Heute in den Feuilletons

Höchsten Heiles Wunder

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.10.2013. Evgeny Morozov sieht uns in der FAZ auf dem Weg in die dystopische Zukunft des präemptiven Regierens. In der Welt verneigt sich Sonja Margolina vor Swetlana Alexijewitsch, die morgen den Friedenspreis erhält. Die NZZ stellt mit Sigismund Krshishanowski einen unbekannten russischen Autor vom Rang Vladimir Nabokovs vor. Die Golfstaaten wollen Immigranten künftig maximalinvasiven Untersuchungen auf Homosexualität unterziehen, meldet Spon. Und die SZ berichtet von Attacken auf Luiz Ruffatos Eröffnungsrede der Frankfurter Buchmesse.

NZZ, 12.10.2013

In Literatur und Kunst stellt Felix Philipp Ingold Sigismund Krshishanowski (1887-1950) vor, einen russischen Schriftsteller vom Rang Vladimir Nabokovs, der gleichwohl weitgehend unbekannt ist. Denn während Nabokov ins Exil ging und literarischen Weltruhm erlangte, blieb Krshishanowski in der Sowjetunion und produzierte "rund 3500 Seiten hochrangiger Kunstprosa" für die Schublade: "Nicht beachtet, nicht unterstützt, nicht zugelassen, nicht erwähnt und nicht einmal kritisiert zu werden - Krshishanowski konnte sich seiner literarischen Existenz nur ex negativo versichern und wurde deshalb nach eigenem Bekunden nur sich selbst bekannt als der, der allen andern unbekannt bleiben musste. Tatsächlich fehlt Krshishanowskis Name noch heute in den maßgebenden (auch russischen) Literaturgeschichten, und durch Übersetzungen ist er bisher lediglich in Frankreich und im angelsächsischen Raum eingeführt."

Weiteres: Ilma Rakusa porträtiert die designierte Friedenspreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Peter Bürger ergründet das künstlerische Programm Max Beckmanns anhand von dessen theoretischen Schriften. Rolf E. Keller referiert die Sozialgeschichte der Schweizer Künstler zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert.

Im Feuilleton informiert Marion Löhndorf über die Konjunktur "wirklichkeitsbezogener, sozialkritischer oder satirischer Musicals" an Londoner Bühnen. Christian Jaekl fasst die kanadische Resonanz auf den Literaturnobelpreis für Alice Munro zusammen. Uwe Justus Wenzel berichtet aus dem Sachbuchbereich der Frankfurter Buchmesse.

Besprochen werden Jane Campions TV-Miniserie "Top of the Lake" ("überzeugendes Kino - nicht mehr, aber auch nicht weniger", findet Claudia Schwartz , zu sehen am 7. und 14. November auf Arte), Olivier Pys Pariser Jubiläumsinszenierung von "Aida" (die auf Peter Hagmann "ebenso spannend wie irritierend" wirkt) und Bücher, darunter Victor Zaslavskys Lebensgeschichten "Der Sprengprofessor" (mehr in unserer Bücherschau heute um 14 Uhr).

Weitere Medien, 12.10.2013

Männer aus dem Westen, die sich in den Golfstaaten um eine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung bewerben, sollen künftig "medizinischen Tests" unterzogen werden, um festzustellen, ob sie homosexuell sind. Das kündigte laut Spon Jusuf Midkar vom kuwaitischen Gesundheitsministerium an: "'Wir werden strikte Maßnahmen ergreifen, die uns helfen, Schwule zu enttarnen. Diese werden dann daran gehindert, nach Kuwait oder in andere Staaten des Golf-Kooperationsrats (GCC) einzureisen', sagte Mindkar."
Stichwörter: Golfstaaten

TAZ, 12.10.2013

Daniel Bax fordert in der Diskussion um antirassistische Sprachregelungen das Überdenken rassistischer Tiefenstrukturen. Den Sprachbewahrern teilt er mit: "Zu behaupten, der Verzicht auf diskriminierende Begriffe mache sprachlos, ist genau so absurd wie die Befürchtung, dass Flirts nicht mehr möglich seien, weil Rainer Brüderles Dirndl-Äußerung skandalisiert wurde."

Radek Krolczyk spricht mit Martin Kircher, Gitarrist der Punkband EA80 und unter dem Pseudonym "Killerlady" als Fotograf und No-Music-Performer tätig (mit aktueller Ausstellung in Bremen), der klassische Punk-Shows schon lange nicht mehr für Punk hält: "Ich vermeide Routine... Was man hört sind lediglich Klangmodulationen einer präparierten Orgel."

