Heute in den Feuilletons

Ebenmäßige Strahlkraft einer Cate Blanchett

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.01.2010. Eine Lücke im Internet Explorer erlaubt es chinesischen Spähern, in die Mailkonten von Dissidenten zu gucken - und sie spähen noch weiter: bis in die Google-Konten amerikanischer Menschenrechtsaktivisten, berichten Blogs und Zeitungen in den USA. Im Tagesspiegel spricht Hans Christoph Buch über die haitianische Katastrophe. Die NZZ lotet noch einmal ausführlich den Abgrund der Securitate-Bespitzelungen unter rumäniendeutschen Autoren aus. Claude Lanzmann hat in seiner Autobiografie nicht gelogen, hält die SZ fest.

Tagesspiegel, 15.01.2010

Apokalypse war in Haiti schon vor dem Beben, sagt Hans Christoph Buch, der oft über das Land geschrieben hat. Er antwortet im Interview mit Philipp Lichterbeck auf die Frage, warum ein Beben in Haiti katastrophaler ist als anderswo: "Weil Haiti längst kaputt ist. Man hat die Wälder abgeholzt, um Holzkohle zu gewinnen. Das einst grüne Land besteht heute aus kahlen Bergen. Regen bleibt aus, und wenn es regnet, wird die fruchtbare Erde ins Meer geschwemmt. Dort sterben die Korallenriffe, die die Küsten schützen. Es gibt weder ein funktionierendes Straßennetz, noch Strom und Wasser."

Berliner Zeitung, 15.01.2010

Die Autorin Katharina Rutschky ist gestorben. Harald Jähner und Sabine Vogel schreiben den Nachruf: "Es ging ihr weniger um den Streit, als um die Kultur, die Kultur eines freien, tabulosen Denkens und Diskurses. Als alle Welt über sexuellen Kindesmissbrauch sprach, warnte sie, die in einem ihrer ersten Bücher 1977 die 'Schwarze Pädagogik' des 18. und 19. Jahrhunderts untersucht hatte, vor dem gesellschaftlichen Missbrauch des Missbrauchsvorwurfs."

TAZ, 15.01.2010

Thomas Winkler unterhält sich mit Taylor Swift, der erst 20-jährigen, aber extrem selbstbewussten neue Country-Diva aus Nashville, über Besserwisser im Produzentenmilieu und durch Songtexte beleidigte Exfreunde. "Die meisten Plattenfirmen hätten einer 16-Jährigen nicht zugetraut, eigene Stücke aufzunehmen. Meine Firma aber hat mir erlaubt, über das Arschloch aus meiner Klasse zu schreiben und über den Typen, der mich betrogen hat. Ich durfte schreiben über den Tag, an dem ich in den Spiegel schaute und nicht mochte, was ich dort sah. Ich durfte das selbst in Worte fassen, anstatt dass jemand anderes versuchen musste, meine Textperspektive einzunehmen."

Weiteres: Sebastian Voigt kommentiert den "Fall von Rufmord" gegen Claude Lanzmann; ihm hatte Christian Welzbacher in der Zeit vorgeworfen, seine Rolle bei der Absetzung des FU-Rektors Edwin Redslob übertrieben zu haben: "Der Artikel des Kunsthistorikers Welzbacher bewegt sich an der Grenze zum Ressentiment." Christian Lehmann Carrasco berichtet über den Unternehmer Sebastian Pinera, der bei den Wahlen in Chile am Sonntag als Kandidat der Rechten antritt und einen ebenso geschickten wie aggressiven Wahlkampf betrieben hat.

Besprochen werden Dubstep-Alben von King Midas Sound, Dave Huismans aus Den Haag mit dem Künstlernamen 2562 und Scuba.

Und Tom.

Weitere Medien, 15.01.2010

Google wurde von den chinesischen Hackern wahrscheinlich durch eine Sicherheitslücke im neuen Internet Explorer geknackt, meldet die Los Angeles Times: "In a statement, Microsoft admitted that Internet Explorer was one of the 'vectors'. Microsoft said it is working with Google, partners and authorities. It is working on a patch for the hole, which could allow an attacker to gain control of a computer if the target clicks on a link in an e-mail or an instant message." Mehr dazu auch bei Mashable.

