Heute in den Feuilletons

Verfügungsmasse einer technoiden Phantasie

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.06.2012. Chinesische Intellektuelle sind zu staatstreu, meint Wei Zhang in der NZZ. In der Welt erzählt "Lyndon B. Johnson"-Biograf Robert Caro, was seine Zuhörer nicht hören wollen. Die taz porträtiert den chinesischen Künstler Yan Jun. Hätten die Spanier 1492 nicht die Mauren und Juden vertrieben, wüssten sie heute, was Arbeit ist, meint die SZ. Blogger Matthias Kuentzel findet es beschämend, wie  wenig Solidarität der iranische Rapper Shahin Najafi hierzulande erfährt. Reinhard Karger versichert in der FAZ den Künstlern: Der Bürger ist grundsätzlich fair.

NZZ, 01.06.2012

Bei der Entwicklung Chinas sollte man sich keine großen Hoffnungen auf kritische Impulse von Intellektuellen machen, rät Wei Zhang. Dafür seien sie zu sehr von Konfuzius geprägt: "Dieser etablierte die Idee, dass man zuerst gut lernen solle, um sich dann im Zuge einer strengen Prüfung für eine Beamtenstelle bewerben zu können, woraufhin man dem Staat dienen dürfe. Diesem Motto folgen bis heute noch viele chinesische Intellektuelle."

Christian Saehrendt berichtet vom Documenta-Fieber, dass Kassel im Griff habe "wie ein Malaria-Schub": "Wird es eine Documenta der Superlative? Mit der geheimnisvollsten Künstlerliste aller Zeiten? Mit den magersten Kunstwerken? Mit der unprofessionellsten Pressearbeit? Mit der versponnensten Theorie-Begleitung? Mit der arrogantesten Chefkuratorin? Es wird, so viel ist sicher, die schlechteste Documenta aller Zeiten. Aber das ist immer so."

Weiteres: Barbara Villiger Heilig beschreibt, wie Programmleiter Antonio Franchini bei Mondadori, dem größten Buchverlag Italiens, mit jungen Autoren ein Literaturprogramm aufbaut. Besprochen werden Klassik-Alben, darunter eine 84 CDs starke Box mit Arturo Toscaninis gesammelten RCA-Aufnahmen, sowie die, wie Daniel Ender meint, "szenisch verunglückte, sängerisch jedoch großteils glanzvolle" Aufführung von Georg Friedrich Händels Oper "Giulio Cesare in Egitto" bei den Salzburger Pfingstfestspielen.

Aus den Blogs, 01.06.2012

Shahin Najafi, ein in Deutschland lebender iranischer Sänger, wird von Mullahs per "Fatwa" und Kopfgeld mit Mord bedroht (siehe dieses Interview des Sängers in der taz). Und Deutschland schweigt. Matthias Kuentzel kommentiert in seinem Blog: "Ich jedenfalls empfinde es als Schande, dass die Bundesregierung diesen Übergriff der Mullahs bislang stillschweigend schluckt - ohne den iranischen Botschafter einzubestellen, ohne den bedrohten Sänger demonstrativ ins Bundeskanzleramt einzuladen. Ich finde es beschämend, dass ein Bundestagsausschuss letzte Woche die Einladung an eine Delegation oppositioneller Iraner zur Diskussion der Lage der Menschenrechte in letzter Minute und ohne Angabe von Gründen zurückgezogen hat."

Welt, 01.06.2012

Uwe Schmitt fasst die Diskussion um Lyndon B. Johnson zusammen, dessen Präsidentschaft mit der mehrteiligen Biografie Robert Caros neu bewertet wird - oder auch nicht. "Dass sich das Ansehen LBJs noch nicht erholt hat, bezeugt Caro selbst. In Briefen, bei Lesungen, bei Vorträgen an Colleges komme unfehlbar und früh dieselbe Frage: 'Hat er es getan? Hat er die Verschwörung, Kennedy zu ermorden, geführt?' Und wenn er dann entgegne, dass er in all den Jahren der Forschung nicht einen Hinweis auf eine Beteiligung LBJs an dem Attentat entdeckt habe, 'dann spüre ich, dass ich mein Publikum verliere. Es kann es nicht akzeptieren'." (Hier Besprechungen von Bill Clinton in der NYT, Tom Carson in GQ, Wendy Smith in der LA Times, David Greenberg in der Washington Post, Gary Wills in der NYRB und Anonymus im Economist.

