Heute in den Feuilletons

Ein von ungezählten Menschen geteiltes Glück

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.02.2011. Die SZ beobachtet glückstrunkene Ägypter auf dem Tahrir-Platz: "Nach all dem Tränengas, den Gummigeschossen und den Wasserwerfern haben wir es geschafft!'" Allerdings fragt sie auch, wann denn der Kinderfaschismus im Prenzlauer Berg überwunden wird. Die FR bringt Jafar Panahis Offenen Brief an die Berlinale. Im taz-Interview spricht Regisseur Andres Veiel über seinen heute gezeigten Film "Wer, wenn nicht wir", über die RAF und den Treibsatz der Geschichte. Außerdem werden die Neokonservativen rehabilitiert.  In der Welt weist Paul Lendvai darauf hin, dass in Ungarn vor allem die jungen Akademiker antisemitisch sind. Die NZZ besucht das Newark des Philipp Roth.

SZ, 12.02.2011

Sie haben es geschafft die mutigen Ägypter, Mubarak ist zurückgetreten! Tomas Avenarius berichtet auf der Seite 3 vom Tahrir-Platz: "Es gibt Momente, da werden alle Menschen eins. Dieser Aufschrei am Freitagabend ist so ein Augenblick - ein Schreien aus Hunderttausenden Kehlen, ein von ungezählten Menschen geteiltes Glück."

Im Feuilleton nimmt Thomas Urban den Wahlerfolg einer schlesischen Autonomiebewegung in Polen zum Anlass, um die Unterschiede zwischen dem deutschen und dem polnischen Schlesienbegriff zu erläutern. Alexander Menden berichtet über das Projekt "Map your Voice" der British Library, die so eine "Art Aussprache-Weltkarte" des Englischen erstellt. Andrian Kreye referiert die epische Reportage von Lawrence Wright im New Yorker über Oscar-Gewinner und Ex-Scientologymitglied Paul Haggis. Den Ursprung des Wörtchens "okay" in einer Ausgabe der Boston Morning Post vom 23.03.1839 hat Alex Rühle recherchiert. Andreas Kühne gratuliert dem Künstler Nikolaus Lang zum 70. Geburtstag.

Im Aufmacher beklagt Gustav Seibt den "Kinderfaschismus" im Prenzlauer Berg - "ist natürlich eine bösartige Übertreibung, doch hat das Wort in seiner Doppelseitigkeit - Tyrannis über Kinder und Tyrannei von Kindern - derzeit durchaus einen Beigeschmack von Wahrheit". Jörg Häntzschel hat sich das von Frank Gehry entworfene neue Konzerthaus in Miami angesehen. Franziska Schwarz stellt die Website The Digital Beyond vor, die Ideen und Konzepte für die digitalen Nachlass nach dem eigenen Ableben sammelt. Stephan Speicher hat sich die Abschlussvorlesung des Pädagogen Heinz-Elmar Tenorth angehört. "Junges politisches Kino" hat Anke Sterneborg in der Berlinale-Sektion "Perspektive Deutscher Film" gesehen.

In der SZ am Wochenende erzählt Heribert Prantl die Geschichte der Gleichberechtigung in Deutschland und kommt zu dem Schluss: "Ohne Gesetze kommt sie nicht voran. Und ohne Quoten bleibt das Gleichberechtigungsrecht unerlöst." Nicolas Richter und Stefan Ulrich berichtet auf zwei Seiten über einen Skandal aus der Welt der Kunstbörsen: Spediteure des Auktionshauses Drouot sollen in den Haushalten Verstorbener immerzu gestohlen haben. Heiko Flottau erzählt die Geschichte der Muslimbrüder. Und Andre Heller erklärt im Interview: "Das Ego schlägt alles kaputt."

Besprochen werden die Ausstellung "Move" im Münchner Haus der Kunst, der Wettbewerbsauftakt der Berlinale und Bücher, darunter eines von Anita Albus über Marcel Proust (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 12.02.2011

Regisseur Andres Veiel spricht im Interview mit Cristina Nord und Stefan Reinecke über seinen - im Wettbewerb der Berlinale laufenden - RAF-Film "Wer wenn nicht wir", über Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Bernward Vesper, das Private und Politische: "Das kann ich nicht trennen. Gerade bei Baader und Ensslin nicht. Die waren die Kernzelle der RAF: Ensslin hat das Projekt, aber sie braucht jemanden, der es umsetzt. Das ist Baader. Wahrscheinlich werden mir Leute vorwerfen, dass die Liebesgeschichte die Politik überdeckt, dass sie bloß kulinarisch ist. Bullshit! Ohne diese Liebesgeschichte fehlt der Treibsatz für die Kraft und das Charisma dieser beiden. Es war nicht nur Baader, es war nicht nur Ensslin, es waren beide zusammen. Man kann die RAF nicht ohne diese Liebesgeschichte verstehen."

