Heute in den Feuilletons

Die Aussage des Großajatollahs

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.07.2012. In der FAZ macht sich Robert Spaemann Gedanken über die Ausgestaltung eines Blasphemiegesetzes. Nicht die Beleidigung Gottes, sondern seiner Gefolgschaft will er unter Strafe stellen: Ob er auch den iranischen Musiker Shahin Najafi bestrafen würde, den die Zeit heute porträtiert, lässt er offen.  Saudi Arabien probt inzwischen die Gender Revolution und schickt zwei Sportlerinnen nach London, die auf Twitter aber schon als "Huren" beschimpft werden, berichtet das Blog Global Voices. Die SZ findet den Ökofeminismus der Documenta reaktionär. Auf Spiegel Online schreibt Matthias Matussek einen sehr persönlichen Nachruf auf Susanne Lothar.

Spiegel Online, 26.07.2012

Matthias Matussek schreibt einen sehr persönlichen Nachruf auf die große Schauspielerin Susanne Lothar, die nur 51-jährig gestorben ist: "Mit Suses 'Lulu', diesem trotzigen Fünf-Stunden-Triumph, knöpfte das Schauspielhaus 1986 noch einmal an die heroischen Tage an, an die poetischen 'Ihr könnt mich mal'- Tage von Mattes und Wildgruber und Zadeks wüstem Shakespeare-Zirkus - und das mit Wedekind. Suse also war nackt, bis auf die Seele nackt, und ich sagte ihr, wie großartig sie war."

TAZ, 26.07.2012

Der Regisseur Oliver Hardt sucht in seinem Film "The United States of Hoodoo" zusammen mit dem afroamerikanische Schriftsteller Darius James, welche Spuren Voodoo im amerikanischen Alltag hinterlassen hat. Das sind mehr als man meint, erklärt er im Interview: "Das beste Beispiel ist der [ehemalige Sklavenfriedhof] African Burial Ground in Manhattan. Den findet man nicht im Reiseführer, aber es ist ein riesiges Monument, eine Rotunde mitten im Finanzdistrikt, voller Symbole aus afrikanischen Mythologien. Da gibt es vier, fünf Voodoo-Symbole, und täglich gehen tausende von Leute daran vorbei. Farris Thompson, der große Kunsthistoriker aus Yale, hat mal gesagt, es gebe immer zwei Städte. Wenn man auf New York guckt, dann gibt es die Stadt, die sich einem klar darbietet und die Produkt eines langen Bildschaffens ist. Auf den zweiten Blick wird dann die afrikanische Stadt New York plötzlich sichtbar."

Weitere Artikel: Jürgen Vogt berichtet über den Versuch der einflussreichen argentinischen Familie Martinez, die Aufführung des Films "Awka Liwen - Aufstand im Morgengrauen" zu verhindern. Ingo Arend erklärt, warum Berlin eine Kunsthalle haben sollte. Barbara Bollwahn porträtiert die Autorin des Sexromans "Shades of Grey". Besprochen wird Lars Henrik Gass' Buch "Film und Kunst nach dem Kino" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 26.07.2012

Die Kosten sind von 2,5 auf 11 Milliarden Pfund gestiegen, die Sicherheitsfirma versagte schon vor Beginn der Olympischen Spiele, die Londoner sind gar nicht mehr froh über das Spektakel, schreibt Daniel Johnson, der Herausgeber des Magazins Standpoint: "Das unpopulärste Zeichen der olympischen Invasion, die über London hereingebrochen ist: Jede große Straße in und um London hat nun eine gesonderte Spur, die 'Games Lane', die für VIPs, Funktionäre und Athleten reserviert ist. Im Land der Magna Carta hat das den Beigeschmack des Diktatorischen."

Weitere Artikel: In der Leitglosse mokiert sich Henryk Broder über das Israel-Museum, das orthodoxen Juden jetzt nach Geschlechtern getrennte Besuchszeiten anbieten will. Manuel Brug meldet, dass der Künstler Jonathan Meese in vier Jahren den Bayreuther "Parsifal" inszenieren soll. Besprochen werden Joseph Vilsmaiers Promo-Bilderbogen "Bavaria" und eine Serie über die "Kennedys", die heute Abend auf Arte beginnt.

