Heute in den Feuilletons

Wir machen den Garten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.06.2008. Die taz stellt uns den Bhangramuffin des Apache Indian vor. Die NZZ beschreibt die Obama-freundliche HipHop-Szene. In der Welt identifiziert ein französischer Gymnasiallehrer Godot. Anlässlich des Weltflüchtlingstages wirbt die SZ für Illegal - zumindest im Theater. Die FAZ will in der Lindenoper lieber die Architektur hören als die Kunst.

TAZ, 20.06.2008

Als großes Laboratorium der Musik preist Uh-Young Kim die Metropole London. "Tropical" heißt das neueste Genre, das alles zusammenschmilzt, was das Völkergemisch an der Themse so zu bieten hat. Bestes Beispiel ist der indisch-britische Produzent Diamond Duggal von Swami. "Als Jugendlicher wurde er in Birmingham vom Reggaevirus aus der jamaikanischen Nachbarschaft infiziert. Mit seinem Cousin Apache Indian erfand er das indisch-karibische Mischgenre Bhangramuffin (Video). Mittlerweile hat er Popgrößen wie Shania Twain und Erasure produziert. Der Name seiner Band steht für 'So Who Am I'. Identitätsfragen werden dabei im Clash der Stile zum Tanzen gebracht: Bhangra aus dem Punjab trifft auf den Nachlass von Kraftwerk, Bronx-Hiphop auf Drum and Bass aus Brixton. Duggal träumt von einer Identität, die alle repräsentiert, indem sie sich das Beste aus jeder Kultur nimmt. Und nirgends ist diese Utopie gerade so greifbar wie in London."

In der zweiten taz veröffentlicht Julia Walker eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, nach der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland verbreiteter ist als angenommen. Im Medienteil meldet Steffen Grimberg, dass bei der Berliner Zeitung trotz guter Verdienste weitere Entlassungen anstehen.

Besprechungen gibt es zu Franz Josef Degenhardts Album "Dreizehnbogen", und der Ausstellung "Form und Grund" mit Werken von Amelie von Wulffen, Monika Baer und Thomas Eggerer im Wiener Augarten.

Schließlich Tom.

NZZ, 20.06.2008

Jonathan Fischer verfolgt die Unterstützung Barack Obamas durch amerikanische Kino- und Pop-Stars, vor allem durch HipHopper: "So richtig in Schwung kam die Pro-Obama-Welle mit dem Internet-Hit 'Yes We Can'. Anfang Februar hatte Will.I.Am, der Rapper der Hip-Hop-Gruppe Black Eyed Peas, zusammen mit Bob Dylans Sohn Jesse ein Video gedreht, in dem er Obamas 'Yes We Can'-Slogan mit Klängen akustischer Gitarren unterlegte und prominente Freunde vor der Kamera versammelte - unter anderen Herbie Hancock, Common, Nicole Scherzinger, Scarlett Johansson und den Basketballspieler Kareem Abdul-Jabbar. Das Video wurde innerhalb einer Woche vier Millionen Mal angeklickt. Obamas Frau Michelle spielte es bei einer großen Wahlkampfveranstaltung: 'Nach einem Jahr Wahlkampf habe ich ja viel Berührendes erlebt, aber das hier muss ich mit euch teilen.'"



Weitere Artikel: Joachim Güntner beleuchtet angesichts der Krise beim Aufbau Verlag die Situation der Aufbau-Autoren. Geschlechtsumwandlung und gleichgeschlechtliche Ehe, das alles, verrät Georges Waser, hat der/die britische Schriftsteller/in James/Jan Morris erlebt.

Besprochen werden Bücher von skandinavischen Autoren der Jahrhundertwende um 1900, die laut Aldo Keel ein Comeback in den Verlagen erleben. Des weiteren eine Joan Jonas-Ausstellung im Genfer Centre d'art contemporain, die Uraufführung von Sidi Larbi Cherkaouis Tanzstück "Sutra" in London und das neue Album von Emmylou Harris "All I Intended To Be". Außerdem im Dossier Sachbuch Gabriele Krone-Schmalz' "Was passiert in Russland?" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Auf der Medienseite kann Heribert Seifert die Aufregung ums rechte Wochenblatt Junge Freiheit nicht verstehen: "Manchem Essay ist die intellektuelle Zurechnungsfähigkeit auf der Suche nach einer konservativ-nationalen Renaissance nicht abzusprechen, wenngleich hier oft zu wenig Wirklichkeitssinn und zu viel Romantik sich artikuliert. Zu den Autoren gehören mittlerweile einige pensionierte Redaktoren von FAZ, Welt und öffentlichem Rundfunk. Die Interviewpartner des wöchentlich die dritte Seite füllenden Interviews sind ebenfalls meist völlig unverdächtig".