Weiteres: Jochen Schmidt erzählt wie immer sehr schön von einem Besuch bei der von ihm sehr verehrten Autorin Karen Duve: "Ich habe Panik, wie einer der Männer aus ihren Büchern zu wirken, zum Beispiel Rüdiger in 'Taxi', der immer bunte Suhrkamp-Bücher liest und es versteht, jedes Gespräch darauf zu bringen, wie gemein die Frauen sind." Stephane Hessel erklärt im Interview über sein Buch "Empört Euch!": "Ein langes Leben genügt, um zu erfahren, dass das Schlimme überwunden werden kann." Claudia Pinl antwortet auf Bascha Mikas Thesen zur "Feigheit der Frauen". Besprochen wird James Blakes Debütalbum.

Auf der Meinungsseite revidiert Deniz Yücel zumindest teilweise das schelle und meist vernichtende Urteil über die Nahostpolitik der amerikanischen Neokonservativen: "Erscheint ihre Zuversicht, ein Regimewechsel in einem arabischen Land würde auf die Region ausstrahlen, nicht plötzlich plausibel? Und sind die atemberaubenden Entwicklungen umgekehrt keine Ohrfeige für alle, die aus Eigennutz, Einfältigkeit oder Feigheit jede Arschkriecherei zum 'kritischen Dialog' verklärten? Strafen sie nicht diejenigen Lügen, die mit der Ablehnung ihres bewaffneten Exports auch bezweifelten, ob Demokratie im Nahen Osten machbar und erwünscht wäre? "

Yoani Sanchez, Bloggerin in Havanna, glaubt nicht, dass der revolutionäre Funke bald auf die Kubaner überspringen wird: "Sie mögen die Illusion, sich eines Abends in einem Land ohne Bürgerrechte schlafen zu legen und morgens in einem demokratischen Kuba aufzuwachen. Wenn sich die Zeit des Ertragens zu lange hinzieht, beginnen sie, das Wort 'auswandern' durchzukonjugieren, oder entscheiden sich für die Silben des Wortes 'stillhalten'."

Und Tom.

Welt, 12.02.2011

Wie unter einer Käseglocke wurden antisemitische Ressentiments der Ungarn in fünfzig Jahren Kommunismus konserviert, schreibt der österreichisch-ungarische Publizist Paul Lendvai in der Literarischen Welt und zitiert höchst beunruhigende Zahlen: "Fast jeder Vierte der 18-bis-29-Jährigen und beinahe jeder Fünfte der 30-bis 39-Jährigen stimmte für die rechtsextreme Jobbik-Partei, die mit 47 Abgeordneten im Parlament vertreten ist. Man schätzt, dass rund 40 Prozent der Geschichtsstudenten antisemitische Ansichten vertreten. Das unabhängige Forschungsinstitut 'Political Capital' bestätigte dieser Tage eine 'im internationalen Maßstab beispiellose Steigerung' der Zahl der Sympathisanten der extremen Rechten, eine Verdoppelung von 10 auf 21 Prozent zwischen 2002 und 2009."

Weitere Artikel: Ulrich Weinzierl schreibt über das Vater-Sohn-Verhältnis zwischen Francois und Luc Bondy. Besprochen werde unter anderem Colson Whiteheads Roman "Der letzte Sommer auf Long Island", Briefwechsel von Hermann Broch, Javier Cercas' Buch "Anatomie eines Augenblicks" über den franquistischen Putschversuch vor dreißig Jahren und Stefan Meinings Studie "Eine Moschee in Deutschland".

