Heute in den Feuilletons

Wieder gegoogelt und so fort

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.10.2010. In der SPD gibt's noch Aufklärer! Die Welt veröffentlicht ein Papier von SPD-Laizisten, die eine Trennung von Staat und Religion fordern. Mit Twitter macht man vielleicht keine Revolution, meint Biz Stone in einem Blog des Atlantic Monthly, aber helfen kann es trotzdem. In der FR verteidigt die Theologin Regina Ammicht Quinn "den" Islam, den es aber gar nicht gibt. Die NZZ ist durch das neue Berlin spaziert und hat ein paar interessante Häuser entdeckt. Und die FAZ fragt: Flarf?

Welt, 20.10.2010

In der SPD gibt?s noch Aufklärer! Oder soll man sie Träumer nennen? Auf der Forumsseite dokumentiert die Welt das Papier eines "Arbeitskreises Laizistinnen und Laizisten in der SPD" mit zehn Forderungen nach einer klareren Trennung von Staat und Religion. Forderung 5: "Abschaffung von Steuerprivilegien - Die Einziehung der Kirchensteuern durch den Staat ist zu beenden." Die Website der mutigen Politiker funktioniert leider nicht mehr, hier der Google-Cache der Homepage. Die Rheinische Post berichtete bereits vorgestern, dass "SPD-Chef Sigmar Gabriel mit deutlicher Distanz" auf die Gründung der Gruppe Laizisten reagiert hat.

Und für die Magazinseite begleitet Michael Borgstede Max Raabe auf seiner ersten Israel-Tournee.

Aus den Blogs, 20.10.2010

(Via Rivva) Malcolm Gladwell hat im New Yorker vor längerem einen Artikel veröffentlicht, in dem er erklärte, warum eine Revolution nicht per Twitter kommen werde. Darauf antwortet Biz Stone in einem Blog des Atlantic Monthly mit der Geschichte Liu Xiaobos, für die Twitter wichtig war: "Following the twentieth anniversary of Tiananmen square and ensuing riots in Xinjiang that summer, Twitter is blocked in China. Nevertheless, clever citizens have devised ways around this block and continue to use Twitter. Professor of Internet Studies at Peking University, Hu Yong recently noted that, 'Twitter is the only place where people can talk freely about Liu's Nobel prize.' Yong further explains that, 'Twitter has become a powerful tool for Chinese citizens as they increasingly play a role in reporting local news.'"

Die Linie zwischen dem, was ein Buch ist, und dem "Buchähnlichen" (oder Libroiden?) wird immer dünner, schreibt Mathew Ingram in der Business Week: "In one of the latest examples, Borders (BGP) has joined forces with a service called Bookbrewer to provide a simple service that allows bloggers or anyone else with an idea to publish what is effectively an e-book and get it distributed through all the major e-book platforms."

Eine gewohnt großartige Fotostrecke , nein einen Foto-Essay, gibt es bei The Big Picture des Boston Globe, diesmal zu Freud und Leid von Marihuana.

TAZ, 20.10.2010

Detlef Kuhlbrodt unterhält sich mit Claas Danielsen, dem Leiter des Leipziger Dokumentarfilmfestivals, über die Schlachtung heiliger Tauben, Festivalkonkurrenz und die Rolles des Fernsehens: "Bis jetzt ist das öffentlich-rechtliche Fernsehen immer der wichtigste Partner für Dokumentarfilmer gewesen. Die Beteiligungen sind aber rückläufig. Die haben zwar einen großen Programmbedarf und gründen immer mehr kleine, digitale Sender, das hat aber dazu geführt, dass sie für das Gleiche mehr Rechte haben wollen. Und durch ihre monopolistische Stellung sitzen die Sender oft am längeren Hebel. Da muss man gegensteuern, auch im Interesse der Sender. Die haben ja nichts davon, wenn die Filmemacher und Produzenten pleitegehen."

Weiteres: Erich Rathfelder meldet ein Happy End im Streit um Angelina Jolies neuen Film in Bosnien. Doris Akrap war bei einer Lesung von Melinda Nadj Abonji im Literarischen Colloquium Berlin. Besprochen werden die beiden Berliner Opernpremieren von "Don Giovanni" und dem "Rheingold".

Diana Aust sammelt in einer Neuköllner Zahnarztpraxis Stimmen zur Integrationsdebatte. Im Schlagloch fasst Hilal Sezgin zusammen, was sie von der Integrationsdebatte im Land mitbekommen hat.

Und Tom.

