Heute in den Feuilletons

Dioxin in den Eiern

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.03.2011. Die NZZ sieht zu, wie Bruno Ganz von innen heraus explodiert. Im Spiegel fragt Monika Maron, warum die Erben der Aufklärung so abgeklärt sind. In der Welt muss Michael Kleeberg lange suchen, aber dann findet er doch noch einen guten französischen Roman. Die Berliner Zeitung verteidigt die German Angst. Haben Ebooks in Deutschlald so wenig Erfolg, weil sie soviele Nachteile haben? Laut SZ und Welt solidarisieren sich in Abu Dhabi Künstler mit Arbeitern gegen das Guggenheim Museum.

NZZ, 19.03.2011

In Literatur und Kunst versucht Stefan Zweifel, dem Geheimnis von Bruno Ganz, der am Dienstag siebzig wird, auf die Spur zu kommen: "Da sitzt dieses Ich, Bruno Ganz, und es ist, als senkte sich eine Taucherglocke über das Zimmer, als würde alles stille Konzentration. Zwischen den Fragen zieht er sich immer wieder zurück, auf Inseln des Schweigens. Dreißig Sekunden. Eine Minute. Bis er, bereit, sein Gesicht von innen heraus explodieren lässt, wie vielleicht damals, als er, ein Bub noch, auf einem Heuwagen lag und, nach später Ernte, die Düfte der Dämmerung atmete, das Gesicht voll Glück - 'da dachte ich, das muss jetzt die Welt erfahren und mein Gesicht sehen'."

Weiteres: Martin Walder beschreibt Bruno Ganz in verschiedenen Rollen. In den Bildansichten erzählt die Autorin Judith Kuckart von ihrem Telefonat mit Gerhard Richter: Sie wollte sein Bild "Ema (Akt auf einer Treppe)" als Cover für ihren Roman "Die schöne Frau". Auf zwei Seiten sind unter der Überschrift "E Maie Baasler Bängg" Gedichte oder Lieder zur Basler Fasnacht abgedruckt, die dem Nichtschweizer verschlossen bleiben. Besprochen werden Bücher, darunter Jack Kerouacs Roman "On the Road" in der Urfassung (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Fürs Feuilleton liest Andrea Köhler die zahlreichen Memoiren über den Tod eines geliebten Menschen, die in jüngster Zeit in den USA erschienen sind und stellt fest: Trauer wird immer mehr privatisiert und zugleich pathologisiert. "Wir leben mit einem bemerkenswerten Paradox: Der Tod ist auf allen Kanälen, und zugleich wird der Trauernde meistens mit großer Beklemmung bedacht. Trauer- und Sterbebücher füllen Regale und Bestsellerlisten, während die Psychiatrie die Gefühle, die in diesen beschrieben werden, ins pathologische Fach transferiert. Immer mehr Menschen sterben sozusagen im Scheinwerferlicht, doch gibt es - von der Begräbniszeremonie einmal abgesehen - in den westlich aufgeklärten Gesellschaften keine rituellen Formen mehr, dem Schmerz der Hinterbliebenen zu begegnen."

Weitere Artikel: Rudolf Bussmann schildert seinen digitalen Alltag. In Russland werden Forderungen laut, den mumifizierten Körper Lenins endlich zu beerdigen, berichtet Ulrich M. Schmid. Bernd Flessner erzählt, welche Hoffnungen die Japaner in den fünfziger und sechziger Jahren in die friedliche Nutzung der Atomkraft setzten.

Spiegel Online, 19.03.2011

In ihrem Spiegel-Essay "Wie hast du's mit der Religion?", der jetzt online steht, wendet sich Monika Maron an die Fraktion der "Toleranten" und fragt, "warum die Grünen und die SPD, deren Mitglieder und Anhängerschaft des religiösen Fundamentalismus dieser oder jener Art kaum verdächtig sind, kleinstadtartige Riesenmoscheen und die Kopftuchpflicht für kleine Mädchen zu Zeichen aufklärerischer Toleranz erheben; warum der sich als links verstehende Journalismus eine geschlossene Kampffront bildet für das Eindringen einer vormodernen Religion mit ihrem reaktionären Frauenbild, ihrer Intoleranz gegenüber anderen Religionen und einem archaischen Rechtssystem. Warum stehen diese Wächter der richtigen Gesinnung nicht auf der Seite der Säkularen aller Konfessionen? Warum verteidigen sie islamische Rechte gegen europäische Werte und nicht umgekehrt?"

