Heute in den Feuilletons

So viel so gut

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.01.2009. In Open Democracy und der Nowaja Gazeta sieht Juri Afanasjew das Ende Russlands. Die NZZ erzählt, wie Fred Vargas einen fatalen Fehler machte und durch ein Telefonat ihren wegen Mordes in Italien gesuchten Freund Cesare Battisti fast ausliefern half. Die SZ beklagt die Automusealisierung der deutschen Autoindustrie. Die Welt findet, dass das Englische als Wissenschaftsprache auch Vorteile hat. Alle schreiben zum Tod von John Updike.

TAZ, 28.01.2009

In tazzwei kommentiert Cigdem Akyol die gerade veröffentlichte Integrationsstudie, bei der die Türken in Deutschland besonders schlecht abschneiden. Für Akyol ist es "richtig, Integration nach ethnischen Kriterien zu beurteilen. Es ist streitbar, es ist immer noch ein Tabu, aber es ist nicht falsch. Wer sich aus Angst vor einem Tabubruch einen Maulkorb aufsetzt, kommt nicht vorwärts. Wer glaubt, dass Bildungsarmut stets soziale Ursachen und keine kulturellen hat, sieht sich durch das vietnamesische Beispiel widerlegt. ... Deswegen haftet den Worten der Kritiker etwas seltsam Gestriges an. Denn einen Mangel an Erkenntnissen gibt es schon lange nicht mehr, sondern einen Mangel an Handlungen. Deswegen sollte die Studie als Anstoß zum Handeln verstanden werden - nicht nur für die Politik, vor allem für die Migranten. Die Schuld der Politik zuzuschieben ist einfach und nachvollziehbar. Der Rassismusvorwurf verliert irgendwann seine Wirksamkeit. Sich selbst aus der Außenseiterrolle zu befreien ist schwierig, aber wichtig."

Im Kulturteil würdigt Robert Schröpfer die Bedeutung des seit 25 Jahren verliehenen Chamisso-Preises für die rasante Entwicklung sogenannter Migrationsliteratur in Deutschland. Für Cristina Nords Geschmack gibt es zu viel Finanzkrise und Globalisierung im Berlinaleprogramm. Besprochen wird Heinz Strunks Roman "Fleckenteufel", in dem es ausgiebig ums Furzen geht, wie wir der Rezension von Julian Weber entnehmen.

Und Tom.

Weitere Medien, 28.01.2009

Haben wir gerade entdeckt: Open Democracy hat einen monsterlangen Essay des Historikers Juri Afanasjew aus der Nowaja Gazeta übersetzt: Das Ende Russlands? In der Einleitung heißt es: "On its present course, Russia is doomed, claims the distinguished historian, Yury Afanasiev. Why did reform change nothing? Why has the wheel of history turned back to autocracy? 500 years of oppression are reaching a terrible climax. In this important, excoriating essay, he challenges his people to face the truth about their history."

Der Essay ist dann in folgende Kapitel unterteilt:
Part One: Are we not slaves?
Part Two: 1917
Part Three: The Character of Russian Power
Part Four: Late 1980's- early 1990's: Russia blows its latest historic chance

Im New Yorker erinnern sich Schriftstellerkollegen wie T. Coraghessan Boyle, George Saunders, Julian Barnes und Antonya Nelson an John Updike. Den Anfang macht der verstorbene Autor John Cheever, der 1976 einen Nachruf auf Updike schrieb, nachdem er die Falschmeldung erhalten hatte, Updike sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen.

Texte von Updike findet man unter anderem in Atlantic, dem New Yorker und in The New Republic.

FR, 28.01.2009

Arno Widmann im Nachruf auf John Updike: "Er war seit 1960, als der erste Rabbit-Roman erschien, einer der großen amerikanischen Schriftsteller, einer der Autoren, auf deren neue Bücher die lesende Öffentlichkeit - bald nicht nur in den USA - wartete. Seit 1955 schrieb er für The New Yorker. Er veröffentlichte dort nicht nur Erzählungen, sondern auch Gedichte und Kritiken. In einem von keinem lebenden deutschen Autor erreichten Umfang. Es ist nicht zu begreifen, wie jemand so viel, so gut schreiben kann. Jetzt müssen wir 'konnte' schreiben."

Ursula Baus hat das neue Porsche-Museum von Delugan Meissl in Zuffenhausen besucht und ist enttäuscht: "Porsche zeigt hier mit rund achtzig Autos die Markenentwicklung und nichts, aber auch gar nichts anderes. Wird im Mercedes Museum noch angedeutet, dass Autogeschichte in einem kulturellen und zeitgeschichtlichen Zusammenhang zu begreifen ist, blendet Porsche all das aus und spart sich so auch Hinweise auf seine unrühmliche, inakzeptable Rolle im Dritten Reich - ins Archiv darf man nur nach Anmeldung."

