Heute in den Feuilletons

Kein Zauberkunststückchen weit und breit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.09.2012. Die SZ sieht die Strahlkraft westlicher Werte vom Aufstieg Chinas nicht bedroht. Angesichts des Putinkults fühlt sich die taz in die Zarenzeit zurückversetzt. Welt und FAZ werfen einen Blick auf Neuseeland, das Gastland der Frankfurter Buchmesse. Nadine Gordimer zeigt sich in der NZZ enttäuscht von der Entwicklung Südafrikas. NZZ, taz und FR würdigen Michelangelo Antonioni, der heute vor 100 Jahren geboren wurde. Von Joanne K. Rowlings Erwachsenen-Roman ist man einhellig unterwältigt.

NZZ, 29.09.2012

In einem sehr schönen Interview in Literatur und Kunst mit Angela Schader spricht die südafrikanische Autorin Nadine Gordimer über ihren neuen Roman "Keine Zeit wie diese" und die enttäuschende Entwicklung, die das Land seit dem Ende der Apartheid genommen hat. Aber eingeschränkt hat sie sich dadurch nicht gefühlt: "Wenn man Schriftstellerin ist, dann gibt es so etwas wie Einschränkung einfach nicht; man lebt gegen alles, was einen einschränkt. Und wenn ich beispielsweise in meinem neuen Roman explizit auf Zuma Bezug nehme, dann geht es dabei ja nicht eigentlich um ihn, sondern vielmehr, wie Sie selbst gesagt haben, um den Schock, den Jabulile angesichts von Zumas Verhalten und Auftreten empfindet, und den zweiten Schock, den die Loyalität ihres Vaters zu diesem Mann für sie bedeutet - einem Mann, dessen Verhalten sie als Verrat an ihren Werten und ihrer Kultur empfindet." In einem zweiten Text bespricht Schader den Roman.

Zu Antonionis Hunderstem huldigt Jörg Becker noch einmal dessen Liebesvagabundinnen Lucia Bosé, Jeanne Moreau und vor allem Monica Vitti: "Rätselhafte Verkörperungen eines veränderten Zugangs zur Welt, deren Lebensformen nie zu ihren Gefühlen passen, denen überhaupt eine wesentliche Differenz anzumerken ist gegenüber allem, was sie umgibt. Sie gehen in ihrer Gegenwart wie in ihren Beziehungen nicht auf, erscheinen weniger definiert, immer noch auf der Suche." Daneben stellt Bettina Spoerri eine DVD-Edition mit Antonioni-Filmen vor.

Und: Der Architekt Vittorio Magnago Lampugnani betrachtet noch einmal die Bauten der IBA von 1987 in Berlin.

Im Feuilleton betrachtet Martin Meyer besorgt die jüngsten Emanationen des so irrationalen wie aufgeputschten Zeitgeist. Andreas Klaeui trifft in Lugano den Tessiner Theatermacher Daniele Finzi Pasca. Michael Wenk gratuliert dem Schweizer Schauspieler Lukas Ammann zum hundertsten Geburtstag.

Besprochen werden Bücher, darunter Ralph Dutlis Kulturgeschichte der Biene "Das Lied vom Honig" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Perlentaucher, 29.09.2012

Interpretation bedeutet in der modernen Welt, in der verschiedene Werte und Sichtweisen des Lebens koexistieren, zwangsläufig auch Konfrontation. Davon jedoch, fürchtet der slowenische Autor Drago Jan?ar, wollen die Pragmatiker des freien Handels nichts wissen. Und darum stehen wir heute vor einer apokalyptischen Vision: Fällt der Euro, fällt Europa.
Stichwörter: Pragmatik

TAZ, 29.09.2012

Die Kunsthistorikerin Alexandra Engelfried führt durch Ikonografie und Geschichte des Putinkults und stellt dabei fest: Es "lassen sich zahlreiche Parallelen zu vorrevolutionärer Zeit erkennen. Personifizierte Macht wird wie zu Zarenzeiten sakral inszeniert." (siehe auch ausführlicher dieser Aufsatz der Autorin)

