Heute in den Feuilletons

Durchgeknallte Synapsen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.06.2013. FAZ, taz und Zeit online berichten aus Istanbul, wo die städtische Jugend erstmals massiv gegen den frommen Autoritarismus Tayyip Erdogans aufbegehrte. Der Streit um Suhrkamp geht weiter: Heute antwortet eine ungenannte Zeitung aus Frankfurt auf einen ungenannten Journalisten aus München. Die Welt schickt ein letztes Psychogramm der Bewegung gegen die Schwulenehe in Frankreich. Und Stefan Niggemeier fragt: Ist Springer etwa ein Startup?

Weitere Medien, 03.06.2013

Der Istanbuler Kurator und Autor Vasif Kortun erklärt im Interview mit Zeit online, woran sich die Proteste gegen die Regierung von Tayyib Erdogan entzündet haben: "Die AKP-Regierung baut seit Langem Druck auf. Schon am 1. Mai dieses Jahres ging die Polizei brutal gegen Demonstranten vor. Seitdem werden Versammlungen stark eingeschränkt, die Polizei reagiert meist sofort mit dem Einsatz von Tränengas. Vor Kurzem wurde zudem ein Gesetz erlassen, das den Alkoholkonsum stark einschränkt. Das ist nur ein Beispiel von vielen: Solche Gesetze hindern einen Teil der Bevölkerung daran, zu leben, wie sie möchten."

Auch in Berlin demonstrierten einige tausend Menschen gegen die AKP Erdogans, berichtet in der taz Canset Icpinar. Selbst in den USA und UK unterstützt man die türkischen Demonstranten, meldet ondt.

Welt, 03.06.2013

Sascha Lehnartz warnt in einer längeren Reportage aus Frankreich davor, die Demonstranten gegen die Homoehe als bloße Extremisten anzusehen: "Die Heterogenität der Bewegung machte ihre Stärke aus. Weil sie nicht auf einen Nenner zu bringen ist, kann die Regierung sie nicht so leicht abtun - und die Opposition sie nicht vereinnahmen. Doch nun, da die Niederlage festzustehen scheint, drohen die unterschiedlichen Kräfte der 'Manif pour tous' in verschiedene Richtungen zu driften."

Weitere Artikel: Dankwart Guratzsch geißelt die ignorante Denkmalschutzpolitik der rotgrünen NRW-Regierung, die nun eines der bedeutendsten Gebäude Dortmunds preisgibt, das Oberbergamt von 1870.

Besprochen werden Georg Friedrich Haas' Oper "Thomas" in Schwetzingen, Nicolas Stemanns Theaterspektakel "Kommune der Wahrheit" bei den Wiener Festwochen und der Dokumentarfilm "Haus Tugendhat".

Im Forum insistiert Cora Stephan, dass Freiheit - gegen moralisierende Verfechter einer "Freiheit zu" - ohne Einschränkung zu verteidigen sei. Und Richard Herzinger kommentiert den russischen Sieg über amerikanische Untätigkeit im Syrien-Konflikt, der de facto zu einer russisch-iranischen Achse in der Region geführt habe. In der Welt am Sonntag verteidigt Andreas Rosenfelder duie Drohne gegen die kritische Herolde der Soldatenehre.

Einen weiteren Überblick über ihre Print-Artikel bietet die Welt unter diesem Link.

NZZ, 03.06.2013

In der Punk-Ausstellung des Metropolitan Museums in New York hat Andrea Köhler viel Chic erlebt - von Vivienne Westwood, Comme des Garcons und Martin Margiela -, aber nichts von der "Freiheit der Straße" und der Ehrlichkeit des Untergrunds: "Ein bisschen Provokation darf sein. Doch muss man all die kunstvoll arrangierten Klopapierrollen, Müllsäcke oder Spritzen nicht allzu ernst nehmen, sie sind nichts weiter als eine aparte Kulisse - auch wenn das versiffte Unisex-Klo des legendären Klubs CBGB in der Bowery mit seinen Graffiti-besprühten Pissoirs beflissen nachgebaut wurde. Nicht reproduziert in diesem sonst sehr detailfrommen Faksimile wurde der durchdringende 'Gestank nach Hundescheiße', den der Punkpionier Richard Hell in seinen Memoiren heraufbeschwört und dessen sich der Kritiker der Paris Review als 'eine subtile Mischung aus Urin, verschüttetem Bier, Körpergeruch, gekochtem Fleisch und durchgeknallten Synapsen' erinnert."