Welt, 19.03.2011

Michael Kleeberg bringt für die Literarische Welt einen hübschen Essay über die französische Gegenwartsliteratur mit eingebauter Antwort einer französischen Literaturwissenschaftlerin (die Kleeberg wohl erfunden hat) über die deutsche Literatur. In Blüte stehen sie beide nicht, aber ein paar Ausnahmen gibt?s dann doch, zu denen Kleeberg Mathias Enards Roman "Zone" zählt: "Ich komme gar nicht mehr raus aus dem Staunen. Ein französischer Roman, der atmet, der ein Volumen hat, der aus der bourgeoisen Enge der franko-französischen Perspektive und Personenkonstellationen ausbricht und den Horror unserer schmutzigen Welt aus Krieg, Folter, Massaker, sexueller und finanzieller Gier einfängt, der die Geschäftemacherei, auf der die politischen Verwerfungen basieren, rücksichtslos kenntlich macht. Ein Roman, der, wie die Italiener das nennen: 'sofferto' ist. Erlitten."

Weitere Artikel in einer brillanten Ausgabe der Literarischen Welt: Henryk Broder schildert in seiner Kolumne die eigentümliche deutsche Betroffenheit von der japanischen Katastrophe ("Zwar sind das Erdbeben und der Tsunami in neuntausend Kilometer Entfernung passiert, aber eigentlich galten sie uns - in Boltenhagen, Kleinmachnow und Wolfratshausen. Wie schon das Ozonloch, das Waldsterben und das Dioxin in den Eiern"). Andrea Seibel unterhält sich mit Josef Reichholf über Darwin und Schönheit (denn sein neueste Buch heißt "Der Ursprung der Schönheit"). Wolfgang Sofsky stellt drei neue Bücher vor, die sich mit dem "Bösen" befassen, unter anderem Eugen Sorgs Reportageband "Die Lust am Bösen". Besprochen wird außerdem Clemens J. Setz' nun ausgezeichneter Erzählungsband "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes" (mehr hier).

Fürs Feuilleton erzählt Alan Posener, wie die italienische Botschaft den 150. Geburtstag des geeinten Italien beging. Recht böse kommentiert Stefan Koldehoff einen Aufruf von Künstlern, nicht beim Guggenheim in Abu Dhabi mitzumachen, sofern die Arbeitsbedingungen der Bauarbeiter in dem Land nicht verbessert werden - der Kunstmarkt ist ihm zu geldgeil und opportunistisch für derartige Aufwallungen. Außerdem geht Wieland Freund auf Springer-Kosten mit dem Autor Colson Whitehead essen. Und Elmar Krekeler berichtet, dass er das Ebook auf der Leipziger Buchmesse trotz anderslautender Beteuerungen des Börsenvereins nach wie vor nicht recht gesichtet hat.

Weitere Medien, 19.03.2011

Der Große tanzt gut, aber der Kleine...


Berliner Zeitung, 19.03.2011

In einem Magazin-Essay möchte Arno Widmann der "German Angst" doch noch etwas Gutes abzugewinnen: "Die mag ein lächerliches Gefühl sein. Aber sie hat uns geholfen, wach zu sein gegenüber der Tatsache der unbekannten Unbekannten. Eine Gesellschaft, die ihnen nicht Rechnung trägt, bringt sich um. Wir sind nicht darauf geeicht, mit dem unbekannten Unbekannten zu rechnen. Niemand ist das. Gerade darum darf man es nicht darauf ankommen lassen."
Stichwörter: German Angst, Widmann, Arno

FR, 19.03.2011

Über die Philosophie des Zufälligen, wie sie in Japan erneut demonstriert wurde, denkt Christian Thomas nach. Judith von Sternburg ärgert sich über den Leipziger Buchpreisfür Clemens J. Setz. Über sehr unterschiedliche Wertverlaufs-Einschätzungen für die Aktien deutscher Kraftwerksbetreiber informiert Hans-Jürgen Linke in einer Times Mager. Vor einem Konzert in der Alten Oper stellt Georg Rudiger den seit zwanzig Jahren existierenden Balthasar-Neumann-Chor vor. Von einer Frankfurter Lesung Colson Whiteheads aus seinem Roman "Der letzte Sommer auf Long Island" berichtet Christoph Schröder.

