Heute in den Feuilletons

Raubkatze und Schnurrmuschi

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.05.2008. Viel Werbung, wenig Kultur: Die taz sieht schwarz für Italien. Die NZZ erforscht das Gespinst des Weiblichen um Kafka. Die Welt liegt einer gluckernden,  glucksenden und trillernden Cecilia Bartoli zu Füßen. Die verstärkte Kulturförderung durch Stiftungen fördert den Opportunismus, klagt die FR. Die FAZ resümiert Cannes.

TAZ, 27.05.2008

Platz 79 in der Rangliste der Pressefreiheit von Freedomhouse, hinter Bulgarien und der Mongolei: Der Publizist Marco Morosini sieht im Meinungsteil schwarz für Italien. Denn auch andere Indikatoren stimmen verdrießlich. "Die beiden Extreme - hoher materieller Verbrauch und niedriges sozioökologisches Bewusstsein - kennzeichnen das Italien der letzten 30 Jahre: viel Wachstum, wenig Entwicklung; viel private Bereicherung, immer weniger öffentliche Güter; viel Werbung, wenig Forschung; viele Stadien, wenige Hochschulen; viel kommerzielles Fernsehen, wenig Kultur."

Cristina Nord hat fürs Feuilleton in Cannes nicht nur eine Renaissance des französischen Kinos erlebt, sondern identifiziert auch eine neue Generation an Autorenfilmern. Die goldene Palme für Laurent Cantets mit Laiendarstellern besetztes Bildungsplädoyer "Entre les Murs" geht völlig in Ordnung. "Cantets Film glückt etwas Besonderes. Während sich Regisseure wie Nicolas Philibert ('Etre et Avoir') oder Abdellatif Kechiche ('L'Esquive') dem Ideal der republikanischen Schule verpflichten, demzufolge alle gleichermaßen Zugang zum französischen Bildungskanon und damit zur französischen Gesellschaft erhalten, stellt Cantet dieses Ideal sanft infrage. 'Entre les Murs' lässt ahnen, wie sich das Ideal konkret am Analphabetentum der Elterngeneration stößt und abstrakt an der Gefahr, sich selbst absolut zu setzen."

Weiteres im Feuilleton: Dirk Knipphals reist nach Hildesheim zum Prosanova-Festival und ist ganz angetan von der Ernsthaftigkeit von Vortragenden und Zuhörern. Prosanova wird von den Studenten des Hildesheimer Creative-Writing-Studiengangs organisiert, was Christoph Schröder dazu veranlasst, eine Lanze für die Schreibschulen in Hildesheim und Leipzig zu brechen. Für die zweite taz wagt sich Lydia Harder in die Redaktion der rechtsaußen positionierten Jungen Freiheit.

Wie die anderen Zeitungen auch meldet die taz den Tod des amerikanischen Regisseurs und Schauspielers Sidney Pollacks.

Besprochen werden ein Konzert des Improvisations-Jazzorchesters von Barry Guy und ein Band zum Verhalten der Wissenschaften während des Nationalsozialismus.

Und Tom.

Welt, 27.05.2008

Jacques Fromental Halevys Oper "Clari" ist zwar nicht grad ein Kracher, aber Manuel Brug hat sich bei der Zürcher Aufführung dennoch kolossal amüsiert. Das lag natürlich an Cecilia Bartoli. "Man muss diesmal die Bartoli nicht nur gehört haben, wie sie - selten der vornehm reinen Stimmlehre folgend - gluckert, gluckst und trillert, feine Piani ausspinnt, wild durch fast drei Oktaven jodelt, Raubkatze und Schnurrmuschi in einer Sängerinnenperson ist. Man muss auch gesehen haben, wie sie mit Glubschaugen als Landei durch den mit Möchtegern-Hodlers und Vielleicht-doch-Jawlenskys ausstaffierten Salon des gräflichen Kunstsammlers sittsam stöckelt, wie sie sich auf der zitronengelben Knautschcouch (fast) aufs Jungfrauenkreuz legen lässt, und wie sie zurückgewiesen als teilzeitirre Furie einen roten Plastik-King Kong erklimmt und später durch die Notaufnahme geistert."

