Heute in den Feuilletons

Das Abschlagen aller Serifen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.06.2013. Der Schauspieler John Cusack wundert sich in seinem Blog auf HuffPo über den massiven Backlash gegen den Whistleblower Edward Snowden. Und Reuters hat herausgefunden, dass sich der Wunsch, Whistleblower zu bestrafen, umgekehrt proportional zu deren Dienstrang  verhält. Die NZZ staunt über islamische Konsumkultur in der Türkei. Die SZ bewundert Typografien ohne Individualität. Und in der FAZ beklagt Gerhart Baum das allgemeine deutsche Desinteresse an Netzneutralität und Datenschutz.

Aus den Blogs, 19.06.2013

(via BoingBoing) John Cusack, Schauspieler und Mitglied der Freedom of the Press Foundation, beschreibt in der Huffington Post mit einiger Bitterkeit den Backlash, den es gegen den Whistleblower Edward Snowden von rechts bis links inzwischen gibt: "Mika Brzezinski von MSNBC behauptet dass Glenn Greenwalds Berichterstattung 'irreführend' und er 'zu nah an der Geschichte' sei. Snowden sei kein Whistleblower und Glenn kein Journalist, meint sie. Im New Yorker beschimpft Jeffrey Toobin Snowden als 'grandiosen Narziss, der das Gefängnis verdient hat'. Ein anderer Journalist, Willard Foxton, setzt Glenn Greenwald mit dem Führer eines 'gruseligen Kults' gleich. In der New York Times klagt David Brooks Snowden - nicht die Regierung - des Verrats an praktisch allem an, von der Verfassung bis zur amerikanischen Privatsphäre... Michael Grunwald scheint im Time Magazine der Ansicht zu sein, dass wer gegen das Spionageprogramm der NSA ist, Amerika unsicherer machen möchte. Und dann ist da Richard Cohen, der in der Washington Post, wie Gawker aufzeigt, fast die Auffassung zu vertreten scheint, es sei der Job eines Journalisten, Regierungsgeheimnisse zu bewahren, nicht über sie zu berichten."

Bei Reuters erinnert Jack Shafer daran, dass viele Whistleblower nie angeklagt oder gar bestraft werden - wenn sie nämlich aus den Reihen der Regierung selbst kommen, um mit ihren Leaks gezielt die politische Debatte zu beeinflussen. Als Beispiel nennt er eine Artikelreihe in der New York Times, die 2005 über ein geheimes Überwachungsprogramm noch unter Bush berichtete: "Die Artikelreihe von James Risen und Eric Lichtblau in der Times löste im Weißen Haus unter Bush eine Stinkwut aus, aber niemand wurde wegen Geheimnisverrats angeklagt, weil die Artikel sich selbst (akkurat, nehme ich an) als Produkt eines intensiven internen Regierungsstreits beschrieben. Wie Risen und Lichtblau schrieben, sprachen fast 'ein Dutzend ehemalige und aktive Regierungsmitglieder' anonym mit der Zeitung über das Programm, 'weil sie sich über die Rechtmäßigkeit und das Ausmaß des Programms Sorgen machten'. Die Bereitschaft der Regierung, Whistleblower zu bestrafen hat, verhält sich spiegelbildlich zu deren Rang und Status. Das sind schlechte Nachrichten für Edward Snowden, der keins von beidem hat."

Bei Daily Beast ist Kristen Powers angeekelt von der Art, wie Snowden als aufschneiderischer Highschoolabbrecher niedergemacht wird: "It says something about the lack of a positive case for keeping the NSA spying programs secret that the main line of defense is to attack Snowden for lacking the proper credentials to speak out against the government."

TAZ, 19.06.2013

Mit der Psychologie hat es Zack Snyder nicht so, stellt Dirk Knipphals fest, weswegen er vom neuen Superman-Film "Man of Steel" auch nicht sonderlich begeistert ist: "Wer braucht Superhelden, die keine inneren Anfechtungen bestehen müssen?" Astrid Kusser schreibt zu den landesweiten Protesten in Brasilien, die durch eine Erhöhung der Fahrpreise ausgelöst wurden. Silke Burmester muss in ihrer Medienkolumne durch ihre "Herren-Lob-Tage".

Besprochen werden das Münchner Kunstprojekt "A Space called Public" des schwedischen Künstlerduos Elmgreen & Dragset sowie das Aufklärungsbuch "Kriegen das eigentlich alle?" von Antje Helms und Jan von Holleben (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 19.06.2013

Gerhard Gnauck erzählt, dass das öffentlich-rechtliche polnische Fernsehen die in Polen stark kritisierte Weltkriegsschmonzette "Unsere Mütter Unser Väter" ausstrahlt, damit sich die Polen ein eigenes Bild von den deutschen Polen-Bildern machen können. Alan Posener kann Barack Obama in seiner Kolumne "J'accuse" doch noch dies und das abgewinnen. Besprochen werden der neue Superman-Film "Man of Steel" und ein neues Album des Rappers Kanye West.