Im Feuilleton unterhält sich Josef Engels mit den Filmemacherinnen Yasemin und Nesrin Samderli über ihre auf der Berlinale laufende Integrationskomödie "Almanya" und die Schwierigkeiten der Finanzierung: "'Zu leicht und zu heiter' - das haben wir oft gehört. Es ist viel einfacher, die dramatischen Stoffe zu realisieren. Weil die Financiers dann meinen, sie würden einen entwicklungshelfermäßigen Auftrag erfüllen."

Weitere Artikel: Richard Herzinger sucht nach intellektuellen Reaktionen auf die ägyptische Revolution und stößt vor allem auf Tariq Ramadans Tirade in der FR und ein trautes Gespräch zwischen Ramadan und Slavoj Zizek auf Al Jazeera und einige Reaktionen von Neocons in den USA. Marko Martin erinnert an Hans Habe, der vor hundert Jahren geboren wurde. Eckhard Fuhr meldet, dass Karsten-Uwe Heyes Buch "Vom Glück nur ein Schatten" fürs ZDF verfilmt wird. Elmar Krekeler führt Berlinale-Tagebuch.

FR, 12.02.2011

Die FR dokumentiert den Offenen Brief des im Iran inhaftierten Jafar Panahi an die Berlinale: "Die Wirklichkeit ist, dass mir ohne Prozess seit fünf Jahren das Filmemachen untersagt wird. Jetzt wurde ich offiziell verurteilt und darf auch in den nächsten 20 Jahren keine Filme realisieren. Trotzdem werde ich in meiner Vorstellung weiterhin meine Träume in Filme übersetzen. Als sozialkritischer Filmemacher muss ich mich damit abfinden, die alltäglichen Probleme und Sorgen meines Volkes nicht mehr zeigen zu können. Aber ich werde nicht aufhören, davon zu träumen, dass es in 20 Jahren keines dieser Probleme mehr geben wird und ich dann, wenn ich wieder die Möglichkeit dazu habe, Filme über den Frieden und den Wohlstand in meinem Land machen werde."

Marie-Sophie Adeoso unterhält sich mit den Autoren Matthias Borngrebe, Marcel Maas und Donata Rigg über das Schreiben, den Literaturbetrieb und die Kritik. "Maas: Ach, die Kritik. Bei mir läuft es immer gleich ab. Es sind immer dieselben Schlagworte, die werden dann so rumgewirbelt. ... Das sind Dinge, die man positiv oder negativ deuten kann, wie: Noch ein Roman über Drogen und Musik - aber auf eine andere Art und Weise. Die negativen Kritiken lassen das Aber weg. "

Weiteres: Christian Thomas, für den Mubarak noch im Amt ist, konstatiert nach dem geplatzten Live-Rücktritt Realitätsverlust beim vorschnellen Fernsehen. Besprochen werden die laut Erik Franzen "recht naiv angelegte" Schau "Orientalismus" in der Hypo-Kunsthalle München, Sebastian Hartmanns Inszenierung der "Pension Schöller" in Leipzig, Bruckner-Konzerte mit den Münchner Philharmonikern unter Christian Thielemann in Frankfurt, Calixto Bieitos Inszenierung von Mauricio Kagels Liederoper "Aus Deutschland" und zwei Bücher über den politischen Islam in Deutschland (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

NZZ, 12.02.2011

In Literatur und Kunst besucht Thomas David Newark, Philip Roth' Geburtsstadt und Heimat von Alexander Portnoy, Nathan Zuckerman und Bucky Cantor: "Die Newark Public Library steht Ende 2010 vor existenzbedrohenden Kürzungen. Auf dem breiten Trottoir davor beobachtet der Besucher einen farbigen, mit einer dunklen Camouflage-Jacke bekleideten Burschen, der minutenlang auf einen Pappkarton einboxt. In 'Hobby's Delicatessen', einem von Newarks letzten jüdischen Restaurants, hängen Dutzende der Salamis, die 'Hobby's' seit Jahren an die amerikanischen Soldaten im Irak und in Afghanistan verschickt."

Weiteres: Navid Kermani stößt in Rolf Dieter Brinkmanns Aufzeichnungen aus Rom auf die seltsamsten Sehnsüchte: "'Träume von Grünkohl, Pinkelwurst, Schweinerippchen und Salzkartoffeln, vorher eine Sternchennudelsuppe, nachher ein Steinhäger.'" Peter Bürger betrachtet eingehend Sebastiano del Piombos Gemälde "Auferweckung des Lazarus". Michael Brenner schildert, wie schwer es die jüdischen Gemeinden nach dem Krieg in Deutschland hatten, von Israel akzeptiert zu werden.