(Via Jon Hutson) Der Arm chinesischer Zensoren reicht bis nach New York, berichtet Mike Swift in den Mercury News. Google schöpfte Verdacht, als sich eine amerikanische Tibet-Aktivistin und ein chinesischer Hacker gleichzeitig in ein Googlemail-Konto einloggten: "Unknown to Seldon, a regional coordinator of Students for a Free Tibet, at the same moment she was reading her e-mail in Queens, someone in China was logged into her account as well. Top Google officials, including chief legal officer David Drummond, later told Seldon that the suspicious situation alerted them that she was one of the human rights activists whose electronic mail was routinely being spied upon by someone in China."

Aus den Blogs, 15.01.2010

Die Debatte um Google und China geht weiter. Nicht sehr freundlich schreibt Paul Carr in Techcrunch: "whatever your view, you have to accept that Google spent four years, and earned vast sums of money, operating under China's censorship laws. And now only when they suffer an attack that threatens to damage their business worldwide - "What? The communists can hack my Gmail?? - have they suddenly found a conscience." Die Passwörter der chinesischen Google-Mitarbeiter sind bereits gesperrt, meldet Techcrunch außerdem.

Frankreich entwickelt sich zum gallischen Dorf gegen das Internet: Erst die Loi Hadopi, dann die Google-Steuer, nun die Loi LOPPSI, berichtet Fabrice Epelboin im ReadWrite Web: "The LOPPSI law, which could be voted on in March, will make filtering the French Internet a reality, 'the Chinese way', like Deputy Jacques Myard recently said. Contacts have been established between the French UMP party and the Chinese Communist Party to talk about 'Democracy and Internet access' (video, in French), and just like in Australia, pedophiles were used as a very good reason to filter the Internet."
Stichwörter: China, Gmail, Google, Internet

Welt, 15.01.2010

Marko Martin lässt ohne Zusammenhang zu den aktuellen Ereignissen die dunkle Geschichte Haitis (und ihre wohlmeinenden Literarisierungen von Graham Greene bis Heiner Müller) Revue passieren. Michael Borgstede begleitet eine Reise katholischer Bischöfe zu ihren bedrängten Glaubensbrüdern in Israel und den besetzten Gebieten. Achim Fehrenbach wirft einen Blick auf das Videospieljahr 2010. Elmar Krekeler hat schon einige der literarischen Neuerscheinungen des Frühjahrs gelesen. Und Eva Behrendt porträtiert die Schauspielerin Sandra Hüller ("Sandra Hüller kann so alltäglich und unauffällig wirken, dass man sie an der Straßenbahnhaltestelle übersieht - aber auch mit der ebenmäßigen Strahlkraft einer Cate Blanchett verblüffen").

NZZ, 15.01.2010

Markus Bauer kommt noch einmal auf die Spitzel der Securitate zu sprechen und schildert das moralisch verwüstete Klima, das sie hinterlassen haben. Bezeichnend ist für ihn der Fall des Eginald Schlattner, der in den fünfziger Jahren im Schriftstellerprozess von Brasov als Hauptbelastungszeuge agierte und darüber einen Roman schrieb - "Rote Handschuhe" - mit dem er schriftstellerische Erfolge feierte. "Eine wirkliche Versöhnung hat zwischen den beiden Seiten nie stattgefunden, auch weil für die Verurteilten es wie ein Hohn erscheinen musste, dass ein großes Publikum im Westen, aber auch in Rumänien gerade denjenigen als Chronisten der Sachsen unter der Diktatur feierte, der entscheidend zu ihrer Verurteilung beigetragen hatte. Vielleicht ist gerade in dieser Unfähigkeit zur Diskussion wiederum einer der Hauptgründe für das Scheitern der gar nicht so seltenen, aber isoliert bleibenden Widerstandsversuche während der rumänischen Diktatur zu entdecken."