Weitere Artikel: Henning Mankell spricht über seinen neuen Thriller "Der Chinese". Hanns-Georg Rodek ist nicht ganz zufrieden mit der Goldenen Palme für Laurent Cantets Schulfilm "Entre les Murs". Stefan Keim beklagt den Hang der Opernhäuser, fachfremde Prominente inszenieren zu lassen, damit die Aufführungen von der Presse überhaupt noch beachtet werden. Kai Luehrs-Kaiser stellt die Künstler Michael Elmgreen und Ingar Dragset vor, deren Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen heute in Berlin eröffnet wird. Die Verlagschronik zum 100. Geburtstag Ernst Rowohlts ist - was die Jahre des Nationalsozialismus betrifft - nach Recherchen des Spiegels eher unvollständig, berichtet Eckhard Fuhr.

Besprochen werden die Aufführung von Marius von Mayenburgs "kleinem monströsen Mordstück 'Der Hund, die Nacht und das Messer' an der Berliner Schaubühne und Jay Roachs Film "Recount" über die US-Präsidentenwahl 2000.

NZZ, 27.05.2008

Der langjährigen Spurensuche des Verlegers Klaus Wagenbach und des Germanisten Hartmut Binder ist die Korrektur des düsteren Bildes zu verdanken, das man vom Prager Schriftsteller Franz Kafka hat, erinnert Andreas Breitenstein, der in der Ausstellung "Kafkas Welt. Sein Leben in Bildern" im Münchner Literaturhaus nun auch Neues über das "Gespinst des Weiblichen" entdeckt hat, das den Schriftsteller in Form von Freundinnen und Bordellbesuchen einhüllte. "Kafka war nicht nur der daseinsverstörte K. seiner Romane, der arme Sohn des 'Briefs an den Vater', der gequälte Versicherungsbeamte und notorische Frauenflüchter, sondern eine elegante Erscheinung mit Freundeskreis, mit Sinn für Humor sowie für leibliche und ästhetische Genüsse." Gemeldet wird in diesem Zusammenhang auch ein Streit Wagenbachs mit Binder. Wagenbach wirft Binder vor, sich für einen Kafka-Bildband aus dem Foto-Archiv Wagenbachs bedient zu haben.

Weitere Artikel: Marianne Zelger-Vogt berichtet von der "einhelligen Begeisterung" anlässlich der Aufführung von Monteverdis Oper "Incoronazione di Poppea" zur Eröffnung des Glyndebourne Festival. Hubertus Adam beschreibt das neu erstandene Roombeek-Quartier in Enschede (das alte wurde bei der Explosion einer Feuerwerksfabrik 2000 verheert), und Beatrice Eichmann-Leutenegger stellt die Ausstellung "... denn dem Auge glaubt das Gehirn" in der Universitätsbibliothek Bern vor, die einhundert Jahrgänge des Pestalozzi-Kalenders präsentiert.

Besprochen werden Silvia Bovenschens Buch "Verschwunden", Martin Cruz Smiths "Stalins Geist. Ein Arkadi-Renko-Roman" und Thomas Hürlimanns Notate "Der Sprung in den Papierkorb". Zudem rezensiert Michael Braun Peter Rühmkorfs neuen Gedichtband "Paradiesvogelschiss": "Der Dichter erteilt sich im Herbst seines Lebens die Lizenz, den Triumph der Kunst über zunehmend widrige Lebensumstände in kalauernder Heiterkeit zu zelebrieren." (Mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr.)