Weiteres: Von Kritik an der UEFA wegen angeblicher Bilderzensur berichtet raz. Die Einweihung eines Denkmals für getötete Journalisten in London wird von ii. gemeldet. Günter Wallraff fordert eine Stiftung zur Förderung von verdeckter Recherche, weiß der epd. Und Ronald D. Gerste schätzt, dass die Washington Times trotz ihrer Modernisierungsbemühungen im konservativen Lager stecken bleibt.

Welt, 20.06.2008

Dem französischen Gymnasiallehrer Valentine Temkine ist es, wie Matthias Heine berichtet, gelungen, Samuel Becketts vermeintlich im Niemandsland des Absurden spielendes Stück "Warten auf Godot" historisch und räumlich genau zu verorten: "Der Godot, auf den Wladimir und Estragon warten, ist ein Schleuser der Resistance, der sie aus dem von den Nazis besetzten Frankreich heraus in die italienische Zone schmuggeln soll. Die beiden sind flüchtige Juden aus dem 11. Pariser Arrondissement. Wahrscheinlich erwarten sie ihren Retter im Frühjahr 1943 auf einer trockenen, kalkigen Hochebene der Südalpen, etwa dem Plateau de Valensole. Und das alles steht ganz deutlich im Stück - zumindest im französischen Originaltext."

Katja Stopka fragt, ob es sinnvoll sein kann, Internet-Texte - wie es die Deutsche Nationalbibliothek plant - ohne Ansehen der Qualität zu archivieren. In Großbritannien jedenfalls geht man ihrer Ansicht nach vernünftiger vor: "Ein aus führenden Bibliotheken und Archiven des Landes zusammengesetztes Expertenkonsortium trifft eine exemplarische Auswahl von gesellschaftlich, kulturelle und wissenschaftlich relevant bzw. aussagekräftig erscheinenden Blogs, die zentral gespeichert und einsehbar gemacht werden (www.webarchive.org.uk)."

Weitere Artikel: Peter Zadek gibt (nur online) ein langes Interview über die Revolutionen auf der Theaterbühne. Das Finanzbündnis, das Steven Spielberg mit dem indischen Milliardär Anil Ambani eingegangen ist, kommentiert Hanns-Georg Rodek. Gerade hat der Verleger Christoph Links seine Dissertation über DDR-Verlage nach dem Ende der DDR verteidigt: Michael Draeke spricht mit ihm vor allem über die Causa Aufbau. Rainer Haubrich informiert darüber, dass Angela Merkel im Dresdener Waldschlösschenbrückenstreit die Demokratie übers Welterbe stellt. Zur Veröffentlichung der Genesis-Tour-Dokumentation "When In Rome" hat sich Stefan Krulle mit Phil Collins, Tony Banks und Mike Rutherford unterhalten. Peter Dittmar informiert über neue wissenschaftliche Methoden zur Rekonstruktion der Gemäldeentstehung. Aus aktuellem Fußballanlass (die Türken in Wien!) erinnert "see" an den Großwesir Kara Mustafa, der im Jahr 1683 auch schon mal fast so weit war. Reinhard Wengierek hat das Golzower Museum besucht, das sich der Langzeitdokumentation über "Die Kinder von Golzow" widmet. Ralph Eue schreibt einen kurzen Nachruf auf den französischen Filmregisseur Jean Delannoy. Auf der Forum-Seite wird eine Rede, die Henryk M. Broder vor dem Innenausschuss des Deutschen Bundestags hielt, dokumentiert: Er spricht darin über den "modernen Judenfeind".