NZZ, 20.10.2010

Richtig aufatmen konnte Jürgen Tietz beim Spaziergang durch Berlins neuere Architekturlandschaft, die sich von Blockbebauung, Traufhöhe und Natursteintapete befreit hat und mittlerweile richtig interessante Neubauten zu bieten habe. Zum Beipiel das L 40 von Roger Bundschuh und Cosima von Bonin am Rosa-Luxemburg-Platz: "Es ist ein Haus jenseits der normierten Lochfassade, ein Berliner Sonderfall, bei dem die Architekten mit den weit offenen und gewaltigen geschlossenen Flächen spielen, mit unterschiedlichen Höhen und einer wie auf Taille eingeschnittenen Gebäudemitte... Es sind polygonale Räume mit teilweise extrem langgestreckten, fensterlosen Wänden. Sie sollen Kunstsammlern genügend Raum für ihre Gemälde bieten."

Voll auf seine Kosten gekommen ist Peter Hagmann bei den Donaueschinger Musiktagen, einfach sensationell fand er etwa das Concerto grosso des Österreichers Georg Friedrich Haas für sechs Flügel und Orchester: "Die Besonderheit besteht hier darin, dass die Stimmung der sechs Flügel in mikrotonalen Abständen gegeneinander verschoben ist. Bei der Uraufführung unter der Leitung von Sylvain Cambreling hat einem das förmlich den Teppich unter den Füßen weggezogen. Da gab es jaulende Glissandi der Klaviere, denen die Streicher mit einer schnurgeraden Quinte opponierten, donnernde Erdbeben durch Tontrauben der Klaviere in tiefster Lage und jede Menge verschmutzter Töne."

Außerdem: Marion Löhndorf meldet, dass im Nachlass von Ted Hughes Gedichte über Sylvia Plaths letzte Lebenstage aufgetaucht sind. Georg-Friedrich Kühn schreibt einen Nachruf auf den Theaterregisseur Joachim Herz.

Besprochen werden Hofkunst-Ausstellung "Apelles am Fürstenhof" auf der Veste Coburg, Ian Burumas bisher nur auf Englisch erschienenes Buch über Demokratie und Religion "Taming the Gods" und Kati Martons Porträts ungarischer Juden "Die Flucht der Genies" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Berliner Zeitung, 20.10.2010

Der regimekritischen Moskauer Zeitung Nowaja Gazeta (bei der auch Anna Politkowskaja arbeitete) droht das Aus, berichtet Daria Afonina. Nach einem Artikel über eine rechtsextreme Partei wurde sie ausgerechnet der "faschistischen Propaganda" beschuldigt und verwarnt. Afonina zitiert den stellvertretenden Chefredakteur Sergej Sokolov: "Ihm zufolge gibt es derzeit eine verstärkte Tendenz, Medien wegen vermeintlicher Propaganda zu belangen. Dabei vertrete die Nowaja Gazeta seit vielen Jahren eine prinzipiell antifaschistische Position. Das Vorgehen der Beamten aus dem Ministerium für Kommunikation führt er 'entweder auf die Dummheit einzelner Menschen' zurück oder auf die Absicht, Medien systematisch für kritische Berichte zu bestrafen."

FR, 20.10.2010

Die Theologin Regina Ammicht Quinn verteidigt "den" Islam, den es gar nicht gebe, gegen Kritiker und erinnert daran, dass Muslime viele "unserer" Werte, die es eigentlich auch nicht gebe, teilen. Das Streichquartett stand im Mittelpunkt der Donaueschinger Musiktage, berichtet Hans-Klaus Jungheinrich, der brillante Konzerte des Arditti Quartets, des amerikanischen Jack Quartets und des Quatuor Diotima aus Frankreich hörte.

Besprochen werden die Ausstellung "Zukunft der Tradition - Tradition der Zukunft" mit alter und neuer Kunst der islamischen und arabischen Welt im Münchner Haus der Kunst, die Ausstellung "Das fremde Abendland? Orient begegnet Okzident von 1800 bis heute" im Badischen Landesmuseum in Karlsruhe, Hindemiths Oper "Cardillac" in Wien, ein Konzert des Ensemble L?Arpeggiata in Frankfurt und Barbara Aschenwalds Erzählband "Leichten Herzens" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 20.10.2010

Wie man aus Google Gedichte macht, lernt Christiane Rietz vom New Yorker Flarf-Kollektiv (hier ein Blog zum Thema). Zum Beispiel geht das nämlich so: "'Ich google zwei disparate Suchbegriffe, beispielsweise 'Latex' und 'Michael Jackson', sagt Sharon Mesmer, ebenfalls Flarf-Dichterin, studierte Philologin... 'Dann kopiere ich einige Textstücke aus der Ergebnisliste von Google in ein Word-Dokument und bearbeite sie, arrangiere um, denke mir Sätze aus. Das fertige Gedicht schicke ich an die Flarf-Mailingliste.' Dort wird es dann von den anderen Dichtern weiterbearbeitet, wieder gegoogelt und so fort." Der mitabgedruckte Auszug beginnt so: "What in the latex-rainbow-Monistat hell / is that big-haired pensioner doing / wriggling around to 'Don't Stop Till Get Enough' / in a skin-tight latex leotard?"