FR, 27.05.2008

Fatal findet es Lars Henrik Gass, dass große Bereiche der Kulturförderung aus der Ministerialbürokratie heraus in immer mächtiger werdende Stiftungen verlegt werden: "Zentralisierung und Effizienz erscheinen als Gebot der Stunde. Sie erhöhen aber die Abhängigkeit der Antragsteller, die oftmals nicht einmal mehr auf die Transparenz unabhängiger und sachkundiger Gremienentscheidungen vertrauen können, und befördern ein Klima der Angst und kulturellen Uniformität. Zugleich hat der Konkurrenzdruck, der Kampf um die Zuschüsse unter den immer zahlreicher werdenden Veranstaltungen und Institutionen zugenommen und ein Klima von Opportunismus und Misstrauen hervorgerufen. Mit offenem Widerspruch der abhängig Betroffenen ist kaum zu rechnen."

Etwas ungnädig bilanziert Daniel Kothenschulte das Filmfestival von Cannes, den Laurent Cantets Schuldrama "Entre les murs" mit seinem abbildhaften Realismus überhaupt nicht überzeugt hat: "Es wäre leicht gewesen, auch in diesem schwachen Jahrgang Filme zu finden, die nicht nur komplexe ethische Fragen aufwerfen, sondern auch ästhetisch neue Wege gehen. Allen voran der animierte Dokumentarfilm aus Israel, 'Waltz with Bashir', über eine verdrängte Erinnerung aus dem Libanonkrieg. Oder Atom Egoyans ebenso eingängiges wie hochkomplexes Politdrama 'Adoration'."

Weiteres: In der Times Mager befasst sich Ina Hartwig mit den unschönen Enthüllungen über Ernst Rowohlts NS-Propaganda. Sylvia Staude berichtet von der "Europäischen Tanzplattform". Peer Trilcke war auf dem Hildesheimer Festival für junge Literatur, Prosanova. Besprochen werden die Robert-Rauschenberg-Ausstellung "Reisend" im Münchner Haus der Kunst, Marius von Mayenburgs Stück "Der Hund, die Nacht und das Messer" in der Berliner Schaubühne, Karen Duves Roman "Taxi"

SZ, 27.05.2008

Andrian Kreye erklärt, wie Ethik und Politik bei der Katastrophenhilfe zusammenhängen und immer schon zusammenhingen. Kaspar Renner hat das Hildesheimer "Prosanova"-Festival besucht. Vom Erlanger Comic-Salon berichtet Christoph Haas. Hans-Peter Kunisch war bei einem Zeitschriftentreffen im polnischen Lwowek Slaski. Stephan Speicher referiert einen Artikel, der darstellt, wie die Zeitschrift National Geographic dafür sorgte, dass das vor dreißig Jahren gefundene Judasevangelium in mancherlei Hinsicht unsachgemäß behandelt wurde. Reinhard J. Brembeck hat sich, da Murray Perahia ein Münchner Konzert wegen Daumenproblemen absagen musste, mit einer CD-Einspielung von drei Partiten aus Bachs "Clavier-Übung I" getröstet - und erkennt darin "das Höchste, was ein Pianist auf seinem Instrument erreichen kann".

Besprochen werden außerdem Igor Bauersimas Stuttgarter Inszenierung von Rossinis Oper "Le Comte Ory", eine Ausstellung mit den Stillleben des Adriaen Coorte in Den Haag, eine Ausstellung des Künstlers Martin Boyce in Münster, Benedict Andrews' Uraufführung von Marius von Mayenburgs neuem Stück ""Der Hund, die Nacht und das Messer" in Berlin, ein Konzert von Musikern des Jazz- und Neue-Musik-Labels ECM auf Schloss Elmau und Bücher, darunter Elliott Pearlmans Roman "Sieben Seiten der Wahrheit" und Jutta Limbachs Streitschrift "Hat Deutsch eine Zukunft?", der Thomas Steinfeld "harmlos bürokratische Gesinnung" attestiert (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 27.05.2008

