Heute in den Feuilletons

Wie sonst nur noch in Transnistrien

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.12.2009. Die NZZ sieht das Schweizer Minarett-Verbot auch als Blamage für den Journalismus. Im Tagesspiegel schreibt der Historiker Hamed Abdel-Samad: "Die Muslime sind zu empfindlich." In der FAZ erklärt Jürg Altwegg, warum er sich bei der Abstimmung enthielt. In der taz wirft Beate Klarsfeld den Deutschen mangelnde Aufarbeitung ihrer Geschichte vor.  In der FR erklärt Toni Negri, was an der Demokratie faschistisch ist.

NZZ, 01.12.2009

Die Schweizer Medien haben in der Debatte um die Minarettinitiative versagt, kommentiert ras. Die Berichte über die Initiative waren "zu stark von Ideologie durchtränkt" und die Online-Kommentare der Leser, die einigen Aufschluss über die Stimmung im Land hätte geben können, wurden von den Journalisten ignoriert. "In diesem Sinn ist das überraschende Abstimmungsresultat zur Minarettinitiative nicht nur eine Ohrfeige für die Gegner, wie diverse Redaktoren am Montag schrieben, sondern auch eine Blamage für den Journalismus. Man verkannte die Lage."

Und: Heribert Seifert untersucht das geistliche - und manchmal auch nur scheinbar geistliche - Angebot im Internet. (Die Medienseite ist heute morgen leider noch nicht online, daher keine Links.)

Im Feuilleton fürchtet Angela Schader, dass die Schweiz mit dem Minarettverbot "den Glanz einer wirklich alle Bürger umfassenden Demokratie" in den Augen der arabischen Welt verloren hat. Caroline Schnyder hat sich mit dem italienischen Historiker Carlo Ginzburg über Werdegang und wissenschaftliche Neigungen unterhalten.

Besprochen werden die Ausstellung "Angels of Anarchy" in der Manchester Art Gallery, Jossi Wielers Inszenierung von Aischylos' "Prometheus, gefesselt" an der Berliner Schaubühne, ein Konzert des Orchesters der Oper Zürich mit Thomas Ades' Werk "In Seven Days", einige DVDs und Bücher, darunter Rüdiger Safranskis Buch über die Freundschaft von Goethe & Schiller, Klaus Arnolds Buch über Qualitätsjournalismus und Grigori Rjaschskis Roman "Moskau. Bel Etage" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 01.12.2009

Sehr islamkritisch kommentiert der Münchner Politikwissenschaftler und Historiker Hamed Abdel-Samad das Schweizer Minarettverbot: "Europa hat Angst vor dem Islam, und Moslems wissen nicht, wie sie darauf reagieren können. Die Maulkörbe, die die Muslime den Islamkritikern zu verpassen versuchten, bewirkten genau das Gegenteil. Die islamische Überempfindlichkeit gegenüber Kritik führte zur Entstehung einer verkrampften Streitkultur, wo deutliche Meinungen unerwünscht waren."

Im Feuilleton schreibt Katrin Hillgruber zu 25 Jahren Chamisso-Preis, mit dem auf Deutsch schreibende Autoren mit Migrationshintergrund ausgezeichnet werden.

TAZ, 01.12.2009

"Die deutsche Justiz hat Angst", sagt Beate Klarsfeld im Interview mit Cigdem Akyol in tazzwei zum Demjanjuk-Prozess, und: "Die Deutschen hatten ja seit Kriegsende die NS-Verbrecher vor der eigenen Tür, die tausendmal verantwortlicher waren als Demjanjuk. Der war ein russischer Kriegsgefangener, welcher von den Deutschen übernommen wurde. Die großen Nazis saßen ja in allen Posten und haben die Politik mitgestaltet. Kurt Kiesinger mit seiner NS-Vergangenheit hatte die Deutschen rehabilitiert."

Im Kulturteil porträtiert Peter Unfried den ehemaligen Automanager Daniel Goeudevert, der sich jetzt für den Klimaschutz einsetzt. Frank Schäfer meldet die Rückkehr der Glamrockband Kiss. Besprochen werden Ereignisse des Theaterfestivals Impulse (mehr hier) und das Stück "faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete" des österreichischen Dramatikers Ewald Palmetshofer am Theater Mannheim.

