Heute in den Feuilletons

Avantgarde, statt retrogarde

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.02.2013. In der Welt findet Antje Ravic Strubel die Sexismusdebatte in Deutschland mehr als überfällig.  Schwulenehe ist möglich, aber keine Ehe zwischen Postkolonialismus und Homosexualität, berichtet die taz aus Frankreich. Die  Berlinale-Seiten der Zeitungen und des Perlentauchers feiern ein Wiedersehen mit River Phoenix in "Dark Blood". Die NZZ hat herausgefunden: Die DDR lebt, zumindest im Jazz. Im NYRBlog rät Nicholson Baker, nicht übers Träumen zu schreiben, sofern man weiterträumen will. Die FAZ erzählt, wie Springteufel Berlusconi die italienische Politik ruiniert.

Welt, 15.02.2013

Auf dem Rückflug von Helsinki nach Deutschland denkt Antje Ravic Strubel über die laufende Sexismus-Debatte nach, die sie überfällig findet: "Ich kehre zurück in ein Land, für das ich mich im Ausland rechtfertige. Rechtfertigungen, die nicht selten zu Verrenkungen führen. Wie erkläre ich denn eine Institution wie die Akademie der Künste, die mit ihren sechzig Männern und sechs Frauen schon lange keine Realität mehr abbildet, oder die Akademie für Sprache und Dichtung mit zweihundertfünfzig zu fünfzig? Sollte nicht wenigstens die Kunst - ihrer Zeit voraus - gesellschaftliche Möglichkeitsformen beherrschen: avantgarde, statt retrogarde? Wie erkläre ich eine Formulierung wie 'bekennende Feministin', die offenbart, dass es in Deutschland als rufschädigend oder geschmacklos gilt, feministisch zu sein"?

Die französischen Kommunisten haben Hammer und Sichel aus ihren Parteiausweisen verbannt, meldet Sascha Lehnartz, stattdessen "prangt dort nun die relativistische Zuordnung 'Gauche européenne' (Europäische Linke). Dieser schlagartige Identitätsverlust verunsicherte einige altgediente Kempen dann doch, denn Mitglied der 'Gauche européenne' ist schließlich fast jeder - neuerdings sogar schon jeder fünfte FAZ-Herausgeber."

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte berichtet von einer Diskussion auf der Berlinale, wo man die Überlegenheit amerikanischer Fernsehserien über Hollywoodfilme diskutierte. Thomas Abeltshauser erlebte beim Berlinale Talent Campus den Auftritt einer echten Diva: Anita Ekberg. Andrea Backhaus stellt ein Ensemble vor, das sich aus Musikern aus den Anrainerstaaten des Nils zusammensetzt: Das "Nile Project" soll Ägypten daran erinnern, dass ihm der Nil nicht allein gehört und es "will ein 'kulturelles und ökologisches Bewusstsein' bei den Menschen in den Nilländern schaffen". Mara Delius schreibt zum Tod des amerikanischen Philosophen Ronald Dworkin. Thomas Schmid schreibt zum Tode des Philosophen Krzysztof Michalski.

Besprochen werden Åke Edwardsons Krimi "Die Rache des Chamäleons", Günther Rüthers Buch über "Literatur und Politik" und Emir Baigazins Wettbewerbsfilm "Harmony Lessons".

Perlentaucher, 15.02.2013

Aus unserer Berlinale-Kolumne: George Sluizers Spätwestern "Dark Blood" konnte nie fertiggestellt werden, weil zehn Tage vor Drehschluss Hauptdarsteller River Phoenix starb. Jetzt hat Sluizer die fehlenden Stellen durch ein voice-over ersetzt: "So ist aus 'Dark Blood' eine Filmsehnsucht eher als ein ästhetisches Ganzes geworden: ein Film, der fehlt", schreibt Nikolaus Perneczky.

Der kasachische Debütfilm "Harmony Lessons" von Emir Baigazin erzählt von einer Schule, in der Prügel an der Tagesordnung sind und die Älteren von den jüngeren Kindern für ein Syndikat Geld abpresen. Es ist ein "mit einiger Extravaganz (und durchaus ein wenig Gangster-Glamour) ausgestalteten Gesellschaftsbild", schreibt Lukas Foerster. "Eine Szene, in der erfolglose Geldeintreiber von ihren Vorgesetzten vermöbelt werden, wird unterbrochen von zwei Unterrichtsstunden: In der ersten lernen die Schüler über Ghandi und gewaltlosen Widerstand, danach steht Waffenkunde auf dem Lehrplan. Später im Film folgt, wie, um dem indischen Unabhängigkeitskämpfer gleich noch eine reinzuwürgen, eine Darwin-Lektion."