"Bleigrauer Himmel, Regen, Nebel, es sind Bilder voller schöner Trostlosigkeit, durch die Antonioni seine Figuren voller elementarer Einsamkeit straucheln lässt", schreibt Michael Freerix über die Filme von Michelangelo Antonioni, der heute 100 Jahre alt geworden wäre. Dazu schwelgen wir in der trostlosen Schönheit der letzten Minuten von "L'Eclisse":



Weitere Artikel: Thomas Wörtche denkt über den anhaltenden Krimi-Hype nach. Daniel Schulz ertrinkt bei der Lektüre von J. K. Rowlings neuem Roman "in einem Meer klischierter Sülze". Andreas Fanizadeh gruselt sich noch immer beim Gedanken an Judith Butlers und Micha Brumliks Diskussion im Berliner Jüdischen Museum über den Zionismus und das Judentum. Der Militärseelsorger Victor Greve verrät Daniel Kummetz im Gespräch unter anderem, dass ihn in Afghanistan weniger die Angst vor dem Tod, als die Sorge vor einem Leben im Rollstuhl umgetrieben hat. Felix Dachsel trifft Günter Wallraff zu dessen 70. Geburtstag. In dulci jubilo: Waltraud Schwab besucht die glücklichen Nonnen, denen es mit viel Arbeit gelungen ist, die Heiligsprechung von Hildegard von Bingen zu erwirken (dazu lauschen wir in den frühen Morgenstunden andächtig David Lynchs Interpretation von Bingens Musik). Daniel Kummetz schaut sich für eine Reportage aus Hamburg um, "wie die Stadt mit Obdachlosen umgeht". Catarina von Wedemeyer erfährt von Nela Schmitz wie es ist, als Darstellerin einer Soap schwanger zu werden. Außerdem sammelt die taz Stimmen dazu, ob es sich bei Mohammed-Satire um einen "Ausdruck westlicher Arroganz" handelt.

Besprochen werden Til Schweigers Film "Schutzengel", Angela Richters Stück "Assassinate Assange" auf Kampnagel in Hamburg (nach dem Klaus Irler lediglich ein "Und jetzt?" auf den Lippen hat) und Bücher, darunter gesammelte Kriegsreportagen von Martha Gellhorn (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 29.09.2012

In der Literarischen Welt referiert der Schriftsteller Lloyd Jones die Literaturgeschichte Neuseelands. Durch die Distanz, die kulturelle wie die räumliche, zur restlichen Welt spiele Literatur in Neuseeland eine besondere Rolle, meint Jones - was jedoch nicht bedeute, dass neuseeländische Literatur für die Welt bisher eine besondere Rolle spiele. Mit der Frankfurter Buchmesse, auf der Neuseeland als Gastland auftritt, verbindet sich die Hoffnung, dass sich dies nun ändert: "Typisch, dass unsere Chance kam, weil ein anderes Land zurückgezogen hat (angeblich, weil nicht genug Zeit war, den Auftritt angemessen vorzubereiten). Sei's drum, Neuseeländer sind es gewohnt, aus einem Ackergaul ein Rennpferd zu machen. Die Frankfurter Buchmesse ist wie ein Schulterklopfen für eine Literatur, die vom Rest der Welt bislang kaum wahrgenommen wurde."

Besprochen werden außerdem Heinz Buschkowskys Integrationsbericht "Neukölln ist überall", Ernst Augustins mecklenburgisches Südsee-Abenteuer "Robinsons blaues Haus" und Jan T. Gross' Studie über "Antisemitismus nach Auschwitz in Polen". Reinhard Mohr lässt in seiner Kolumne die Sommerlochdebatten Revue passieren, und der amerikanische Krimiautor James Sallis stellt im Interview bezüglich der Fortsetzung seines Bestsellers "Driver" fest: "Entscheidend ist doch nicht die Länge, sondern die Substanz."