Andrea Backhaus beschreibt die Verfolgung des in Deutschland lebenden iranischen Rappers Shahin Najafi durch iranische Mullahs und ihre Anhänger: "Vor der deutschen Botschaft in Teheran versammeln sich in diesen Tagen Protestler, die die Auslieferung Najafis fordern. Ähnliche Stimme werden auch in Deutschland laut: Als 'Nestbeschmutzer' betitelt etwa der in Köln lebende iranische Musiker Emilio Zaeem Najafi auf seiner Facebook-Seite."

Weitere Artikel: In der Glosse erzählt Ulf Poschardt, wie er auf dem Weg zur Arbeit lernte, dass Kunst heute "Agent einer neuen feisten Klassenordnung" ist. Sascha Lehnartz lässt sich von Unesco-Direktorin Irina Bokova erklären, wie sie die Zahlungsverweigerung der USA und Israels (wegen der Aufnahme Palästinas) für eine Reform der Unesco nutzen will.

Besprochen werden Christoph Starks Film "Tabu" über die angebliche inzestuöse Beziehung Georg Trakls mit seiner Schwester Grete, das Computerspiel "Max Payne 3", eine Ausstellung zum 500. Geburtstag der "Sixtinischen Madonna" in der Dresdner Gemäldegalerie, Uraufführungen von Sarah Nemtsov, Eunyoung Kim und Arnulf Herrmann bei der Münchener Biennale und Olga Neuwirths Oper "The Outcast" über Herman Melville in Mannheim.

TAZ, 01.06.2012

Susanne Messmer porträtiert den Pekinger Dichter, Experimentalmusiker und Essayisten Yan Jun, der heute in der "Langen Nacht der Poesie" in Berlin liest. Über sein Land meint er: "'Mal ist es besser, mal ist es schlechter, aber ich habe keine Ahnung, welche Ursachen das jeweils hat. Ich würde verrückt, wenn ich versuchen würde, das zu verstehen.' Yan Jun hat es längst aufgegeben, alles einordnen zu wollen. Wahrscheinlich befähigt ihn genau das dazu, im Chaos zu schwimmen wie ein Fisch - und so viele tolle und abseitige Dinge auf einmal zu tun."

Weitere Artikel: Julian Weber unterhält sich mit dem Pianisten Volker Bertelmann alias Hauschka über sein zusammen mit der Stargeigerin Hilary Hahn aufgenommenes Album "Silfra". Hier die Besprechung. Nora Bierich würdigt im Nachruf den japanischen Regisseur Kaneto Shindo. In einem ABC aus Zitaten stellt Julia Niemann das Buch "Bossypants. Haben Männer Humor?" von Schauspielerin, Autorin und Comedy-Star Tina Fey vor. MLA berichtet über das höchst erfolgreiche Kickstarter-Projekt der US-Musikerin Amanda Palmer, die im Netz 1,1 Millionen Dollar für ihr neues Solo-Album und die dazugehörige Tour gesammelt hat.

Besprochen wird das Album "The Bravest Man in the Universe" von Sänger und Songwriter Bobby Womack.

Und Tom.

FR/Berliner, 01.06.2012

Die "prachtvolle Schau" mit Architekturmodellen im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt lässt Christian Thomas erschauern: "Erst recht mit Modellen ließ sich für Architekten, die sich als Sozialingenieure definierten, die urbane Zukunft regelrecht auswürfeln, darin die Bauwerke als Spielmasse, Verfügungsmasse einer technoiden Phantasie, und nicht nur der Japaner Arata Isozaki verhängte in den 1960er-Jahren mit seinem Plan für Tokio eine für das Individuum wenig erbauliche Zukunft. Der Betrachter im DAM darf dem Gedanken nachhängen, dass der Essay über das Modell als Topographie des totalitären Denkens noch geschrieben werden muss."