TAZ, 15.02.2013

Erst haben die Rechten gegen das Gesetz zur Homoehe protestiert, jetzt protestiert die radikale Linke, berichtet Christof Forderer aus Frankreich. Im Internetmagazin rue89 debattierte man über das Gesetz und über die Frage, ob es nicht des Postkolonialismus sei. Im Kern geht es um eine Aussage von Houria Bouteldja, der Sprecherin von "Indigenes de la Republique", die sich fragt, "ob es für dieses Gesetz in den Banlieues überhaupt eine Anwendung geben könne. Houria Bouteldja hatte nämlich behauptet, dass 'homosexuelle Identität' ein Luxus sei - den Armen genauso unerschwinglich 'wie Kaviar' - und die 'Ehe für alle' also nur für 'Weiße' interessant sein kann."

Weiteres: Marlene Halser porträtiert den bayrischen Kabarettisten Helmut Schleich, der einen gruselig-genialen Franz Josef Strauß zu geben imstande ist und in diesem Jahr den Deutsche Kleinkunstpreis erhält. Als digitales Folk-Meisterwerk wird das Album "News from Nowhere" des britischen Elektronik-Trios Darkstar gefeiert.

Im Berlinaleteil lässt sich Andreas Busche von Bruno Dumont das Konzept von dessen Film "Camille Claudel 1915" erläutern: "Meine Aufgabe besteht darin, die harsche Realität von Camille Claudels Leben zu beschreiben. Auf die Gefühle des Zuschauers kann ich dabei keine Rücksicht nehmen." Alle Besprechungen finden Sie hier.

Und Tom.

NZZ, 15.02.2013

Stefan Hentz spürt dem Einfluss des DDR-Jazz auf die jüngere Generation von Jazz-Musikern nach: "So sehr sie selbst den Einfluss des DDR-Jazz von sich weisen, ist ein Echo dieser speziellen Spielweise bei einer ganzen Reihe von Musikern vor allem der jüngeren Berliner Szene noch immer wahrzunehmen; eine allgemeine Tendenz zur Polystilistik wird hier durch das Erbe des DDR-Jazz eingetönt."

Gabriele Detterer freut sich, dass der Basler Messeneubau von Herzog und de Meuron nach einjähriger Verzögerung nun fertiggestellt ist: "Nicht mehr nur als 'Brücke nach Europa', wie noch in den 1980er Jahren, definiert sich die Messe Basel heute, sondern als 'Global-Live-Marketing-Unternehmen'. Der Wille, Ellenbogen zu zeigen, ergänzte sich aufs Beste mit dem Willen der Architekten, auf dem Messeareal mit halben Sachen aufzuräumen und ein Ganzes zu schaffen."

Besprochen werden die Ausstellung "Stalingrad" im Militärhistorischen Museum in Dresden ("Der Dreck, das Blut, der Hunger, die Leichen erleiden das Schicksal jeder Musealisierung: Ihre Drastik wird gedämpft", schreibt Joachim Güntner), die Giacometti-Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle und Ekkehard Josts Buch mit "Jazzgeschichten aus Europa" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 15.02.2013

Einen sehr schönen Blogeintrag übers Träumen hat Nicholson Baker für die New York Review of Books geschrieben. "The letter O is a good dream letter. It begins the word 'oneiric,' which is a dark interesting sharp-edged word that college professors used to use in class in place of 'dreamlike.' I used to dream fairly frequently and oneirically that my mouth was full of masses of unchewable, exhausted, flavorless chewing gum. I realized that what I was dreaming about was my own boring tongue. I wrote about this dream in a novel and because I wrote about it, the dream stopped recurring and I missed it."

(Von Gizmodo empfohlen) Die Originalversion des Songs ist zwar schöner, aber es ist immer noch Clarence Carter.