NZZ, 19.06.2013

Islamischer Konsum ist nicht nur trendy, weiß Veronika Hartmann aus der Türkei zu berichten, sondern auch profitabel: "Im Bankensektor hofft man auf schwindelerregende Umsatzraten durch schariakonforme Produkte, die zinsfrei funktionieren. Es locken muslimische Wohnanlagen ebenso wie Ferienresorts oder luxuriöse Amüsierlokale mit viel Tamtam, aber ohne Alkoholausschank. Im Lebensmittelsektor machen sich Produkte breit, die halal sind, also nach dem muslimischen Reinheitsgebot produziert. Seit einem Jahr gibt es sogar eine Kosmetikmarke, die halal ist. 'Wir verwenden keinen Alkohol, keine chemischen Zusatzstoffe, keine Tierversuche und keine Produkte, die aus Embryonen gewonnen werden', erklärt Seref Balci, der Vertriebsleiter der Kosmetiklinie Mihri."

Ingeborg Waldinger porträtiert den österreichisch-polnischen Schriftsteller Radek Knapp, der seine Romane am Schreibtisch von Stanislaw Lem schreibt und auf dem Kutschkermarkt Marmelade aus der Wachau verkauft.

Besprochen werden Franz Welser-Mösts Inszenierung von "Tristan und Isolde" an der Wiener Staatsoper ("Ästhetisch ist das Wagner-Gesang von gestern", ächzt Peter Hagmann), Christina Wesselys Geschichte des "Welteis", eine Neuübersetzung von Michail Bulgakows "Das hündische Herz" und Hellmut Flashars Band über Aristoteles (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 19.06.2013

Bei einer Ausstellung im Bauhausarchiv Berlin über Typografie im Wandel der Zeit prüft Laura Weissmüller unterschiedliche Schriftarten auf ihr zeitdiagnostisches Potenzial hin ab. Insbesondere Paul Renners Futura nimmt sie gefangen: "Hier (...) scheint tatsächlich alles Individuelle rausgebürstet worden zu sein. Kein Fitzelchen Persönlichkeit haftet da mehr an den Balken oder besser: der Charakter betoniert sich in akkurater Rechtwinkligkeit. Denn natürlich entsprach auch das Abschlagen aller Serifen und schwungvollen Punzen, der Innenflächen der Buchstaben, dem Zeitgeist."

Außerdem erfährt Helmut-Martin Jung aus einem öffentlichen Gespräch mit George Lucas und Steven Spielberg an der Universität von Südkalifornien, dass die beiden den erzählerischen Möglichkeiten von Computerspielen skeptisch gegenüberstehen und - welch' Ironie des Schicksals - das Kino von Blockbustern bedroht sehen. Einen Überblick über die Diskussionen, die insbesondere die letzte Äußerung in der englischsprachigen Filmwelt ausgelöst hat, bietet David Hudson auf Keyframe Daily.

Besprochen werden neue Popveröffentlichungen, Zack Snyders Superman-Adaption "Man of Steel", eine Aufführung von Helmut Oehrings "Aschemond oder The Fairy Queen" an der Staatsoper Berlin, Falk Richters "For the Disconnected Child an der Schaubühne Berlin, Manuel Fiors Comic "Die Übertragung" und Isabella Straubs Roman "Südbalkon" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 19.06.2013

Die deutsche Telekom schafft die Netzneutralität ab. Die amerikanischen Geheimdienste überwachen den gesammelten internationalen Telefon- und Internetverkehr, aber im ohnehin recht lauen Wahlkampf regt sich kein Lüftchen, staunt der große alte Liberale Gerhard Baum: "Wie steht es mit dem Bewusstsein der Parteien? Auf keinem der Wahlparteitage hat dieses Thema eine vorrangige Rolle gespielt, meistens sogar überhaupt keine. Auch in der Bevölkerung bewegt sich viel zu wenig."

Weitere Artikel: Dietmar Dath wirft einen Blick auf die Zukunft des Kinos im Netz, das sich unter seinem dialektisch-materialistischen Blick auch nur als eine Volte des entfalteten Kapitalismus entpuppt. Fridtjof Küchemann amüsiert sich über ein Projekt des Internetkonzerns Google, der per Stratophärenballons WLAN in abgelegene Weltgegenden bringen will (und dabei natürlich nur an seine Kleinanzeigen denkt). Michael Hanfeld beharrt trotz allem auf der kulturellen Ausnahme. Abgedruckt wird Peter Sloterdijks Dankrede für den Börne-Preis, in der weder Europa noch den Vereinigten Staaten eine besonders günstige Diagnose ausgestellt wird.Wolfgang Sandner besuchte den Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerb in Bamberg. Karen Krüger berichtet aus Istanbul über die neueste Protestform: Stehen und schweigen.

Besprochen werden Gus van Sants Anti-Fracking-Film "Promised Land" mit Matt Damon und einige Bücher, darunter Wulf Segebrechts Anthologie "Deutsche Balladen" (mehr hier und in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).