Auf der Forumsseite greift Jens Bierschwale den Vorschlag auf, dass wenigstens die Fernsehreporter bei der Eröffnung der Spiele eine Minute lang schweigen, wenn das IOC schon keine Schweigeminute für die Opfer von 1972 abhalten will.

Aus den Blogs, 26.07.2012

Repräsentativ ist eine Umfrage zur Beschneidung im Blog des New Humanist sicher nicht. Aber interessant ist das Ergebnis doch, und es zeigt, dass die Debatte keineswegs "deutsch" ist:




Paul Sims äußerte sich vor ein paar Wochen im Blog des New Humanist dennoch eher skeptisch über ein Verbot: "However, when I consider the possible social consequences of a ban on circumcision, in particular its possible effect on the relationship between Jewish and Muslim communities and the rest of society, I find that I am less convinced of the wisdom of enforcing it. There's no denying that the ruling by the Cologne court is a bold one, and perhaps such bold decisions are necessary to enable societies to finally move on from what many would consider to be antiquated and harmful practices. But if a ban on circumcision was passed here in the UK, I think I would be uncomfortable with the social implications it could have."

Saudi Arabien hat nolens volens zwei Sportlerinnen nach London reisen lassen, die jetzt auf Twitter als "Huren" beschimpft werden, , schreibt Amira Al Hussaini auf globalvoicesonline.org: "Saudi Arabia's earlier announcement that women would be excluded from London 2012 was faced with a call for banning the kingdom from the Olympics. The participation of women under the Saudi flag comes under conditions: that they would not compete in mixed games and that they would dress up conservatively, among others." Aber: "A screen shot of the tweet which calls the women taking part in the games as prostitutes is making the rounds online. The aim is to name and shame the person behind the hash tag."

Freitag, 26.07.2012

Matthias Dell und Marc Fabian Erdl versuchen den Begriff der "Politischen Korrektheit" zu klären, dessen erstes Aufkommen sie auf die frühen neunziger Jahre datieren: "'Politische Korrektheit' kam in die Welt durch Leute, die sie im selben Atemzug ablehnen. 'Politische Korrektheit' war nie etwas anderes als - ein Schimpfwort. Diese Leute sind, um es flapsig zu sagen, alte, weiße, heterosexuelle Männer, die keine Lust darauf haben, dass außer ihnen noch jemand die Welt erklärt."
Stichwörter: Politische Korrektheit

NZZ, 26.07.2012

Nina Fargahi berichtet vom Vorhaben der Tellspiel- und Theatergesellschaft in Altdorf, zum ihrem 500-Jahre-Jubiläum den schweizerischen Freiheitsmythos mit dem ähnlichen persischen Zahhak-Mythos zusammenzubringen und in einem gemeinsamen Projekt nach dreijähriger Zusammenarbeit aufzuführen, "und zwar übers Kreuz: Die Iraner befassen sich mit Wilhelm Tell, die Zürcher Theatergruppe unter dem Regisseur Niklaus Helbling widmet sich dem persischen Mythos - Kaveh der Schmied wird Schweizerdeutsch sprechen, Tells Frau einen Tschador tragen." Das Ergebnis ist ab dem 27. Juli in Altendorf zu sehen "und später eventuell - oder hoffentlich - auch in Teheran".

Weiteres: Hans-Jörg Neuschäfer erzählt in seinem Nachruf auf die spanische Autorin und Verlegerin Esther Tusquets, wie sie 1960 im Alter von 23 Jahren den bis dahin fundamental-katholischen Verlag Lumen erbte und aus ihm "einen der besten Verlage der spanischsprachigen Welt" machte. In seiner Rezension von "The Dark Knight Rises" klagt Simon Spiegel, dass der Amoklauf von Aurora den Rezensenten zwingt, "zu einer Frage Stellung (zu) nehmen, für deren Beantwortung er gar nicht qualifiziert ist". Marisa Buovolo überlegt, was es mit den Masken und Kostümen der Superhelden auf sich hat.