Weiteres: Marc Zitzmann besucht das boomende Montpellier, das um ganz Viertel wächst und mit neuen Bauten von Zaha Hadid, Jean Nouvel und Massimiliano Fuksas aufwarten kann. Besprochen werden die Jubiläumsaufführung von Strawinskys "Sacre du printemps" am Pariser Théâtre des Champs-Elysée und eine Aufführung von Wolfgang Mitterers "Faust-Requiem" in St. Gallen.

Aus den Blogs, 03.06.2013

(Via Medialdigital) Diese Grafik aus dem Read Write Web zeigt den Anstieg der mobilen Nutzung des Internets. Wir sind inzwischen bei 15 Prozent. Und es wird so weitergehen, kommentiert Dan Rowinski: "There are 1.5 billion smartphones users in the world, or about a 21% penetration rate of mobile users. Compared to the nearly 5 billion global cellphone users, smartphones still have a long road to climb. Believe it or not, in the big picture, smartphones are still in the early stages of adoption."

Es gibt immer mehr Belege, dass der Wirtschaftsminister dem Springer Verlag gehört. Neulich kursierten Fotos, die Röslers Umarmung mit Bild-Chef Kai Diekmann zeigten. Hier nun Rösler Arm in Arm mit Springer-Lobbyist Dietrich von Klaeden. Wie kam der eigentlich in die Regierungsmaschine, wo Rösler für seine Reise ins Silicon Valley doch eigentlich nur Startups hatte einladen wollen, fragt Stefan Niggemeier in seinem Blog.

TAZ, 03.06.2013

Sehr aufschlussreich findet Damian Zimmermann die Ausstellung "Von Mensch zu Mensch" im Kölner Wallraf-Richartz-Museum, die den Maler Wilhelm Leibl neben den Fotografen August Sander stellt: "Leibl war von der Fotografie fasziniert, nutzte sie als Vorlage für eigene Gemälde und verzweifelte zugleich an ihrer Genauigkeit, hatte er doch zeit seines Lebens mit Unstimmigkeiten bei Perspektive und Proportionen zu kämpfen. Sander hingegen wollte ursprünglich Maler werden, kam aber offensichtlich als Assistent eines Bergwerksfotografen auf den Geschmack: 'Die Photographie hat uns neue Möglichkeiten und andere Aufgaben als die Malerei gegeben. Sie kann die Dinge in grandioser Schönheit, aber auch in grauenhafter Wahrheit wiedergeben, kann aber auch unerhört betrügen.'"

Weiteres: Michaela Karl erinnert an die Sufragette Emily Wilding, die vor hundert Jahren starb, weil sie sich beim Pferderennen von Epsom vor das Pferd Georges V. warf. Catarina von Wedemeyer liest Texte zu Europa in der Gazette und im Wespennest. Sophie Jung bespricht Owen Hatherleys Essay über Pulp und Jarvis Cocker "These Glory Days".

Auf den vorderen Seiten berichtet Jürgen Gottschlich ausführlich über die Demonstrationen in Istanbul (hier und hier). In einem Kommentar bewertet er den Konflikt um den Gezi-Park auch als Abrechnung mit der Regierung Erdogan: "Statt eines Angebots zum Dialog kamen die Polizeischläger im Morgengrauen. Doch dieses Mal hat die eigene Arroganz Erdogan in die Irre geführt. Der Konflikt um den Gezi-Park wurde zur Abrechnung mit dem Alkoholverbot, der Repression an den Universitäten, der Unterdrückung der Meinungsfreiheit und der Dreistigkeit, mit der seine Partei, die AKP, sich das gesamte Land anzueignen versucht." Auf der Medienseite berichtet Knut Henkel, dass Kuba jetzt auch über ein Glasfaserkabel verfügt, das auch - gegen entsprechend happige Gebühren - der allgemeinen Bevölkerung zur Verfügung stehen soll.

Und Tom.