Im Feuilleton liest Stefan Breuer noch einmal Max Webers neu edierte Rechtssoziologie. Peter Hagmann informiert über die strukturellen Veränderungen beim Berner Symphonieorchester. Seinen "digitalen Alltag" schildert heute der indische Schrifsteller Kiran Nagarkar.

Besprochen werden die große Fotografie-Ausstellung "Stieglitz, Steichen, Strand" im Metropolitan Museum in New York, Lucy Prebbles Wirtschaftsstück "Enron" am Theater Basel, Kerstin Deckers Biografie "Lou Andreas-Salome" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 12.02.2011

Als bereits von den Ereignissen am gestrigen späten Nachmittag überrollt erweist sich das Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Dietmar Herz, der sich mit Hannes Hintermeier über die rechtlichen Hintergründe von Mubaraks vorgestriger Rücktrittsweigerung unterhält. Aktuellere Beiträge und Stimmen zu Mubaraks Rücktritt sammelt das Blog "West-östliches Sofa" von Don Alphonso.

Eindrücke von der Berlinale: Verena Lueken hat mit "Margin Call" (mehr) und "El Premio" (mehr - Perlentaucherkritik hier) einen starken Wettbewerbsauftakt gesehen. Sehr in Ordnung findet es Andreas Platthaus, dass Jose Padilhas "Tropa de Elite 2", das Sequel des überraschenden Berlinalesiegers von 2008, nicht im Wettbewerb, sondern im Panorama gelandet ist: "Neue ästhetische Mittel ... gibt es nicht".

Weitere Artikel: Die Ankündigung von Bloomsbury, das internationale Programm künftig global zentralisiert zu konzipieren, löst bei Felicitas von Lovenberg Sorge um die Zukunft des Berlin Verlags aus. Die rotstiftbedingte Auflösung der "hochqualifizierten Redaktion" des "Allgemeinen Künstlerlexikons" stößt auf Britta Sachs' energische Kritik. Über die Hochbegabtenförderung des Tanzfestivals Prix de Lausanne berichtet Wiebke Hüster. In Halbedel's Gasthaus zu Bonn gibt sich Jürgen Dollase "zwischen der Lasagne von Apfel und Roter Bete, der speckigen Note des Pilzstrudels und Berberitzen" dem "einen oder anderen kleinen Reiz" hin. Für die letzte Seite begibt sich Marcus Jauer in die Parallelwelt der Beyblade-Spieler - dabei handelt es sich um ein aus einem Manga abgeleitetes Spiel mit kleinen Kreiseln.

Für Bilder und Zeiten hat Bernd Eilert den 1994 von der Walt Disney Company gegründeten Ort Celebration in Südflorida besucht. Gerhard Rohde erkundet Frankreichs Opernlandschaft. Johannes Warda erzählt von den Tagungen amerikanischer Germanisten mit ihren Kollegen aus der DDR, die von 1975 bis 1990 jedes Jahr in New Hampshire stattfanden. Und Colin Firth plaudert im Interview über seine Platzangst und die Schwierigkeit, einen Stotterer zu spielen.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Frankfurter Farbdias von 1936 - 1943 am Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, Bücher, darunter eine Hörspielbearbeitung eines Kurzgeschichtenbands von David Foster Wallace (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr), eine CD-Box mit sämtlichen italienischen Aufnahmen Caterina Valentes zwischen 1959 und 1966, eine CD mit Liedern von Richard Strauss, gesungen von Diana Damrau ("Wie jubelt und leuchtet diese Stimme! Schlank und klar und allezeit wahrhaftig klingt die Damrau, auch, wenn sie aufdreht. Man hat den Eindruck, nicht sie singt das Lied, es ist umgekehrt: Das Lied singt mit ihr", schwärmt Eleonore Büning) und eine CD der "klugen Songwriterin" P.J. Harvey, aus dem es auch schon eine Videoauskopplung gibt:



In der Frankfurter Anthologie stellt Peter von Matt ein Gedicht Peter Huchels vor:

"April 63

Aufblickend vom Hauklotz
im leichten Regen,
das Beil in der Hand,
seh ich dort oben im breiten Geäst
fünf junge Eichelhäher.
..."