Heute in den Feuilletons

Hier nix Kafka

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.02.2009. Die Welt hält die indische Empörung über den Film "Slumdog Millionaire" für heuchlerisch. In Achgut fragt Richard Wagner angesichts der polnisch-deutschen Debatte, ob eine europäische Geschichte überhaupt möglich ist. Golem hat das Lesegerät von Sony getestet und ist enttäuscht. In der FR sucht Wilhelm Genazino in Marbach nach einem Hauch Vitalität. Die SZ resümiert die albanische Debatte über Skanderbeg. Die FAZ bringt Ausschnitte aus dem Briefwechsel zwischen Hacks und Enzensberger.

Welt, 27.02.2009

Auf der Meinungsseite beschreibt der Politikwissenschaftler Gerd Langguth, dass die Pius-Brüder kein frommer Bund, sondern eine durch und durch politische Formation sind. Und zwar eine rechtsradikale: Zum Beispiel finde der Chef der deutschen Pius-Brüder, Franz Schmidberger, auch manche Regierungen legitim, die nicht gewählt wurden. "Zugleich fordert Schmidberger ein Wahlrecht, das von dem Grundsatz, dass jeder Wahlberechtigte ein und dieselbe Stimme ('one man, one vote') hat, abweicht. Er fragt: 'Würde nicht ein wesentlich auf die Familienoberhäupter abgestütztes Wahlrecht der Familie als Zelle der Gesellschaft eine ganz andere Stellung verleihen?' Frauen kommen bei seinen Überlegungen beim Wahlrecht überhaupt nicht vor. Auch bezweifelt Schmidberger, 'ob die Parteien wirklich zum Wohle eines Volkes seien oder nicht vielmehr zu dessen Spaltung beitragen'."

Im Feuilleton hält hält Marko Martin die indische Aufregung um den Film "Slumdog Millionaire" für reinsten Kulturnationalismus - und für ein bekanntes Muster: "Wenn Bollywood, das sich in seinen häufig von der Unterwelt mitfinanzierten Massentanz-Filmen niemals um soziales Unrecht geschert hat, nun a la 'Unser Slum gehört uns' aufschreit, müsste dies nämlich auch in deutschen Ohren vertraut klingen. Erinnert man sich noch an die Polemik angesichts von Steven Spielberg 'Schindlers Liste'? Auch hier saß die Kränkung tief, dass ausgerechnet ein Amerikaner für das urdeutsche Verbrechen der Shoa Bilder von universaler Gültigkeit gefunden hatte."

Die Ausstellung "Autopsie Schiller" im Marbacher Literaturmuseum zeigt Uwe Wittstock, welche groteske Ausmaße der "literarische, kunstreligiöse Reliquienkult" um Schiller angenommen hatte: "Schillers Locken und Socken. Schillers Hut und Hose. Schillers Spiegel und Stirnband. Sein Löffel und Riechfläschchen."

Weiteres: In der Randglosse sieht Berthold Seewald durch die Versteigerung von Yves Saint Laurents Kunstsammlung immerhin bewiesen, dass man auch in Paris Kunst kaufen kann. Hendrik Werner feiert den neuen Krimi der "zu großer Perfidie fähigen" Andrea Maria Schenkel. Gabriela Walde meldet, dass sich die Fotografin Annie Leibovitz finanziell so verhoben hat, dass sie ihre Bilder verpfänden musste. Dankwart Guratzsch begutachtet das von David Chipperfield rekonstruierte Neue Museum. Und Michael Miersch konstatiert zwanzig Jahre nach Konrad Lorenz' Tod, dass vom wissenschaftlichen Werk des Verhaltensforschers wenig übrig bleibe.

Aus den Blogs, 27.02.2009

Ist eine europäische Geschichte überhaupt möglich? fragt Richard Wagner in achgut.de nach den neuesten polnischen Attacken auf Erika Steinbach und ihr geplantes Zentrum gegen Vertreibungen: "Die Endlos-Debatte um das Zentrum ist nebenbei auch ein Exempel für die Tatsache, dass es keine gemeinsame europäische Mainstream-Geschichtsschreibung geben kann, weil es eine solche Geschichte nie gegeben hat. Es ist eines der großen politischen Missverständnisse, dass man meint, man müsse alles in Einklang bringen. Man kann in Polen durchaus der deutschen Schreckensherrschaft während des Zweiten Weltkriegs gedenken und in Deutschland der größten Vertreibung in der Geschichte, ohne dass deshalb gleich die polnische Post in Gefahr käme. Manches muss man wohl getrennt lassen, sonst verwischen sich die Konturen. Nicht zuletzt die der Täter und der Opfer."