Weitere Artikel: Angela Schader berichtet, dass auch der haitianische Schriftsteller Georges Anglade und seine Frau bei dem Erdbeben ums Leben gekommen sind. Schader erzählt außerdem von einem Job-Rating, nach dem Versicherungsmathematiker die besten Aussichten haben. Jonathan Fischer beobachtet die Wieberlebung der Musikszene von New Orleans, ganz groß findet er zum Beispiel den Saxofonisten und Blues-Harp-Spieler Ben Ellman: "Diese Musik tost sozusagen wie ein Hurrikan."

Besprochen werden Ausstellungen des Barockmalers Johann Heinrich Schönfeld in Friedrichshafen und Stuttgart.

FR, 15.01.2010

Die Biografin Marion Tauschwitz schildert im Aufmacher, wie die Dichterin Hilde Domin das letzte große Beben auf Hispaniola im August 1946 erlebte; Domin lebte damals im Exil in Santo Domingo: "Die Einheimischen, so Hilde Domin, zogen unter dem Eindruck des Bebens in gespenstischen Prozessionen durch die Nacht. In den Gärten hatten sie jeweils ein kleines Golgata geschaffen: drei Holzstöcke zu einem Kreuz gebunden und etwas Erde drumherum aufgeworfen. Davor knieten sich die Pilger nieder, in einfache, ungefärbte Baumwolle, die Promesa, gehüllt und mit einem brennenden Holzscheit in der Hand: leidenschaftlich erregt beteten sie... In die Erdrisse, die durch das Beben entstanden waren, warfen die Menschen Gegenstände, um die Götter zu besänftigen. 'Sie hätten alles hineingeworfen um die Heiligen zu zwingen den Abgrund zu schließen.'"

Weiteres: Judith von Sternburg hat in einem Artikel im Guardian gelesen, dass der Polizist von Tristan da Cunha, eine Insel im Südatlantik, gerade zur Fortbildung in London ist, aber das dürfte die Insel verkraften: "In den 70er Jahren habe es einmal eine Messerstecherei auf einem Fischkutter gegeben." Besprochen werden der Comic "Jenseits" der beiden französischen Zeichner Kerascoet und Fabien Vehlmann sowie eine Ausstellung des Künstlers Eberhard Havekost in der Frankfurter Schirn.
Stichwörter: Domin, Hilde, Guardian, London, 1970er

FAZ, 15.01.2010

Frank Rieger, Sprecher des Chaos Computer Clubs, malt die Gegenwart der Internet- und Computerwirklichkeit als Szenario aus, in dem der Mensch nichts weiter mehr als ein "Datensatz" ist: "Dank drastischer Verbilligung von Speicher- und Verarbeitungskapazitäten werden Algorithmen praktikabel, die in großen Datenmengen von Millionen Nutzern noch die entlegensten Zusammenhänge aufspüren können: Death-Metal-Fans über fünfunddreißig Jahren, die sich für Spanien-Reiseführer interessieren, bestellen überdurchschnittlich oft Babywindeln und Schnuller online."

Das Internet ordnet das Hirn, sagt Alexander Kluge im faz.net zur Frage, wie das Netz sein Leben verändere: "Seitdem es das Internet gibt, kann ich mich viel schneller orientieren als früher. Ich kann besser weglassen, was mich nichts angeht. Ich lösche genauso stark wie ich sammle. Das war beim Zettelkasten anders. Beim Zettelkasten haben Sie Energie darauf verwendet, etwas aufzuheben, sie haben sich etwas dabei gedacht, es wird Ihnen also viel schwerer, etwas zu verwerfen."