Besprochen werden ein von La Fura dels Baus in Valencia auf die Bühne gebrachter "Siegfried" und Christophe de Ponfillys Film "Der Stern des Soldaten".

Aus den Blogs, 20.06.2008

Ein glücklicher Mensch war Walter Kempowski wirklich nicht, schreibt Rainald Goetz. "Aber wer ist das schon, und der Schreiber kann glücklicherweise eben damit arbeiten. Wie wird das unerreichbar tief sitzende Nichtglück in Bewegung von Leben gesetzt, später in Text: das ist die Frage, auf die das Werk antwortet. Es kann aus Bildern bestehen - halleluja Josef Winkler!, Büchnerpreis für Josef Winkler! - , wie oft bei Josef Winkler, aus Geschichten, Plot und Spannung, aus Sprache primär, aus Icherforschung, Dichtung, aus Erfundenem, oder, wie bei mir, zuallererst aus Argumenten."

Bei Heise berichtet Stefan Krempl über die Feier zum 50-jährigen Jubiläum der VG Wort, die genutzt wurde, um gegen die "globale Enteignungsmaschinerie Internet" zu wettern. Heribert Prantl von der SZ hielt die Festrede: "'Es gibt einen alltäglichen Web-2.0-Narzissmus', schimpfte Prantl. Das Internet sei zu einem 'Entblößungsmedium' auch der jungen, gehobenen Mittelschichten verkommen. 'Aus Orwell wird Orwellness, aus Datenaskese ist eine Datenekstase geworden.' Das Netz sei eine 'Selbstverschleuderungsmaschine', in der die Nutzer ihre Persönlichkeitsrechte 'verschenken'.

FR, 20.06.2008

Peter Michalzik porträtiert die neue Leiterin des Frankfurter Museums für Moderne Kunst, Susanne Gaensheimer. In times mager kommentiert Harry Nutt den gesamtdeutschen Einheitsstreit um die Lindenoper. Der Rest sind Buchbesprechungen: Es geht unter anderem um J.M. Coetzees "Tagebuch eines schlimmen Jahres" und Thomas Pletzingers Roman "Bestattung eines Hundes" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 20.06.2008

Alex Rühle kündigt prominent das Stück "Illegal" des Autors Polle Wilbert an, das heute - kurz nach der europaweiten Verschärfung der Abschieberegelungen - Premiere haben wird und in Rühles Augen einen Nerv trifft. "Man könnte meinen, all die verbliebenen politischen Energiereserven des europäischen Projekts... werden darauf verwendet, die Grenzen immer noch dichter zu machen. Helfen wird das kaum. Oder wie es in Wilberts Chor heißt: 'Wir werden erwischt. Wir kommen wieder. Wir verstecken Pässe. Wir kaufen Pässe. Wir machen den Garten.'"

Egbert Tholl porträtiert den Autor Polle Wilbert, der im wahren Leben Dramaturg der Münchner Kammerspiele ist und Björn Bicker heißt.

Weiteres: Zum Start des Münchner Filmfests vergleicht Tobias Kniebe die beiden Filmstädte Berlin und München und stellt für letztere klar, dass die wahre Macht nicht bei den Produzenten, auf Cannes-Parties oder in der Staatskanzlei gehandelt wird, sondern bei einem kleinen visionären Team des Bayerischen Rundfunks. Susan Vahabzadeh konstatiert einen Trend zur inzenierten Dokumentation. Rainer Gansera blickt auf das Programm voraus. Lothar Müller vernimmt nun auch das "Summen und Brummen", nach dem Berlin im Verein mit Investor und Sammler Nicolas Berggruen ein spektakuläres Museum für die Kunst des 21. Jahrhunderts errichten will. Volker Breidecker berichtet von einem Symposium zum Thema "Fetisch und Konsum" auf Schloss Solitude.