Weitere Artikel: Patrick Bahners belehrt Sigmar Gabriel darüber, dass alles, was derzeit in Stuttgart passiert, sehr genau zu Niklas Luhmanns Beschreibung der "Legitimation durch Verfahren" passt, weil darin durchaus Verfahren zur Delegitimierung korrekt zustandegekommener Beschlüsse vorgesehen sind. Die Pläne der Kuratorin Susanne Gaensheimers für die Bespielung des Deutschen Pavillons bei der nächsten Biennale stellt Swantje Karich vor: Es soll keine Umsetzung von Christoph Schlingensiefs ersten Skizzen geben, sondern eine "Hommage" an den Künstler. Daniel Haas erklärt, warum Fernsehserien in ihrer Suchtförmigkeit dem Kapitalismus strukturähnlich sind. Auf den Donaueschinger Musiktagen hat Gerhard R. Koch Neue und neueste Musik gehört. Über Pläne, an der Stelle des einstigen Lagers Zeithain, in dem dreißigtausend sowjetische Soldaten starben, eine Erinnerungsstätte zu errichten, informiert Arnold Bartetzky - und auch darüber, warum der Naturschutz dabei Probleme bereitet.

In der Glosse schildert Dirk Schümer die populistischen Orchesterstreichpläne des an die Macht gelangten Geert Wilders. Andreas Platthaus kann hoch erfreut vermelden, dass ein Entwurf zu einem Bilderbuch aufgetaucht ist, das Dr. Seuss nie vollendet und publiziert hat. Gerhard Rohde schreibt zum Tod des Theater- und Opernregisseurs Joachim Herz. Auf der Medienseite schildert Andrea Diener die hoch seltsamen Vorgänge in Stefan Niggemeiers Blogkommentaren (hier das Blog), die nur den Schluss zulassen, dass entweder Konstantin Neven DuMont oder jemand, der Zugang zu seinem Rechner hat, ganz schön durchgeknallt ist. 

Besprochen werden die Uraufführung von Martin Schläpfers "Forellenquintett"-Choreografie an der Oper am Rhein (nicht weniger als ein "Geniestreich" für Wiebke Hüster), Claus Guths Hamburger "Götterdämmerung" (Christian Wildhagen ist von der Inszenierung begeistert und fand das Philharmonische Staatsorchester unter aller Kanone), mehr oder minder gelungene Antikenstückinszenierungen in Bochum, Oliver Stones "Wall Street"-Fortsetzung "Geld schläft nie" (mehr), und Bücher, darunter Bragi Olafssons Roman "Der Botschafter" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 20.10.2010

Neben langweiliger "Anti-, Kopfschmerz- und Behauptungskunst" sah Till Briegleb bei der Kunstbiennale Manifesta in Murcia auch einige Werke, die sich durch eine Kombination aus Recherche und Humor auszeichnen: "Dort, wo sie anzutreffen ist, lohnt dann meist die Aufmerksamkeit. Wenn Wanda Raimundi-Ortiz' Kunstfigur 'Chuleta' mit der Schnauze einer Bronx-Schlampe das hochtrabende Geschwätz des Kunstsystems zerpflückt,



wenn Neil Beloufa nachts in Mali ein paar Männer von der Technik der Zukunft schwärmen lässt, als wäre es ihre Gegenwart (mehr), oder wenn Simon Fujiwara mit einer fiktiven Restaurationswerkstatt vom vertuschten Fund eines nabatäischen Riesenphallus erzählt (Interview), dann vergessen sich auch lange Sitzungen in staubigen Räumen vor Videos, die vor allem Wellen zeigen, damit aber die Welt erklären möchten."

Weitere Artikel: Heute mittag wird George Osborne die Sparpläne der neuen britischen Regierung verkünden: Besonders die Universitäten fürchten sich vor Kürzungen bis zu 80 Prozent, berichtet Johan Schloemann. Andrian Kreye schreibt zum Tod des amerikanischen Saxophonisten Marion Brown, Wolfgang Schreiber zum Tod des Opernregisseurs Joachim Herz.

Besprochen wird Oliver Stones Film "Wall Street: Geld schläft nicht" (im daneben stehenden Interview erklärt Oliver Stone, worum es ihm in all seinen Filmen geht: "Wie kann ich ein Mann sein?"), die Inszenierung von Kathrin Rögglas Stück "Die Beteiligten" in Wien, einige CDs, die Ausstellung "Teure Köpfe. Lisiewsky. Hofmaler in Anhalt und Mecklenburg" in Schloss Mosigkau bei Dessau, Guy Cassiers' Inszenierung des "Rheingolds" an der Berliner Staatsoper und Bücher, darunter Uwe Wesels "Geschichte des Rechts in Europa" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).