Im Feuilleton spottet Alan Posener in seiner Kolumne über die Kanzlerkandidatur von Peer Steinbrück, den Steigbügelhalter Helmut Schmidt und die Intellektuellen, die sich darüber freuen: "Schmidt und Steinbrück können sich als Weltökonomen aufspielen, weil deutsche Intellektuelle aus Prinzip nichts von Wirtschaft verstehen und noch weniger davon halten. Hauptsache, es kümmert sich einer um diese unanständigen Märkte, wo Leute ohne Diss und Habil hundertmal mehr Geld verdienen als ein Professor, und um diese neunmalklugen Goldman-Sachs-Leute."

Weiteres: Ex-Senatsbaudirektor Hans Stimmann wirbt in einem Buch für den radikalen Umbau des Berliner Kulturforums, berichtet Rainer Haubrich. Besprochen werden die Ausstellung "Pre-Raphaelites: Victorian Avant-Garde" in der Tate Britain ("Auf nach London!", rät Thomas Kielinger) und das neue Album der Berliner Band Seeed ("schlaugescheiter Proletenpop, aufgepumpt mit Beats aus dem Fitnessstudio", findet Jan Küveler). bru bedauert die Fusion der beiden SWR-Orchester. Hanns-Georg Rodek nimmt Abschied von dem Schauspieler Herbert Lom. Berthold Seewald und Sven Felix Kellerhoff berichten vom Mainzer Historikertag.

FR/Berliner, 29.09.2012

Den neuen Roman von J. K. Rowling, mit dem sich die Harry-Potter-Autorin von der Fantasy ins Feld des Sozialrealismus schlägt, kann man zwar in "einem halben Tag und einer halben Nacht" auslesen, bemerkt Sylvia Staude, aber spürbar unterwältigt ist die Rezensentin schon: Zwar werde sich der Roman gewiss "noch bombastisch verkaufen, ebenso gewiss werden viele Potter-Enthusiasten danach abspringen. Kein Zauberkunststückchen weit und breit, dafür auf fast 600 Seiten soziales Elend, kaputte Ehen, dysfunktionale Familien und missgünstige Muggels. ... Es ist auch ein Buch, nach dem wenige Hähne krähen würden, stünde nicht J. K. Rowling auf dem Titel".

Außerdem würdigt Daniel Kothenschulte Michelangelo Antonioni, der heute 100 Jahre alt geworden wäre. Daneben werden eine Thomas-Scheibitz-Ausstellung im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt, Julia von Seils Inszenierung von Elfriede Jelineks "FaustIn and Out" am Schauspiel Frankfurt und das neue Album von Seeed besprochen, die sich in ihrem aktuellen Video auf eine Reise durch die Lüfte machen:

Aus den Blogs, 29.09.2012

Turi2 meldet, dass in der so schwer gebeutelten FR jetzt Pläne kursieren, die tägliche Printausgabe eingehen zu lassen. "Laut kressreport überlegen die Besitzer DuMont und DDVG, das Blatt zu verkaufen oder nur noch als elektronische Ausgabe für iPad und Co erscheinen zu lassen. Dazu hat der Verlag bereits Marktforscher die Akzeptanz reiner Tablet-Ausgaben testen lassen. Angeblich, weil die FR in abgelegenen Gebieten künftig nicht mehr tagesaktuell ausgeliefert werden kann."
Stichwörter: Ausgeliefert, Ddvg

FAZ, 29.09.2012

Besonders traurig sind die Verlage nicht über das Sterben der Buchhandelskette, stellen Lena Bopp und Sandra Kegel in ihrem Report zur Lage auf dem Buchmarkt fest, aber Amazon dürfte ihnen das Geschäft noch schwerer machen: "Sosehr die großen Ketten den Verlagen in ihren fetten Jahren auch die Rabatte diktierten, die sie auf ihre Bücher geben mussten, und Gebühren abverlangten, die sie für eine gute Plazierung der Werke in den Geschäften zahlen mussten - diese Knebelmethoden waren für Verlage weniger bedrohlich als das, was Amazon jetzt plant. Natürlich muss sich erst noch zeigen, ob derjenige, der verkaufen kann, auch ein guter Produzent ist. Doch Amazon Publishing und auch die Self-Publishing-Seiten, die Amazon anbietet, haben gewaltiges Potential."