Meike Dülffer und Andreas Sebayang haben für Golem das erste Lesegerät getestet, das Sony auf den deutschen Markt bringt. Euphorie kommt nicht auf: "Lesen lässt sich mit dem Sony Reader PRS-505/SC komfortabel und ausdauernd. Er ist schick, leicht transportabel und ermöglicht die Lektüre von viel Lesestoff unter unterschiedlichen Bedingungen. Doch viel mehr kann der Sony Reader nicht. Ein großer Nachteil ist, dass sich Textstellen nicht markieren und gezielt suchen lassen. So ist der E-Book-Reader eher als Ergänzung zu herkömmlichen Büchern zu sehen. Die Bilder- und Musikfunktion des Readers hätte sich Sony sparen können. Besonders ärgerlich ist, dass die vermeintliche Neuheit von Sony in Wahrheit ein altes Gerät ist: Das Modell PRS-505/SC ist in den USA seit 2007 auf dem Markt. Dort gibt es mit dem PRS-700BC D sogar schon einen Nachfolger, der über einen Touchscreen und eine eingebaute Beleuchtung verfügt."

NZZ, 27.02.2009

Der Biochemiker Gottfried Schatz erklärt die Geschichte des Kobalts und endet mit einem geschichtsphilosophischen Rundumschlag: "Ich wurde Biochemiker, um das chemische Geschehen in mir zu verstehen, und ahnte nicht, dass es mir von meinen fernen Ahnen und der atemberaubenden Geschichte des Lebens erzählen würde. Diese Geschichte lässt mir die Kriege, Krönungen und Reichsgründungen meines Schulunterrichts klein und unwichtig erscheinen. Ist es noch berechtigt, unsere Geschichtsschreibung mit dem Erscheinen von Homo sapiens zu beginnen, da nun das molekulare Palimpsest lebender Materie unseren Zeithorizont um fünf Größenordnungen erweitert hat? Sollten die Geschichtswissenschaften nicht ihre Scheuklappen ablegen und den Blick viel weiter als bisher in die Vergangenheit wagen?"

Weiteres: Der Campus der Leipziger Universität wird gründlich saniert und das, weiß Joachim Güntner, sorgt für Reibungen. Besprochen werden Peter Konwitschnys "Lear"-Inszenierung am Grazer Schauspielhaus, ein Konzert des Zürcher Kammerorchesters mit dem Klarinettisten Martin Fröst, Kiriko Nananans Comic "Liebe und andere Lügengeschichten" und CDs, darunter das neue U2-Album "No Line On The Horizon" und Oumou Sangares Debüt "Seya".

Auf der Medienseite fragt sich "ras", was Journalisten in wirtschaftlichen Krisenzeiten wichtiger sein muss: die ungeschönte Wiedergabe der Wahrheit oder die "patriotische" Verantwortung, mit ihrer Berichterstattung nicht alles noch schlimmer zu machen. Norbert Neininger-Schwarz, Chefredakteur der Schaffhauser Nachrichten, plädiert für staatliche Förderung, um Qualitätszeitungen zu erhalten.

Tagesspiegel, 27.02.2009

Christiane Peitz kommentiert das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Filmförderungsabgabe, bei der die Fernsehsender mehr Freiheit hatten als andere Akteure des Marktes - laut Gericht geht das so nicht: "Das Signal aus Leipzig ist jedenfalls deutlich. Es besagt: Kino ist beides, Ware und Kunst. Die im föderalistischen Deutschland so besondere Mischung von Bundes- und Länderförderung, Kultursubvention und Standortstärkung geht in Ordnung (man kann nur hoffen, dass die auf freien Wettbewerb bedachten Europapolitiker in Brüssel das genauso sehen). Aber eins geht nicht in Ordnung: die Willfährigkeit gegenüber den Sendern. Lasst euch von den TV-Mächtigen nicht alles gefallen!"