Stichwörter: New York, Dreamer

SZ, 15.02.2013

Sehr spannend findet Alex Rühle die von Okwui Enwezor und Rory Bester kuratierte Ausstellung über "Aufstieg und Fall der Apartheid" im Münchner Haus der Kunst: "Eine der Stärken der Ausstellung besteht darin, den unspektakulären Alltag gegen die immer krasseren Nachrichtenbilder zu verteidigen. Das fängt schon an mit den Aufnahmen aus Drum, einer Zeitschrift, die in den Fünfzigerjahren gegen die ethnografische Inszenierung der Schwarzen als Ureinwohner selbstbewusste Aufnahmen der urbanen Kultur setzte: die junge Miriam Makeba, die selbstversunken, mit geschlossenen Augen singt. Tanzende Paare. Modestrecken. Ernest Coles Reportageserien über Minenarbeiter." Ein Beispiel finden wir hier.

Weitere Artikel: Amin Farzanefar sah beim Filmfestival in Teheran nicht nur neues iranisches Kino, sondern musste sich auch viel antisemitische Propaganda in Nebenveranstaltungen anhören. Den Protest gegen die neue Bildersuche von Google, die ihre Ergebnisse nicht mehr als komplette Website, sondern per Deeplinking direkt anzeigt, findet Kevin Knitterscheidt zwar sympathisch, wenngleich ihm nur eine Strategie wirklich effektiv erscheint: "Geschlossen auf Google-Auffindbarkeit zu verzichten". Alexandra Kemmerer schreibt den Nachruf auf den Philosoph Ronald Dworkin.

Besprochen werden die von Calixto Bietio inszenierte und von Kent Nagano dirigierte Opernaufführung von "Boris Godunow" in München (wo das Publikum, "das ist in München Seltenheit, kein einziges Buh ertönen" lässt, berichtet Reinhard J. Brembeck), der neue, im Berlinale-Forum gezeigte Film von James Benning, weitere Wettbewerbsfilme der Berlinale, zwei Tolstoi-Stücke am Theater Hannover, Oskar Roehlers neuer Film "Quellen des Lebens" und Bücher, darunter "Demokratie" von Michael Hardt und Antonio Negri (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 15.02.2013

Dirk Schümer legt einen deprimierenden, aber instruktiven Essay über Springteufel Berlusconi und seine Aussichten im italienischen Wahlkampf vor. Zwar glaube keiner daran, dass er wiedergewählt werde: "Doch seine Strategie richtet sich auf die Unregierbarkeit des Landes, die ein von ihm selbst erdachtes Wahlsystem bequem ermöglicht." Schümer verweist auf einen Dokumentarfilm des ehemaligen Economist-Redakteurs Bill Emmott, der die traurige Lage in Gesprächen mit Intellektuellen erhellt und in Italien großes Aufsehen erregt (hier das Blog zum Film).

Weitere Artikel: Edo Reents ist erschüttert über einen ARD-Film zu den Arbeitsbedingungen bei Amazon, fürchtet aber, dass da nicht viel zu machen ist, "denn Amazon ist, wie Google, McDonald's oder Coca-Cola, die Verkörperung eines amerikanischen Universalismus, der sich bisher als unverwundbar erwiesen hat, auch wenn er noch so viele Kollateralschäden verursacht". Manfred Lindinger annonciert für heute Abend einen Fasteinschlag eines Meteoriten. Constanze Kurz fragt in ihrer "Maschinenraum"-Kolumne, was in Echtzeit ins Internet gestellte Satelllitenfotos für die Privatsphäre bedeuten könnten. Andras Kilb erlebte bei der Berlinale einen Auftritt Anita Ekbergs. Wolfgang Schneider besuchte die Geburtstagsfeier für F.C. Delius im Literarischen Colloquium in Berlin. Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite unterhält sich Jordan Mejias mit Jonas Kaufmann, der in der Met den Parsifal gibt. Patrick Bahners schreibt zum Tod von Ronald Dworkin. Und Jürgen Dollase geht bei Johannes King im Sölringhof auf Sylt essen. Auf der Medienseite stellt Jürg Altwegg die neue Chefredakteurin von Le Monde, Natalie Nougayrède, vor.

Besprochen werden eine Yoko-Ono-Retro in der Schirn, eine Ausstellung über Herodes in Jerusalem, ein "Boris Godunow" unter Kent Nagano und Calixto Bieito in München und Bücher, darunter Camille de Perettis Roman "Der Zauber der Casati" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).