Weitere Artikel: Arno Widmann stellt ein Buch des Historikers Shlomo Sand vor, das unter dem Titel "Wann und wie wurde das jüdische Volk erfunden?" bisher auf Hebräisch und Französisch erschienen ist. In Times Mager dankt Hans-Jürgen Linke den Eisenbahnern für ihren Streik. Der WAZ-Konzern hat seine Verträge mit dpa gekündigt, berichtet Daniel Bouhs, der das kurzsichtig findet, auf der Medienseite.

Besprochen werden Thorsten Lensings und Jan Heins Stück "Der Lauf zum Meer. Ein Idyll" bei der Spielzeit Europa in Berlin, die Aufführung von Kurt Weills "Silbersee" in Augsburg und Jamal Tuschicks Erzählband "Aufbrechende Paare".

NZZ, 28.01.2009

Franz Haas erzählt von den diplomatischen Verwerfungen, zu denen der Fall Cesare Battisti zwischen Brasilien und Italien geführt hat. Vergeblich hatte Italien fast dreißig Jahre lang die Auslieferung des ehemaligen Terroristen und Krimiautors von Frankreich verlangt, dessen kulturelle Hautevolee ihn unter ihre Fittiche nahm. "Als im Juni 2004 seine Auslieferung von der französischen Justiz so gut wie beschlossen war, tauchte Battisti unter und setzte sich nach Brasilien ab, wo er teilweise von der finanziellen Unterstützung durch Fred Vargas lebte. Die französische Bestsellerautorin hatte im selben Jahr seines Untertauchens die beherzte Verteidigungsschrift 'La verite sur Cesare Battisti' geschrieben. Ein Telefongespräch Battistis mit ihr brachte die brasilianische Polizei auf seine Spur. Er wurde zwar verhaftet, aber dann ließ sich die brasilianische Justiz sehr viel Zeit mit der Prüfung des italienischen Auslieferungsantrags. Nach beinahe zwei Jahren wurde jetzt das diplomatische Patt durch die formelle Weigerung Brasiliens noch verhärtet."

Weiteres: Thomas Hermann schreibt den Nachruf auf den verstorbenen Schriftsteller John Updike (hier seine Kritiken aus dem New Yorker). Maike Albath besucht die sardische Bestseller-Autorin Milena Agus in Cagliari. Joachim Güntner diskutiert den Burkini, der jetzt vom Berliner Senat als zulässige Badebekleidung abgesegnet wurde. Besprochen werden Laurent Cantets Sozialdrama "Die Kasse", der siebte Band des Historischen Lexikons der Schweiz und neue Publikationen von und über Hebbel.

Welt, 28.01.2009

Berthold Seewald weist Klagen des Deutschen Kulturrats zum Niedergang des Deutschen als Wissenschaftssprache zumindest teilweise zurück: "Differenzierung ist angebracht. Es gibt Fächer (Naturwissenschaften, Technik, Medizin), deren schneller Erkenntnisfortschritt im globalen Konzert eine Sprache verlangt. Im Grunde können die Deutschen froh sein, dass ihnen da mit dem nahverwandten Englisch sogar eine deutlich leichtere Teilhabe geboten ist als etwa Sprechern romanischer Sprachen."

Weitere Artikel: Sven Felix Kellerhoff bringt Richtigstellungen des Historikers Peter Hoffmann, der die Drehbuchautoren des Films "Operation Walküre" - ohne Honorar, wie er jetzt betont - beraten hat. Hendrik Werner nimmt das neue Konzerthaus in Kopenhagen (Bilder) in Augenschein. Wieland Freund schreibt zum Tod von John Updike. Gernot Facius stellt eine deutsche Übersetzung der Septuaginta (einer griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel) vor. Eckhard Fuhr empfiehlt eine heute im Ersten laufende Dokumentation über DDR-Biografien.

Beprochen werden der Film "Stilles Chaos" mit Nanni Moretti und das Monty-Python-Musical "Spamalot" in Köln.

Aus den Blogs, 28.01.2009

Henryk Broder antwortet in der Achse des Guten auf Joschka Fischers Israel-Kritik in der gestrigen SZ: "Deswegen sei Joschka in aller Kürze gesagt, worin der strategische Gewinn all der Kriege liegt, die Israel 'nicht verloren' hat. Israel ist noch da. Eine einzige Niederlage - und Israel wäre weg. Während sich die arabischen Gegner Israels eine Niederlage nach der anderen leisten können, ohne ihre Existenz zu riskieren. Zuletzt hat der syrische Präsident Assad der Hamas zu ihrem glorreichen Sieg über Israel gratuliert. Man kann es auch einfacher sagen: Legen die Araber die Waffen nieder, ist der Krieg vorbei. Legt Israel die Waffen nieder, ist es mit Israel vorbei. Alles klar, Joschka?"
Stichwörter: Hamas, Israel, Fischer, Joschka

FAZ, 28.01.2009

Oliver Jungen war in Bielefeld, hörte einen Vortrag des ehemaligen FDP-Innenministers Gerhart Baum und staunte nicht schlecht, "dass ein ehemaliger deutscher Innenminister zum schärfsten Gegner der deutschen Innenminister avancierte, ein FDP-Urmitglied gegen viele von der FDP mitgetragene Entscheidungen Sturm läuft (jüngst scheiterte an Baum das Projekt 'Online-Durchsuchung' des nordrhein-westfälischen FDP-Innenministers Ingo Wolf), ein arrivierter Jurist das (und sei es zweischneidige) Schwert schwingt, Widerstand gegen jede Form von Überwachung mobilisiert, indem er vor brav ihre Master-Punkte sammelnden Studenten mitreißend über das Recht auf informationelle Selbstbestimmung spricht und die weitgehende Abschaffung des Asylgrundrechts attackiert."