TAZ, 27.02.2009

Bettina Gaus fragt auf der Meinungsseite, ob die Verteidiger des ZDF-Chefredakteurs Nikolaus Brender von Schirrmacher bis Leyendecker den Streit nicht "vor allem für eine günstige Gelegenheit halten, dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen nun endlich den Garaus zu bereiten. Dass es also überhaupt nicht um die Zukunft des ZDF oder gar eines seiner Spitzenvertreter geht, sondern nur und ausschließlich um die Frage, wer künftig und endlich die Kontrolle über das Medium Fernsehen gewinnt. Vorstellbar? Es ist wahrscheinlich."

Im Kulturteil spricht Regisseur Stefan Kaegi im Interview über Erfahrungen, die er in Kairo zur Vorbereitung seines Stücks "Radio Muezzin" für das Berliner Theater Hebbel am Ufer machte. In dem Stück treten "echte" Gebetsrufer aus Kairo auf. Über die Reaktion der Imame auf diese Idee erzählt er: "Grundsätzlich fanden es die Imame nicht verwerflich, dass Muezzins auf einer Theaterbühne von ihrer Arbeit erzählen. Besonders als sie erfuhren, dass ansonsten keine Schauspieler mit von der Partie sind. Nichts hassen sie mehr als das falsche Leben, das die Soaps im Fernsehen vorgaukeln. Die Imame fanden auch, dass ein europäisches Publikum ruhig sehen soll, dass ein religiöses Leben und Fanatismus nicht dasselbe sind."

Weitere Artikel: Christoph Twickel erinnert an den 20. Jahrestag der "Caracazo" in Venezuela, der von Chavez und seinen Anhängern heute als "Geburtsstunde der bolivarischen Bewegung" gefeiert wird. Thomas Winkler stellt das "altersgemäß abgehangene" neue Album "No Line On The Horizon" von U2 vor.

In tazzwei wird gleich zweimal der Roman "Bitterfotze" der schwedischen Autorin Maria Sveland besprochen. Heide Oestreich sieht darin eine Modernisierung des feministischen Entwicklungsromans, Dirk Knipphals entdeckt die Anknüpfung an erzählerische Muster der "Neuen Subjektivität" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Hier Tom.

FR, 27.02.2009

Der Schriftsteller Wilhelm Genazino denkt anlässlich der Schiller-Ausstellung in Marbach über die Schwierigkeit nach, "aus abgelebten Dingen einen Hauch Vitalität zu filtern": "Wie soll das falsche Erinnern, ausgelöst durch 'wahre' Überbleibsel, ausgeschlossen werden? Wie soll der herbeiphantasierte Selbsteinschluss des Betrachters in das Betrachtete verhindert werden? Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts war ich in Prag, um mir einige zentrale Adressen des Kafka'schen Lebens anzuschauen. Der Zusammenbruch des Kommunismus war noch in weiter Ferne, und Kafka war hinter dem Eisernen Vorhang ein so unerwünschter wie unbekannter Autor. Als ich sein Geburtshaus durch das hohe und breite Eingangstor betreten hatte, sah ich links eine Art Pförtnerloge, in der ein älterer, untersetzter Mann saß. Ich sagte, dass ich, wenn auch nur von außen, die Wohnung der Familie Kafka anschauen wolle. Der Mann hob kurz den Kopf und sagte - auf deutsch: Hier nix Kafka."

Weiteres: In Times mager fragt sich Hans-Jürgen Linke, in welchem Salzbergwerk man wohl toxische Wertpapiere endlagern könnte. Christian Thomas schreibt einen Nachruf auf den norwegischen Architekten Sverre Fehn. Auf der Medienseite erzählt Inge Günther, wie schön sich christliche Vertreter empören konnten, als ein israelischer Comedian Witze über Marias Jungfräulichkeit machte.

Besprochen werden Matthias Frings' Biografie des Kommunisten Ronald M. Schernikau, der noch 1989 aus Westberlin in die DDR ging, das Album "Good News on a Bad Day" des einstigen Schnulzensängers Sasha, das neue Album "No Line on th Horizon" von U2.