Weiteres: Christian Schlüter nimmt Abschied vom Folk-Gitarristen Doc Watson. Der niederländische Autor Guss Kuijer wird mit dem Astrid-Lindgren-Preis ausgezeichnet - zu recht, findet Cornelia Geißler. Außerdem werden Bücher besprochen, darunter "Das Geheimfach ist offen", eine Sammlung von Buchrezensionen Ina Hartwigs (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 01.06.2012

Woher rührt der "Antiökonomismus" in Spanien, fragt sich Sebastian Schoepp und wühlt zur Beantwortung dieser Frage tief in den Geschichtsbüchern. Der von ihm dabei ausgemachte, entscheidende Moment: Das Jahr 1492. "Damals entdeckte Spanien nicht nur Amerika, es besiegte auch das letzte Überbleibsel arabischer Herrschaft in Granada und vertrieb in den kommenden Jahrhunderten Mauren und Juden. Beide Gruppen waren für Handwerk und Handel zuständig. Der christliche Hidalgo hingegen verabscheute Arbeit, sie war ihm durch einen bizarren Ehrenkodex untersagt; nur im Soldatischen sah er eine gottgegebene Aufgabe."

Weitere Artikel: Johan Schloemann konstatiert anlässlich des 60. Thronjubiläums von Queen Elizabeth II., dass die britische Monarchie "durch die Verschmelzung von Mittelalter und Pop (...) noch Einiges aushalten" könne. Alexander Menden hält den von Ai Weiwei per Skype-Zuschaltug entworfenen Serpentine Pavillon in London für "ein architektonisches Palimpsest", das "letztlich an der Verständnishürde scheitert". Catrin Lorch stellt das neue Online-Archiv von Getty vor, von dem sich Kunsthistoriker einiges versprechen. Wolfgang Schreiber liefert Hintergründe zur Kontroverse in Israel um eine für Juni geplante Wagneraufführung in Tel Aviv. Stephan Speicher berichtet vom Eröffnungsfestakts des Zentrums Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Die Medienseite meldet, dass Brigitte Fehrle nach dem Abgang von Uwe Vorkötter alleinige Chefin der Berliner Zeitung wird.

Besprochen werden das neue Album der wiederbelebten Beach Boys, das Andrian Kreye überhaupt nicht munden will, das neue Album von Patti Smith, die darauf viele Tote besingt, wie Jan Kedves berichtet, Aufführungen von Volker Löschs "Die Gerechten" und Martin Heckmanns "Wir sind viele und reiten ohne Pferde" am Staatstheater Stuttgart, die sich jeweils mit der "Geschichte europäischer Freiheitsbewegungen" befassen, und Bücher, darunter "Trans-Maghreb", die neue Novelle von Hans Platzgumer (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 01.06.2012

Reinhard Karger vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz wünscht sich zur Entschärfung des Urheberrechtsstreits und als Gegenmodell zur Kulturflatrate ein unkompliziertes Micropaymentsystem im Netz und verspricht sich davon "wirtschaftliche Chancen für gute Ideen": "Denn gesellschaftlich sollte man sich darauf verlassen, dass eine Zivilisation kultiviert mit ihrer Kultur umgeht, dass die Bürger grundsätzlich fair sind, wenn man ihnen eine faire Chance bietet. Der Nachbar ist nicht zuallererst der rationale, auf seinen persönlichen Vorteil bedachte Wirtschaftsmensch, sondern jemand von gegenüber, der sich angemessen verhalten möchte. Beispiel Musikindustrie: Durch den legalen Online-Verkauf einzelner Songs wurde der Markt revitalisiert."

Weitere Artikel: Konstanze Crüwell stattet dem Frankfurter Atelier Goldstein, das insbesondere Künstlern mit Behinderungen ein Forum bietet, einen Besuch ab. Tobias Rüther erlebt beim Berliner Konzert von Bruce Springsteen "tausend Gesten an einem Abend". Tomasz Kurianowicz war bei der Eröffnung des neuen Ensemblehauses des Barockorchesters in Freiburg, das sich "nicht nur akustisch, sondern auch architektonisch absolut auf der Höhe der Zeit" befinde. Jonathan Schaake stellt die von der deutsch-japanischen Pianistin Kimiko Ishizaka per Crowdfunding finanzierten Aufnahmen von Bachs Goldberg-Variationen vor, die die Musikerin im Anschluss zur beliebigen Nutzung ins Netz gestellt hat. Alle Aufnahmen gibt es auch als Stream bei Soundcloud, hier ein Stück daraus:



Besprochen werden der Film "Tabu" über den Dichter Georg Trakl, die große "British Design"-Ausstellung im Victoria & Albert Museum in London und Bücher, darunter Jean-Pierre Abrahams Roman "Der weiße Archipel" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).