Besprochen werden die Uraufführung der Oper "Discount Diaspora" mit einem Feridun-Zaimoglu-Libretto in der Neuköllner Oper Berlin, Clemens Schönborns "Kameliendame"-Inszenierung mit Sophie Rois in der Titelrolle an der Berliner Volksbühne, Willy Pramls Inszenierung des "Zerbrochnen Krugs" in der Frankfurter Naxoshalle, die Nelly-Sachs-Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt und Richard Price' nach dem Kritikererfolg von "Cash" neu aufgelegter älterer Roman "Clockers" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 19.03.2011

Christian Aichner informiert über die immer noch nicht sehr massiven Aktivitäten deutscher Verleger auf dem Ebook-Markt. Liegt's an den Nachteilen? "Zum komfortablen Lesen ist zunächst ein E-Reader nötig, die immer noch mehr als 100 Euro kosten. Zudem verhindert der zumeist zum Einsatz kommende Kopierschutz die Weitergabe oder den Verleih von E-Books an Freunde und Bekannte. Digitale 1:1-Kopien von gedruckten Bücher können außerdem nur in ein PC-Bücherregal gestellt werden und sind damit keineswegs für die Ewigkeit gemacht. Trotz der Einschränkungen sind E-Books nur wenige Euro günstiger als die gedruckten Ausgaben."

Zeit für eine Wiederentdeckung: Nach vierzig Jahren wird das Album "I'm the One" der Avantgardejazzerin Annette Peacock wiederveröffentlicht. Tim Caspar Boehme stellt die bis heute der breiteren Öffentlichkeit unbekannte Musikerin vor: "Als in den späten Sechzigern die Grenzlinien zwischen Jazz, Rock und elektronischer Musik brüchig wurden, mischte die amerikanische Musikerin Annette Peacock ganz vorne mit."

Weitere Artikel: In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne porträtiert Nina Apin den dänischen Pädagogik-Klassiker Jesper Juul. Thomas Mauch stellt das für ein Jahr bereits durchfinanzierte Projekt einer Stuttgarter Online-Wochenzeitung des Titels "Kontext" vor. Und taz-Geschäftsführer Karl-Heinz Ruch erklärt, warum die taz die Zeitung im westlich-süddeutschen Teil ihrer Auflage als Wochenendbeilage drucken wird.

Besprochen werden jede Menge Bücher, von Aisha Franz' Comic "Alien" bis zu Hans Falladas in der ursprünglichen Fassung neu erschienenem Roman "Jeder stirbt für sich allein" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 19.03.2011

In Abu Dhabi solidarisieren sich Künstler mit den miserabel bezahlten Bauarbeitern der dortigen Guggenheim-Filiale. Auch andere Institutionen vor Ort verdienen jede Kritik, hier aber hat man sich, findet Catrin Lorch, schon das richtige Symbol ausgesucht: "'Guggenheim interessiert sich doch überhaupt nicht wirklich für die lokale Szene', sagt Nav Haq vom Kunstzentrum Arnolfini in Bristol, der mit 'Marker' ein Projekt über Graswurzel-Kunstprojekte in der Region kuratiert. 'Guggenheim sammelt bekannte Namen ein, als Pflichtprogramm. Eine Kulisse für die in New York geplanten Wander-Schauen.'"

Weitere Artikel: In seiner Kairoer Kolumne unterhält sich Khalid al-Khamissi heute im Cafe mit einem Taxifahrer über die Volksabstimmung zur Verfassungsänderung in Ägypten. Gottfried Knapp besucht und besichtigt das Museum mit dem Panorama der Berg-Isel-Schlacht in Innsbruck. In Großbritannien treten die erwartbaren Folgen der Studienreform, wie Alexander Menden berichtet, nun ein: Die Universitäten reizen das heraufgesetzte Studiengebühren-Limit aus. Lothar Müller verbindet seinen Bericht von der Verleihung des Alfred-Kerr-Preises an die Literaturkritikerin Ina Hartwig mit einer scharfen Attacke auf den Spiegel-Autor Georg Diez ("Blogger mit Pauschale und Pensionsanspruch", nennt ihn Müller), der so gern über den stipendien- und literaturpreisgestützten Betrieb spottet.

Was er über Roman Polanskis aktuelles Filmprojekt "Carnage" (nach Yasmina Rezas Stück "Gott des Gemetzels") in Erfahrung bringen konnte, gibt Tobias Kniebe an die Leserschaft weiter. Jens Schneider vermeldet, dass es mit der Fertigstellung der Elbphilharmonie jetzt noch einmal länger dauert, wie lang genau, weiß aber keiner. Vorabgedruckt wird ein Essay der Buchpreisträgerin Melinda Nadj Abonji über "kindliche Integrationsversuche". Helmut Mauro gratuliert dem Pianisten Leonardo Gelber zum Siebzigsten.