SZ, 27.02.2009

Enver Robelli erzählt die Geschichte des Schweizer Historikers Oliver Jens Schmitt, der eine Studie über Skanderbeg (1405 bis 1468), den albanischen Nationalhelden vorlegte und mit Hinweis auf den slawischen Vornamen von Skanderbegs Vater einen Sturm der Entrüstung auslöste: "Als einer der Ersten protestierte Albaniens international bekanntester Schriftsteller Ismail Kadare. Er bezeichnete Schmitts Buch als 'Angriff auf die Freiheit', mit dem Ziel, Skanderbeg zu 'serbisieren'. Staatspräsident Bamir Topi, ein ausgebildeter Biologe, wandte sich gegen die 'elenden Versuche', die Großtaten Skanderbegs in Frage zu stellen. In Internetforen wurde gegen Schmitt und Ardian Klosi, den Übersetzer seines Buches, offen gehetzt." (In der SZ Online haben wir Roellis Artikel nicht gefunden, dafür aber, vielleicht in anderer Version in der Basler Zeitung, mehr hier.)

Der Wirtschaftshistoriker Christopher Kobrak erklärt in einem interessanten historischen Hintergrundartikel, wie das System der Boni in Unternehmen zustandekam, das durch erfolgsabhängige Bezahlung unternehmerisches Denken fördern sollte, am Ende aber dazu führte, dass die Manager die Vorteile des Angestelltendaseins (keine Haftung) mit denen des Unternehmertums (sehr viel Geld) kombinierten: "Doch die Schuld liegt nicht bei ihnen allein: Sie nutzten untaugliche Richtlinien aus, die andere formuliert hatten."

Weitere Artikel: Gerhard Matzig gratuliert dem Architekten Frank O. Gehry zum Achtzigsten. Petra Steinberger setzt sich unter Zuhilfenahme verschiedener amerikanischer Artikel mit der ihr wenig sympathischen Fraktion der Klimaskeptiker auseinander, kritisiert aber auch die politische Einflussnahme der wissenschaftlichen Warner.

Besprochen werden die neue CD von U2, Peter Konwitschnys Inszenierung des "König Lear" mit Udo Samel in Graz, Gerhard-Richter-Ausstellungen in London und München und Bücher, darunter ein nach der Kempowski-Methode zusammengeschnittenes Tagebuch des Ersten Weltkriegs.

FAZ, 27.02.2009

Andre Thiele stellt - mit vielen Zitaten - die Briefe vor, die Peter Hacks und Hans Magnus Enzensberger sich zwischen 1958 und 1962 schrieben. Zum Hintergrund schreibt er: "Das Phänomen 1959 ist nicht schwer zu verstehen: In diesem Jahr hatten die beiden deutschen Staaten entdeckt, dass sie ohne einander konnten. Das galt es mitzuteilen - und dafür hatten sie ihre Leute. Vor allem machte sich 1959 die Generation der Luftwaffenhelfer, der die sich in biographischen Details verblüffend ähnelnden Hacks und Enzensberger jeweils auf ihre Weisen vorstanden, an die Eroberung der gesellschaftlichen Einfluss-Stellungen. Man war jung, siegesgewiss und geneigt, es allen zu zeigen. Die alten Herren wollten reden, die Jungen ebenfalls, aber sie dachten nicht daran, sich darüber hinwegzutäuschen, dass dieses Reden ein Sprechen zu den eigenen Leuten war, also kein Dialog, sondern eine Trennungserklärung. Gesamtdeutsche Sentimentalitäten, die hatten nun wirklich nur die Alten; für die Jungen bedeutete die Trennung vor allem die doppelte Menge an zu besetzenden Posten." Die Briefe sind in den Berliner Heften abgedruckt.

Weitere Artikel: Warum die Chinesen so an ihren zwei von Pierre Berge versteigerten Tierköpfen (hier und hier) hängen, erklärt Mark Siemons. Hannes Hintermeier berichtet über eine Diskussion zu Buchmarkt und Internet, die offenbar ziemlich überflüssig war. Neue Aspekte zur Nazivergangenheit Erwin Strittmatters meldet Andreas Kilb. Jordan Mejias wirft einen Blick in amerikanische Zeitschriften, die dem Crash gewidmet sind. Dieter Bartetzko betritt Massimiliano Fuksas "My Zeil" und landet statt in einer übersichtlichen Shopping Mall in einem "funkelnd biomorphen Labyrinth". Auf der letzten Seite spricht Marianne Brün, Tochter von Fritz Kortner und Johanna Hofer, über ihr politisches Engagement, ihre Eltern und Gott.

Besprochen werden die Ausstellung der Ottheinrich-Bibel im Bibelmuseum Frankfurt und die Uraufführung von Biljana Srbljanovics "Barbelo"im Theater Essen.