallationen im Münchner Lenbachhaus, die Aufführung von David Mamets Hollywood-Satire "Speed-the-Plow" mit Kevin Spacey und Jeff Goldblum am Londoner Old Vic Theatre und Bücher wie Vladimir Sorokins Roman "Der Tag des Opritschniks" (mehr in unserer Bücherschau des Tages).