Sie SZ am Wochenende befasst sich mit den Dreißigjährigen und ihrer Welt. Dazu gehört auch der Bericht von einem Gespräch, in dem Hans Magnus Enzensberger über "Ignoranz" nachdenkt.

Besprochen werden die Amsterdamer Uraufführung von Michael van der Aas "Close-Up" mit Sol Gabetta als Solistin am Cello, Clemens Schönborns "Kameliendame" mit Sophie Rois an der Berliner Volksbühne, eine Aufführung von Feridun Zaimoglus "Discount Diaspora" an der Neuköllner Oper in Berlin und das neue Strokes-Album "Angles".

FAZ, 19.03.2011

In Bilder und Zeiten porträtiert Sonja Hartwig den rastlosen Psychologen Kazim Erdogan, der den Verein "Aufbruch Neukölln" (mehr hier und hier) gegründet hat, die erste türkische Männergruppe: "Damals fingen Neuköllner Väter an, über das zu reden, was man in ihnen sieht und was viele auch lange gewesen waren: Paschas und Patriarchen, Väter, die nicht mit ihren Söhnen spielen und ihre Töchter zum Kopftuch zwingen, Schwächlinge nach der Scheidung."

Den Aufmacher widmet Hubert Spiegel der Zukunft der Klassik Stiftung Weimar und dem Streit um ihren Präsidenten Hellmut Seemann. Die 24-jährige Literaturwissenschaftlerin Thalia Gigerenzer erzählt (hier im Original), wie sie einige Monate lang muslimischen Mädchen in Delhis Stadtteil Nizamuddin Basti Englischunterricht gab. Andreas Platthaus unterhält sich mit dem japanischen Anime-Regisseur Keiichi Hara.

Im Feuilleton erklärt (hier im Original) Ian Buruma die ganz eigene Art der Japaner, mit Katastrophen umzugehen: "Die Vorstellung, dass nichts von Bestand ist, prägt die Kultur auf besondere Weise." Frank Schirrmacher hat durch einen Bericht des Japan-Korrespondenten Gerd Anhalt im heute-journal von vorgestern verstanden, dass die Zeit des Übergangs vorbei ist. Auf der letzten Seite notieren Auslandskorrespondenten der FAZ die Reaktionen in anderen Ländern auf die japanische Katastrophe. Oliver Jungen berichtet über die Jubiläumsgala für Amnesty International, mit der die Lit.Cologne eröffnete. In Russland werden Stimmen laut, die Gaddafi als "Pfundskerl" und Bolschewiken loben, meldet Kerstin Holm in der Leitglosse. Jürgen Dollase erträumt sich ein Restaurant, "Monasterio"!, das ihn zufrieden stellt. Und Kerstin Holm durchlitt einen Hausmusikabend bei Wladimir Martynow mit Musikfreunden, "die seine Überzeugung teilen, dass die Epoche originellen Schöpfertums in der Kunst insgesamt, also auch in der Musik, vorbei sei, weshalb nur lächerliche Figuren noch ernsthaft komponierten".

Besprochen werden Herbert Grönemeyers neue CD "Schiffsverkehr" ("ernst und würdevoll", lobt der Dichter Michael Lentz), Olivier Pys Stück "Adagio" über den Tod Francois Mitterands im Pariser Odeon und Bücher, darunter Thomas Harlans Buch "Veit" und Per Olov Enquists Roman "Die Ausgelieferten" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Schallplatten- und Phonoseite geht's um neue CDs von den Strokes, The Third Eye Foundation und Chaim sowie eine Aufnahme dreier Violinsonaten von Grieg, Bartok und Strauss mit der Geigerin Vilde Frang und eine Aufnahme von "Manto und Madrigals" mit dem Geiger und Dirigenten Thomas Zehetmair.

In der Frankfurter Anthologie stellt Gert Ueding ein Gedicht von Rainer Maria Rilke vor:

"Die Fensterrose

Da drin: das träge Treten ihrer Tatzen
macht eine Stille, die dich fast verwirrt;
und wie dann plötzlich eine von den Katzen
den Blick an ihr, der hin und wieder irrt,
gewaltsam in ihr großes Auge nimmt, -
..."