Verena Lueken resümiert die Filmfestspiele von Cannes und zeigt sich mit der Palme für Laurent Cantets Lehrer- und Schüler-Film "Entre les murs" nicht unzufrieden. Einer besonderen Erwähnung wert ist ihr aber auch ein anderer Film: "Unter den Preisträgern ist es einzig der Türke Nuri Bilge Ceylan, der etwas ganz anderes macht. 'Drei Affen', für den er den Regiepreis erhielt, beginnt wie ein noir-gestylter Thriller und endet als düsteres Melodram, in dem alle irgendwie schuldig sind. Worin ihre Schuld besteht, enthüllt der Film bei einigen Figuren nur langsam, und es dauert eine ganze Stunde, bis wir erfahren, woher diese düstere Tönung kommt, die über dem Ganzen liegt. Das alles sieht sehr künstlerisch aus, wie immer bei Ceylan, mit ausgewaschenen Himmeln über gestochen scharfen Stadtansichten. Aber man hatte doch auch den Eindruck, dass es nicht um viel geht in diesem Film außer eben um die Kunst. Und das scheint dann ... doch ziemlich wenig zu sein."

Weitere Artikel: Jürg Altwegg begrüßt in der Glosse - wenn auch verhalten - die Aufnahme des sich in "reaktionärer Pose" gefallenden Ausstellungsmachers Jean Clair in die Academie Francaise. Von Leipziger Uneinigkeit beim Bemühen, Richard Wagner, Sohn der Stadt, heimzuholen, weiß Andreas Platthaus. Oliver Jungen resümiert das "Prosanova"-Festival in Hildesheim: "große Optik, kleiner Ertrag". Der Althistoriker Wolfgang Will stellt fest, dass die aus der Rhone gefischte Büste uns auch dann wenig über Cäsar verraten würde, stellte sie ihn, anders als inzwischen vermutet, tatsächlich dar. Über die Tagung "Extreme Gewalt", die vor über einer Woche in Berlin stattfand, berichtet Jochen Stöckmann. Reinhard Seiss erklärt, was bei der österreichischen Siedlungspolitik falsch läuft. Nach dem Blick in deutsche Zeitschriften möchte sich Ingeborg Harms von Utopien verabschieden, nicht zuletzt den von Antonio Negri entwickelten. Mahret Kupka war im französischen Hyeres, wo sich alljährlich die Elite der jungen Modedesigner trifft (mehr hier). Die deutsche Schule in Paris feiert, wie Joseph Hanimann mitteilt, ihren fünfzigsten Geburtstag, hat sich für die Zukunft aber das weltläufigere Etikett "internationale Schule" verpasst. Marcus Jauer war dabei, als sich die Berliner Eisbären von ihrer bisherigen Spielstätte, dem "Wellblechpalast", verabschiedeten. Auf der Forschung-und-Lehre-Seite wird kurz gemeldet, dass der Umgang mit Jüngeren das Leben verlängert - jedenfalls bei der bei Forschern beliebten Eintagsfliege Drosophila.

Auf der Medienseite billigt Michael Hanfeld den Kauf der linken Wochenzeitung "Freitag" durch Jakob Augstein. Henning Hoff stellt eine Studie vor, die zum Ergebnis kommt, dass Al Quaida im Internet eher alt aussieht.

Besprochen werden die Adolph Menzel-Ausstellung "Radikal Real" in der Hypo-Kunsthalle München, die Züricher Aufführung von Jacques Fromental Halevys Oper "Clari" mit Cecilia Bartoli in der Titelrolle, Benedict Andrews' Uraufführung von Marius von Mayenburgs neuem Stück "Der Hund, die Nacht und das Messer" an der Berliner Schaubühne, eine Ausstellung mit Künstlerporträts von Barbara Klemm in Baden-Baden, Scarlett Johanssons Debüt-CD "Anywhere I Lay My Head" (Hörproben) und Joel Roses Roman "Kein Rabe so schwarz" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).