Besprochen werden eine Pariser Ausstellung über minderjährige Opfer nationalsozialistischer Gewalt, eine Retrospektive des irischen Künstlers James Coleman im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía in Madrid sowie Frédéric Wandelères Lyrikband "Hilfe für Unkraut" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR/Berliner, 26.07.2012

Birgit Walter ärgert sich über die Gutsherrenart der Gema. Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Anne-Marie Slaughter erklärt im Interview, wie und warum die internationale Staatengemeinschaft die Freie Syrische Armee in ihrem Kampf gegen das Assad-Regime unterstützen sollte.

Besprochen werden Joseph Vilsmaiers Film "Bavaria - Traumreise durch Bayern", eine Ausstellung der kenianischen Künstlerin Wangechi Mutu in der Kunsthalle Baden-Baden und Marie Pohls Buch "Geisterreise" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 26.07.2012

Kia Vahland bilanziert nach sechs Wochen Documenta den von Carolyn Christov-Bakargiev lancierten Ökofeminismus, demzufolge Frauen "als Expertinnen des Andersseins und Empathie" nun als Wiegenhelferinnen der Emanzipation von Flora und Fauna zuständig seien. Und dies schmeckt Vahland ganz und gar nicht: "Das tradiert erstens ein schon rührend reaktionäres Frauenbild: das der Kümmerfrau, die immer für alle zuständig ist, und seien es Straßenköter oder Wildfrüchte. Zweitens drückt sich in dieser Weltsicht vielleicht die Aufstiegsgeschichte einiger amerikanischer Akademikerinnen aus - nicht aber die Alltagserfahrung der durchschnittsdeutschen Besucherin, die täglich erlebt, wie hierzulande in Sachen Gleichberechtigung Wort und Tat auseinanderdriften".

Weitere Artikel: Der Historiker Hans-Ulrich Wehler ärgert sich darüber, dass das Freiburg Institute for Advanced Studies fünf Jahre nach Gründung geschlossen werden soll. Christian Broecking spricht mit dem Jazzpianisten Vijay Iyer. Christopher Keil gratuliert Hannelore Elsner zum 70. Geburtstag.

Auf der Medienseite beobachtet Cathrin Kahlweit die Folgen des umstrittenen Mediengesetzes in Ungarn und kommt dabei zu einem tristen Ergebnis: "Vorauseilender Gehorsam sei in den Redaktionen eingezogen, sagen zahlreiche Kritiker, sodass die Durchgriffsrechte, die das Gesetz durchaus enthält, gar nicht angewendet werden müssten. Den Rest erledige der Druck des Geldes; wo sich kritische Stimmen hielten, würden schlicht kaum noch Anzeigen geschaltet."

Besprochen werden Joseph Vilsmaiers Dokumentarfilm "Bavaria - Traumreise durch Bayern", Olafur Eliassons Installation "Tate Blackouts" in der Tate Modern in London und Bücher, darunter Antonin Artauds "Texte zum Film" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 26.07.2012

Der katholische Philosoph Robert Spaemann macht sich Gedanken über die Ausgestaltung eines Blasphemiegesetzes, das er grundsätzlich unterstützt. Gott müsse man dabei nicht schützen, wohl aber die Gefühle jener, die an Gott glauben. Zur Illustration seiner These wählt er ein drastisches Beispiel: "Die Leugnung des Mordes an sechs Millionen Juden sollte zwar so wenig strafbar sein wie die Leugnung des Kreuzestodes Jesu zum Beispiel im Koran. Sie ist einfach eine falsche Tatsachenbehauptung. Für Wahrheitsfragen aber ist der Staat nicht die entscheidende Instanz. Die Verhöhnung der Opfer dagegen wäre eine objektive Beleidigung, die mit Recht nicht straffrei bliebe." (Bleibt zu hoffen, dass Spaemann sich dessen bewusst ist, dass die Holocaustleugnung nicht allein wegen Opferverhöhnung justiziabel ist.)