Weiteres: Felicitas von Lovenberg kann allem Enthusiasmus zum Trotz Joanne K. Rowlings neuem Roman wenig abgewinnen, am Ende findet sie den "Plötzlichen Tod" doch "extrem langatmig". Gina Thomas berichtet von einem Auftritt Rowlings in London. Wiebke Hüster berichtet von der "Biennale de la Danse" in Lyon, bei der es tatsächlich "viel zu lachen" gab. Jürgen Dollase fragt in seiner "Geschmackssachen"-Kolumne, warum der Schweinebraten in der deutschen Spitzenküche eigentlich keine Rolle spielt. "Je lässiger desto böser", findet Gerhard Stadelmaier Elfriede Jelineks Goethe-Frauen-Stück "Faustin and Out", bei dem das Schauspiel Frankfurt Gretchen in Josef Fritzls Kerker enden lässt.

Besprochen werden Alan Hollingursts Roman "Des Fremden Kind", Jan Knopfs Brecht-Biografie "Lebenskunst in finsteren Zeiten" und Alexander Kluges Hörspiel "Die Pranke der Natur" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In Bilder und Zeiten erzählt Sandra Kegel etwas aufgekratzt von ihrer Reise durch Buchmessen-Gast Neuseeland: "Da sitze ich dann in der Millionenstadt Auckland bei Emily Perkins auf der Couchette." Dirk Schümer besichtigt Goethes Wohnung in Rom. Claus Lochbihler unterhält sich mit der Musikerin Diana Krall. Und Jürgen Kesting widmet sich der Kunst, Schubert zu singen.

In der Frankfurter Anthologie schreibt Ulrich Greiner über Richard Dehmels Gedicht "Im Sturm der Erinnerung":

"Der Sturm behorcht mein Vaterhaus,
Mein Herz klopft in die Nacht hinaus,
Laut; so erwacht ich vom Gebraus
Des Forstes schon als Kind..."

SZ, 29.09.2012

"Nicht kirre machen lassen", ruft Wolfgang Müller in der SZ am Wochenende den China-Alarmisten zu. Zwar ist China auf dem besten Weg, zur global führenden Wirtschaftsmacht aufzusteigen, doch bleibt die Strahlkraft westlicher Werte, die etwa auch im Arabischen Frühling eher eingefordert wurden als ein chinesischer Ein-Parteien-Staat, davon unberührt: "Auch eine kulturelle Ausstrahlung ist einstweilen fern. Noch kann einen, wenn man durch chinesische Städte streift, zwischen fragmentarischer Moderne und budenartigen Straßenrändern, eine brennende Italiensehnsucht übermannen. Es ist ein Treppenwitz: Während in Asien Debatten darüber beginnen, ob das eigene Bildungssystem nicht zu schmalspurig ist und warum es so wenig kreative Köpfe hervorbringt, ist der Westen dabei, die Wurzeln seiner Kreativität zu ersticken und wegzureformieren."

Außerdem: Christine Dössel besucht Peter Stein in Italien, der "beim Abendessen fast schon witzig-charmant" wird. Claudia Tieschky spricht mit der Schauspielerin Claudia Michelsen über deren Werdegang. Tommy Lee Jones diskutiert mit Antje Wewer nicht über seine Gagen. Abgedruckt ist außerdem die Erzählung "Wunderschöne Anblicke" von Bruno Preisendörfer.

Im Feuilleton staunt Willi Winkler nach der Lektüre von J. K. Rowlings neuem Roman darüber, dass ausgerechnet die reichste Frau Großbritanniens "die Sozialkritik (übt), die nicht nur in England als vorgestrig und unterkomplex gilt". Mit einiger Sorge beobachtet Laura Weissmüller die Infografik als "Medium der Stunde" in der Politik. Fritz Göttler schreibt den Nachruf auf Herbert Lom.

Besprochen werden Angela Richters auf Kampnagel in Hamburg aufgeführte Performance "Assassinate Assange", Til Schweigers neuer Film "Schutzengel", das neue Album von Seeed, zwei Stücke zum Saisonauftakt am Schauspiel Stuttgart, die Kassiber-Austellung im Literaturarchiv in Marbach und Vea Kaisers Roman "Blasmusikpop" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).