Und Tom.

Aus den Blogs, 01.12.2009

Diese und mehr chillende Katzen bei Glaserei:



"It's a sad day at TechCrunch HQ. Hitting the publish button on this post, which makes all of this so…final…is a very hard thing to do. I’m enraged, embarrassed, and just…sad." Michael Arrington erklärt, wie Techcrunch fast dem heiß erwarteten Itab von Apple zuvorkommen wäre - und wie es dann doch nicht klappte. So hätte das Computerchen ausgesehen:


FR, 01.12.2009

Die Schweiz ist in einer Identitätskrise, meint Tobi Müller. Das erkläre auch die Minarettabstimmung. Die nämlich "versteht nur, wer einen mentalitätsgeschichtlichen Blick riskiert. Dann nämlich wird man vielleicht begreifen, dass es gar nicht so sehr um den 'Skandal' nicht-bewilligter muslimischer Kirchtürme, sondern, sehr viel ernster, um die Identitätskrise eines Landes geht, das seit zwanzig Jahren eine Kränkung nach der andern hinzunehmen hat. Es geht um die unbewältigte Geschichte seit 1989, es geht um den Kalten Krieg, der in der Alpenfestung überwintert hat wie sonst vielleicht nur noch in Transnistrien. Es geht um die Angst vor einer unbestimmten Invasion."

Der italienische Politikwissenschaftler und Neomarxist Toni Negri erklärt im Interview, was am Kapital kommunistisch, an Barack Obama revolutionär und an der parlamentarischen Demokratie faschistisch ist. "Ich bin absolut davon überzeugt, dass das parlamentarische System seit mindestens 50 Jahren nicht mehr funktioniert. Das amerikanische Modell von parlamentarischer Demokratie ist schon lange obsolet. Es ist ganz gewiss obsolet in dem Moment, in dem die Linke der Anziehung der Mitte nichts mehr widersetzen kann. Der Extremismus der Mitte ist ein Abgrund, letal für jedwede Demokratie. Wenn es gar keine Dialektik mehr gibt, ist die Demokratie am Ende. Der Witz ist, dass während sich die Welt verändert, wir an Schemata festhalten, die mindestens hundert Jahre alt sind. Der Widerstand gegen den Faschismus etwa. Klar: Den Faschismus gibt es, der ist heute aber das demokratische System. Wir müssen endlich den Mut haben, es zu erkennen."

Weitere Artikel: Karl Grobe erzählt die Geschichte Galiziens. In Times Mager nimmt Harry Nutt Überraschungskonzerte aufs Korn. Auf den vorderen Seiten berichtet Thomas Schmid über den ersten Tag des Prozesses gegen John Demjanjuk.

Besprochen werden Jette Steckels Inszenierung des "Othello" am Deutschen Theater Berlin, die Aufführung von Jeffrey Chings Oper "Das Waisenkind" in Erfurt, ein Schumann-Konzert am Staatstheater Wiesbaden und Gerhard Roths Wienbuch "Die Stadt" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr)

Weitere Medien, 01.12.2009

Vielleicht sind die Positionen von Murdoch und Google gar nicht so weit auseinander, wie es scheint, meint Eric Panner in der New Yoek Times: "Google, too, seems increasingly willing to explore paid content, as it looks for ways to diversify beyond advertising, which now accounts for all but a tiny fraction of the company?s revenue. Google has already endorsed the idea of paid book downloads, and is exploring ways to create payment systems for online news sites."
Stichwörter: Google, Paid Content

Welt, 01.12.2009

Mit Neid blickt Dankwart Guratzsch angesichts des ermüdeten christlichen Eifers auf den regen Bau von Moscheen und Synagogen in Deutschland und Europa. Hendrik Werner nimmt das "Jugendwort des Jahres" unter die Lupe: "Ich hartze, du hartzt, wir hartzen." Michael Pilz schreibt einen Nachruf auf den DJ-Plattenspieler SL-1200 von Technics, dessen Produktion nun endgültig eingestellt wird.