Weitere Artikel: Zum Tod von John Updike gibt es auf der Titelseite der Druck-Ausgabe ein Bild und online einen vorläufigen Nachruf von Patrick Bahners. Jürg Altwegg porträtiert den maoistischen französischen Philosophen Alain Badiou, der nun als Gegner von Nicolas Sarkozy auch zu außerakademischer Bekanntheit gelangt (Liberation brachte zum Pariser Streik am Donnerstag einen dreiseitigen Artikel des Philosophen, der der Zeitung aber so kostbar war, dass sie ihn nicht online stellte). Dirk Schümer berichtet, dass der niederländische Regierungschef Jan Peter Balkenende nun wegen seiner keiner weiteren Begründung für würdig befundenen Unterstützung des Irak-Kriegs unter Druck geraten ist. In der Glosse möchte Tobias Rüther gegen Renate Künast festhalten, dass Guantanamo nichts mit Care-Paketen zu tun hat. Friederike Reents hat eine Tagung zum Thema "Jean Amery - Literatur zwischen Erinnerung, Politik und Selbstsuche" besucht. Till Krause erzählt von den Hausbesetzern in Erfurt, die nun vom Gelände der ehemaligen Fabrik Topf & Söhne, die Öfen für Auschwitz baute, vertrieben werden sollen. Werner Jacob hat sich im neuen Zuffenhausener Porsche-Museum umgesehen. Gundula Werger informiert über Pläne, den ältesten Judenfriedhof Europas in Worms als Weltkulturerbe zu restaurieren. "Lächerlich" findet Michael Hanfeld die Kritik am Stauffenberg-Auftritt von Oliver Pocher und geht in die Gegenoffensive: "Mehr Pocher wagen ist das Gebot der Stunde." Jürg Altwegg vermeldet ganz knapp ein Rekordjahr für den französischen Film - zuhause, aber auch im Export.

Besprochen werden Thilo Reinhardts Inszenierung von Tschaikowskys Oper "Pique Dame" an der Berliner Komischen Oper, eine Londoner Wiederaufnahme von Lionel Barts Stück "Oliver!" mit Rowan Atkinson. David Finchers bäckerdutzendfach oscarnominierter Film "Der seltsame Fall des Benjamin Button", und Bücher, darunter gleich zwei neue Studien des Romanisten Karlheinz Stierle - eine zu Dante und eine zu Dante bei Proust (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 28.01.2009

Gerhard Matzig schreibt anlässlich des neuen Porsche-Museums in Stuttgart über die Automusealierung der Autoindustrie: "Niemals zuvor gab es in Deutschland im Premiumsegment so viele architektonisch hochambitionierte Automuseen, Abhollager oder Erlebniswelten - und niemals zuvor mussten derart kraftstrotzende, teure Bauten eine derart schwächelnde, ja taumelnde Industrie abbilden. Es ist, als wollte man einer Branche am Abgrund ein Denkmal setzen; als wollte man quasi den Niedergang auf seinem Höhepunkt einfrieren." Adrienne Braun inspiziert den vom Büro Delugan (elende Architekten-Flash-Website) entworfenen Bau selbst.

Weitere Artikel: Willi Winkler schreibt zum Tod von John Updike. Holger Liebs berichtet, dass das Rose Museum in Boston wegen der Finanzkrise schließen muss und dass die Brandeis-Universität die 8.000 Werke des Museums mit allen großen Namen der amerikanischen Kunst "meistbietend verscherbeln" wird. Aus dem Prado kommt laut Alex Rühle die Meldung, "dass 'Der Koloss', der bislang als eines der wichtigsten Goya-Gemälde galt und in der Fachliteratur exzessiv zitiert und analysiert wurde, nicht von Goya, sondern von einem seiner Assistenten gemalt worden sei". Manfred Schwarz gratuliert Claes Oldenburg zum Achtzigsten. Petra Steinberger muss konstatieren, dass einige Neokonservative in den USA ins Obama-Lager wechseln.

Besprochen werden Luk Percevals Inszenierung von Ingmar Bergmans "Nach der Probe" in Hannover, drei Kurzopern in Zürich und Luzern, die aus einem Wettbewerb entstanden sind, ein Beethoven-Konzert unter Kent Nagano in München, David Finchers Film "Der seltsame Fall des Benjamin Button" (zu dem auch ein Interview mit dem Regisseur gestellt wird) und Bücher, darunter Irene Disches neuer Roman "Veränderungen über einen Deutschen oder Ein fremdes Gefühl".