Weitere Artikel: Die Vertwitterung der Welt führt, meint Jürgen Kaube in der Glosse, zu globaler "Allbetroffenheit", die freilich noch gar nichts bedeuten müsse. Matthias Grünzig schildert, wie eine notwendige Restauration der Stadt- und Landesbibliothek von Potsdam bislang am Widerstand von "Rekonstruktionsfans" scheitert. Den designierten neuen Chef der Deutschen Oper Berlin, Dietmar Schwarz, porträtiert Jan Brachmann. Oliver Tolmein beschreibt, wie das Internationale Olympische Komittee im Umgang mit der Fiktion des Geschlechterdualismus bei der Wissenschaft Hilfe sucht. Hannes Hintermeier hat einen Nachruf auf den Diamanten namens "Blauer Wittelsbacher" verfasst, der nach einem Umschliff nicht mehr ist, was er mal war. "Nibe" schreibt zum Tod des Schriftstellers Georges Anglade, der beim Erdbeben auf Haiti ums Leben kam. Auf der Medienseite berichtet Michael Martens, wie die nationalistische türkische "Tal der Wölfe"-Serie für großen Ärger mit Israel sorgt.

Besprochen werden die neue Choreografie "Out of Context" von Alain Platel und seinen "Les Ballets C de la B", Dieter Wedels Fernsehfilm "Gier" (Jochen Hieber fühlt sich am Ende schrecklich gelangweilt) und Bücher, darunter Manfred Iwan Grunerts Roman "Amerikanskij Wolp" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 15.01.2010

Ausführlich beschäftigt sich im Feuilleton-Aufmacher Johannes Willms mit dem "Elaborat", in dem Christian Welzbacher dem Filmemacher Claude Lanzmann vorwarf, in seiner Biografie an einer Stelle nicht die Wahrheit geschrieben zu haben. Es geht dabei um den Rücktritt des Rektors der Freien Universität, Edwin Redslob, den Lanzmann unmittelbar ausgelöst haben will. Willms weist vor allem auf Redslobs Geschichte als eifriger Nazi-Mitläufer hin, die in seiner von just Christian Welzbacher geschriebenen Biografie nachzulesen sei: "Redslob, der einstige 'Reichskunstwart' der Weimarer Republik, hatte sich, wie sein Biograph Welzbacher materialreich nachweist, während des Dritten Reichs als umsichtiger, geschickter und allzeit bereitwilliger Mitläufer verhalten, dessen publizistisches Wirken von den Nazis als 'kriegswichtig' eingestuft wurde. Dieses Prädikat hatte er sich, wie Welzbacher nachweist, mit einer Reihe von Büchern zu kulturhistorischen Themen auch redlich verdient, die in Wort- und Themenwahl geschmeidig dem angesagten Ungeist angepasst waren." (In der Zeit online verteidigte Florian Illies in dieser Woche noch einmal Welzbachers Artikel.)

Weitere Artikel: Frank Nienhuysen berichtet von den Anstrengungen ehemaliger Sowjetrepubliken, mit ihrer Geschichte aufzuräumen. Gunnar Hermann meldet, dass auch weiterhin in Dänemark die Burka getragen werden darf. Skeptisch im Ton schildert Julia Amalia Heyer jüngste Versuche der Wirtschaftspolitik, neue Kriterien für "nationale Wellness" zu finden. Dietmar Schwarz, den designierten neuen Chef der Deutschen Oper Berlin, porträtiert Stephan Speicher. Wolfgang Schreiber skizziert dazu die Situation der Opern in Berlin. Laura Weissmüller schreibt zum Tod des US-Fotografen Dennis Stock. Ein kurzer Nachruf auf den Musiker Teddy Pendergrass kommt von Andrian Kreye. Ein weiterer Nachruf gilt dem bei Erdbeben auf Haiti ums Leben gekommenen Autor Georges Anglade. Auf der Literaturseite referiert Gustav Seibt einen Aufsatz von Günter Johannes Henz, in dem dieser darlegt, warum Theodor Schieders Ausgabe von Leopold von Rankes (von diesem in Wahrheit gar nicht verfassten) "Über die Epochen der neueren Geschichte" unbrauchbar ist.

Besprochen werden Rene Polleschs neue Volksbühnen-Inszenierung "Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!", Inszenierungen von Stücken von Thomas Jonigk und Mark Ravenhill in Düsseldorf, Christian Boltanskis Installation "Personnes" im Pariser Grand Palais, Kent Naganos Debüt als "Tannhäuser"-Dirigent in München und Paul Tordays Roman "Charlie Summers" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).