Für die Literaturseite besucht die Autorin Iris Hanika in Thüringen die Dreharbeiten zum Tolstoi-Film "The Last Station" mit Christopher Plummer und Helen Mirren, die bei ihrer Geburt noch Ilyena Vasilievna Mironov hieß. "Tolstois allerletzte Station, der Ort, an dem er starb, war tatsächlich eine Station, der kleine Bahnhof von Astapowo; für den Film wurde diese Bahnstation in Pretzsch an der Elbe in Sachsen-Anhalt gefunden. Nun aber Thüringen, Kahla, Saaletal. Die Landschaft ist zauberhaft und so deutsch, wie man es sich nur wünschen kann. Die entschieden aufragenden Hügel, eigentlich sind es schon kleine Berge, sind dunkel bewaldet, von jedem zweiten grüßt eine Burg herunter."

Besprochen werden die Ausstellung "High Society - Amerikanische Porträts des Gilded Age" im Hamburger Bucerius Kunst Forum, eine Aufführung von Simon Mayrs "Fedra" in Braunschweig und Bücher, darunter Christoph Dejungs "Widerspruch" und Regina Ullmanns Erzählungen "Die Landstraße" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 20.06.2008

In die Vollen geht Andreas Kilb diesmal mit seinem Plädoyer für den Erhalt des Pseudo-Rokoko-Zuschauersaals der Berliner Lindenoper: "Wahr ist, dass die Republik, die immer noch dabei ist, in Berlin anzukommen, in der Hauptstadt nach einem architektonischen Ausdruck ihres Selbstverständnisses sucht. Wahr ist auch, dass sie diesen Ausdruck nicht in der Spielbudenästhetik des Potsdamer Platzes oder der gargantuesken Waschtrommel des Kanzleramts findet, sondern in den klassizistischen Fassaden des Reichstags, der Museumsinsel und des Forums Fridericianum. In diesem Sinn ist Richard Paulicks Zuschauersaal keine Hypothek, sondern ein Geschenk. Wer es zerstört, bringt nicht die Oper zum Klingen, sondern ein Kunstwerk zum Schweigen."

Weitere Artikel: Nur begrüßen kann Niklas Maak die überraschende Ernennung der Kunsthistorikerin Susanne Gaensheimer zur neuen Chefin des Frankfurter Museums für Moderne Kunst - natürlich nicht nur, aber auch deshalb, weil damit das "Herrenclubprinzip der deutschen Museumslandschaft durchbrochen" wird. Ein kurzes Gespräch mit Gaensheimer hat Maak überdies geführt. Hubert Spiegel unterhält sich mit Michael Naumann über die Renovierung von Schloss Janowitz. In seiner sich durchs gängige kulturkritische Repertoire mäandernden Replik auf Oliver Jungen, der vor einem Weilchen forderte, mit der inflationierten Preisvergabe an Schriftsteller Schluss zu machen, gibt der Autor Kurt Drawert dem Verlust von Qualitätsbewusstsein die Schuld an dieser Inflation. Jordan Mejias informiert über das "Minerva"-Projekt, mit dem das Pentagon jetzt akademische Expertise an sich binden will.

In der Glosse erstattet Kerstin Holm Bericht vom Moskauer "Festival der Orchester der Welt", bei dem Russland am Ende von allen den bombastischsten Klangkörper vorzuweisen hatte. Alexandra Kemmerer hat mit kritischen Augen einen Auftritt der Kulturtheoretikerin Julia Kristevas in Berlin verfolgt. Karen Krüger porträtiert Ragip Zarakolu, der ein Buch über den Genozid in Armenien verlegt hat und jetzt wegen "Beleidigung der türkischen Republik" zu fünf Monaten Gefängnishaft verurteilt wurde. Elise Cannuel konstatiert, dass Nicolas Sarkozy an seiner Geschichtspolitik mit ihrer Tendenz zur "affektbetonten Personalisierung der Geschichte" festhalten will. Was man in Frankreich für die "Kulturuelle Bildung" tut - und was Deutschland davon lernen kann (und was nicht), erklärt Joseph Hanimann. Felicitas von Lovenberg gratuliert dem Schriftsteller Ian McEwan zum Sechzigsten.

Besprochen werden die "Siegfried"-Version von La Fura dels Baus in Valencia, die Lübecker Ausstellung "250 Jahre Buddenbrookhaus", eine Münchner Ausstellung mit dem Werk des Fotografen Dimitri Soulas, Udo Maurers Dokumentarfilm "Über Wasser" und Bücher, darunter Stewart O'Nans Roman "Letzte Nacht" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).