Besprochen werden Til Schweigers neuer Film "Zweiohrküken" und das "Philosophische Quartett", das über Alan Poseners papstkritisches Buch "Benedikts Kreuzzug" debattierte.

FAZ, 01.12.2009

Jürg Altwegg erklärt, warum er sich bei der Schweizer Abstimmung ums Minarettbauverbot enthalten hat: "Kein Leser wird mir unterstellen, ich hätte irgendwelche Affinitäten zur Schweizerischen Volkspartei und Christoph Blocher. Ihr Bild der Schweiz entspricht nicht meinen Vorstellungen... Ich bin aber auch der Überzeugung, dass es keine vom Volk abgesegnete permanente und pauschale Baubewilligung braucht. In diesen Zeiten der religiösen Spannungen darf man von Minderheiten in der Fremde eine gewisse Zurückhaltung erwarten. Sie sollten als Zeichen ihrer Integration und aus Sorgen um den innenpolitischen Frieden ihrer neuen Heimat freiwillig auf den Bau von Minaretten verzichten."

Weitere Artikel: Hubert Spiegel berichtet vom ersten Tag im Prozess gegen den mutmaßlichen NS-Verbrecher John Demjanjuk. Peter Geimer kommentiert die seiner Ansicht nach ziemlich unsinnige Neu-Bemalung der Berliner Eastside-Gallery. In der Glosse sieht Andreas Rossmann überhaupt nicht ein, dass die Bonner Beethovenhalle einem von Deutscher Post, Telekom und Postsparkasse gestifteten Neubau weichen soll. Andreas Platthaus besucht den Buchsalon in Montreuil. In amerikanischen Zeitschriften liest Jordan Mejias Aufsätze zu den Themen Ökologie und Klimawandel. Hannes Hintermeier schreibt einen kurzen Nachruf auf den Lektor Hans Georg Heepe.

Besprochen werden die Uraufführung von Jan Neumanns "Fundament" und eine Inszenierung von Michail Bulgakows "Flucht" am Stuttgarter Staatsschauspiel, weitere Inszenierungen in Kürze, darunter Katharina Thalbachs "Barbiere di Siviglia" an der Deutschen Oper in Berlin, ein Max-Herre-Konzert in Köln, die Ausstellung "Jean-Antoine Houdon. Die sinnliche Skulptur" im Frankfurter Liebieghaus und Bücher, darunter David Peace' neuer Roman "Tokio im Jahr null" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 01.12.2009

Vor der heutigen Entscheidung des Bundesverfassungsgericht über die Ladenöffnungszeiten am Sonntag steht Jens Bisky klar auf Seiten der klagenden Kirchen gegen den Berliner Senat: "Der Mensch soll mehr sein als eine rastlos ratternde, Umsatz generierende Maschine." Catrin Lorch besichtigt die Harun-Farocki-Ausstellung im Kölner Museum Ludwig, wo sie den Filmemacher besser aufgehoben findet als im Kino: "Zu den beiden Berliner Premieren seines Films 'Videogramme einer Revolution' erschien jeweils nur ein Zuschauer." Dorion Weickmann rekapituliert die Querelen um den jetzt scheidenden Leipziger Ballettdirektor Paul Chalmer. Oliver Bilger meldet, dass die Russland-Analysen der Stiftung Wissenschaft und Politik nun doch keine Finanzprobleme haben.

Besprochen werden Jan Neumanns "Fundament" und Bulgakows "Die Flucht" am Staatstheater Stuttgart, Nunta Mutas Film "Stille Hochzeit", die Ausstellung "Andy Hope 1930" des Malers Andreas Hofer in der Sammlung Goetz in München und Bücher, darunter der Briefwechsel zwischen Rainer Maria Rilke und Eva Cassirer sowie Paul Veynes "Die Kunst der Spätantike" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Auf der Meinungsseite kommentiert Christiane Schlötzer das Schweizer Minarettverbot: "In der Schweiz gibt es 150 Moscheen, zusammen haben sie nur vier Minarette."