Weitere Artikel: Bert Rebhandl empfiehlt eine Reihe von Blaxploitation-Filmen im Kino Arsenal in Berlin. Christian Wildhagen streift bei den Herrenchiemsee-Festspielen durch die Geschichte der Verbindung von Musik und Wort. Timo John schlendert durch Ben van Berkels Neubau für das Fraunhofer-Institut in Stuttgart. Nils Minkmar lobt den Strand und seine Hierarchien nivellierende Qualitäten. Christian Geyer würdigt die mit dem Hegel-Preis ausgezeichnete Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff.

Besprochen werden das Debütalbum der Jazzrock-Supergroup Spectrum Road, eine Ausstellung mit Bildern von Günter Fruhtrunk im Kunstmuseum Liechtenstein, eine Ausstellung mit Fotografien von Floris Neusüss im Stadtmuseum München und Bücher, darunter Uwem Akpans Roman "Sag, dass du eine von ihnen bist" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Zeit, 26.07.2012

Annabel Wahba besucht den in Deutschland lebenden Musiker Shahin Najafi, der von iranischen Geistlichen der Blasphemie beschuldigt wird (mehr hier und hier) und nach Morddrohungen unter Polizeischutz steht: "Der Fall Najafi gibt auch einen sehr unangenehmen Einblick darin, wie weit die iranische Regierung in die Verfolgung kritischer Landsleute im Exil verstrickt ist. In Deutschland wurde die Aussage des Großajatollahs nach Ermittlungen der Münchner Staatsanwaltschaft von einem ehemaligen Mitarbeiter des iranischen Generalkonsulats in München verbreitet, in der dieser Najafi als 'Verdammten' bezeichnet." Hier findet sich der beanstandete Song mit englischer Übersetzung.

Weitere Artikel: Thomas Assheuer erklärt, weshalb Begriffe wie 'Spätkapitalismus' und 'Postdemokratie' neuerdings wieder Hochkonkunktur haben. Peter Kümmel stellt den Berliner Künstler Tino Sehgal vor, der mit seinen "konstruierten Situationen" gerade die Londoner Tate Modern bespielt. Johannes Voswinkel porträtiert mit der von einer Haftstrafe bedrohten Frauen-Punkband Pussy Riot "eine klassische Erscheinung der russischen Gegenkultur: rebellisch, rechthaberisch und zu aggressiv, um die Mehrheit der Menschen für sich zu gewinnen". Dem Amoklauf in Colorado zum Trotz bemüht sich Adam Soboczynski, den Abschlussfilm der Batman-Trilogie "ganz gewöhnlich zu rezensieren", denn "ihn in kausale Beziehung zur Tat zu setzen, hieße, der Logik des Täters zu erliegen". Iris Radisch fragt sich hingegen, wie sich alle die Rezensenten eigentlich so sicher sein können, dass "zwischen kulturindustriell simulierter Gewalt und echter Gewalt im Kostüm der Kulturindustriehelden" kein Zusammenhang besteht.

Im 3. Teil der Serie zu Nachkriegsromanen wird der Kanon um Werke von Max Frisch, Heinrich Böll, Doris Lessing, Natalia Ginzburg und anderen erweitert. Der italienische Autor Claudio Magris spricht über europäische Literatur, die Krise und Berlusconi.

Besprochen werden Detlev Glanerts Oper "Solaris", deren Inszenierung bei den Bregenzer Festspielen dem Stück nicht gerecht wird ("Warum so geistlose Dekorateure in den großen Häusern der Welt reihenweise Opern plattmachen dürfen, bleibt ein noch größeres Rätsel als der Planet Solaris", stellt Volker Hagedorn fest) sowie Bücher, darunter Téa Obrehts Balkan-Saga "Die Tigerfrau" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).