FAZ, 03.06.2013

Karen Krüger spaziert am Morgen nach den Demonstrationen in Istanbul, bei denen es zwei (laut Staat) oder sechs (laut Istanbuler) Tote gegeben hat, über den Taksim Platz. Die Demonstranten sind müde, dabei hat der Protest gegen die Regierung Erdogan erst angefangen: "'Wir haben viel zu lange zugeschaut, was Erdogan mit diesem Land macht', sagt Emre. Für ihn ist der Protest ein Protest gegen Erdogans wachsenden Despotismus. Gegen seine Politik, in der Polizeigewalt, Justizwillkür und die Missachtung von Menschenrechten zum Tagesgeschäft gehört."

Weitere Artikel: Sandra Kegel berichtet vom Rand der Autorentagung bei Suhrkamps, dass erstens Hans Barlach von einem Zürcher Gericht verurteilt wurde, noch fünf Millionen Franken an Andreas Reinhart zahlen zu müssen, der ihm seine Suhrkamp-Anteile verkauft hatte. Und außerdem sollen die Erben des Wella-Konzerns daran interessiert sein, Anteile von Barlach an Suhrkamp zu übernehmen. In der Leitglosse weist Michael Hanfeld beleidigt Gustav Seibts Kritik an der Suhrkampberichterstattung der FAZ zurück und nennt dabei den Namen des SZ-Autors nicht, der aber seinerseits eine ungenannte Zeitung aus Frankfurt kritisiert hatte. Detlef Borchers erzählt den Dokumentarfilm "We steal Secrets: The Story of Wikileaks" nach. Vor fünfzehn Jahren starben beim Zugunglück von von Eschede 101 Menschen, erinnert Roman Grafe, die Angehörigen speiste die Bahn mit je 15.000 Euro ab, "Millionenbeträge" zahlte sie dagegen "an diverse Versicherungen, um Zivilprozesse zu verhindern, in denen das Verschulden des Staatsbetriebes hätte festgestellt werden können". Michael Freund berichtet vom Comic-Festival in München. Jan Wiele gratuliert der Literaturzeitschrift Text + Kritik zum Fünfzigsten. Dietmar Dath schreibt zum Tod des Fantasy- und Krimi-Autors Jack Vance.

Besprochen werden Nicolas Stemanns "Wirklichkeitsmaschine" bei den Wiener Festwochen und Bücher, darunter die Autobiografie des Lyrikers Hans-Jürgen Heise (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 03.06.2013

"Teils groteske, teils erklärende Pointen" sieht Andreas Zielcke im Zürcher Gerichtsurteil (mehr), das Hans Barlach zur Zahlung seines von Claus Grossner übernommenen Suhrkamp-Anteils verpflichtet. Verweigert hatte Barlach sie bislang mit dem Argument, im Vorfeld über das Konfliktpotenzial mit der Familienstiftung nicht hinreichend informiert worden zu sein: Doch hat er "selbst einen heftigen Konfrontationskurs gefahren, der zwar auch auf die brüske Trotz-und Abwehrreaktion von Ulla Berkéwicz antwortete, aber schnell zur frontalen Kriegsführung überging. Das 'Konfliktpotenzial', das er geltend macht, geht zum beträchtlichen Teil auch auf ihn zurück."

Außerdem: Kurz und bündig stellt Catrin Lorch die ganz auf Vergänglichkeit setzende Kunst des deutsch-britischen Künstlers Tino Sehgal vor, der gerade in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde (mehr): "Sehgal hat konzeptuelle Ansätze der Siebzigerjahre mit der Tradition der Performance verbunden, er stellt keine Objekte her, sondern Situationen." In Worms debattiert man über den geplanten Bau des "Haus am Dom", informiert Karin Leydecker (hier die Argumente der "Haus"-Gegner).

Besprochen werden die Ausstellung "Overdrive: L.A. constructs the Future, 1940-1990" in Los Angeles (bei der Peter Richter erkennt, dass der heutige Moloch Los Angeles einst mit besten Absichten so gebaut wurde), eine Ausstellung über nordische Malerei in der Kunsthalle der Münchner Hypo-Kulturstiftung, Volker Löschs "grotesk verzerrte" Variante der "Orestie" am Schauspiel Stuttgart, eine Aufführung von Peter Cerhas Oper "Onkel Präsident" im Gärtnerplatztheater in München, Barbara Alberts Film "Die Lebenden" und die ersten Bände der gesammelten Tagebücher von Ferdinand Beneke (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).