Außerdem: Thomas Winkler unterhält sich mit dem Schriftsteller T.C. Boyle. Fatma Aydemir und Andreas Fanizadeh schlendern über die Frankfurter Buchmesse. Alem Grabovac wirft Schriftstellerin Sibylle Berg Stichworte zu. Anne Haeming unterhält sich mit den Geschwistern Selma Wels und Inci Bürhaniye, die mit ihrem Verlag Binooki deutsche Übersetzungen türkischer Literatur auf den Markt bringen. Simone Schmollack besucht den glänzend aufgelegten Schauspieler Wolfgang Grossmann.

Besprochen werden die Ausstellung "Kindheit. Eine Erfindung des 19. Jahrhunderts" im Baden-Badener Museum für Kunst und Technik, die Ausstellung "Körnelia - Goldrausch" in der Berliner Galerie Körnerpark, eine Ausstellung über Hermione von Preuschen in der Galerie im Tempelhof Museum, das am Rande von Protesten gesäumte Konzert des ägyptischen Orchesters Al Nour Wal Amal in Berlin und Bücher, darunter einzlkinds Roman "Gretchen" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 12.10.2013

In der Literarischen Welt verneigt sich Sonja Margolina tief vor Swetlana Alexijewitsch, die morgen für ihre "Literatur der Zeugenschaft" den Friedenspreis erhält. "Man würde aber Alexijewitsch nicht gerecht, verstünde man sie lediglich als eine Anwältin der Opfer und als eine Moralistin. Sie geht tiefer. Sie möchte begreifen, warum Menschen so sind, wie sie sind. Sie begibt sich ins Bestiarium, um die Grenzen der menschlichen Natur auszuloten. Mit diesem anthropologischen Ansatz sprengt Alexijewitsch den zeitlich und kulturell begrenzten Rahmen des Homo sovieticus... Die Ernüchterung über die unverbesserliche menschliche Natur kann Alexijewitsch nicht verbergen. Es gibt heute kaum einen anderen Schriftsteller russischer Sprache, der am Menschen mit seiner Unzulänglichkeit so verzweifelt und ihn so liebt, wie Swetlana Alexijewitsch."

Außerdem huldigt Thomas Schmid dem großen Italo Calvino und der lichten Schönheit seiner Werke. Besprochen werden unter anderem Liao Yiwus neuer Band "Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch" und Paul Toughs Erziehungsratgeber "Die Chancen unserer Kinder"

In der Kultur: Jan Küveler dokumentiert den nicht gesendeten Twitter-Feed von der Buchmesse. Hanns-Georg Rodek bereitet uns auf den Abschluss von Lars von Triers Depressions-Trilogie vor: Weihnachten kommt zumindest in Dänemark "Nymphomaniac" in die Kinos. Manuel Brug geht mit dem Schauspieler Tom Schilling im Prenzlauer Berg essen.

Aus den Blogs, 12.10.2013

(via boingboing) Jimmy Kimmel lässt Musiker gemeine Tweets über sich vorlesen:


SZ, 12.10.2013

Michaela Metz berichtet, dass es auf der Frankfurter Buchmesse nicht nur Lob für Luiz Ruffatos Eröffnungsrede gab, in der dieser die gesellschaftlichen Verhältnisse in Brasilien kritisiert hatte: "Es gab auch harsche Kritik, vor allem aus Brasilien, rechtslastige Flugblätter kursierten auf der Messe, sogar Drohungen erreichten den couragierten Redner. Einer der Kritiker in Frankfurt war der Karikaturist, Maler und Journalist Ziraldo ... Wenn er sein Land Brasilien nicht liebe, dann solle er doch gehen, hatte er Ruffato entgegengerufen, und für große Irritation gesorgt mit diesem Satz - der als Zitat aus den Zeiten der Militärdiktatur empfunden wird."

Außerdem: Geradezu gebannt bestaunt Johan Schloemann das neue bayerische Superministerium von Ludwig Spaenle, der mit satten 16 Milliarden Euro Budget über Kunst, Kultur, Bildung und Wissenschaft im Freistaat wacht. Auch über 20 Jahre nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regimes befassen sich osteuropäische Theatergruppen nur mit großer Angst mit den nicht aufgearbeiteten Geheimdienstverbrechen, erklärt Tim Neshitov. Schriftsteller Ingo Schulze freut sich, dass mit dem Nobelpreis für seine Berufskollegin Alice Munro eine Meisterin der kurzen Erzählung ausgezeichnet wurde: "Mir scheint, dass sie sich einmal für die Form der Story entschieden hat, weil sie diesen festen Boden braucht, um sich ganz und gar den menschlichen Eigenheiten und Abgründen stellen zu können."

Auf der Medienseite staunt Charlotte Parnack über die "professionelle Nüchternheit" mit der der erst vor wenigen Tagen freigekommene Journalist Armin Wertz von seinem halben Jahr in syrischer Haft erzählt.

Besprochen werden eine dem amerikanischen Künstler Richard Artschwager gewidmete Ausstellung im Münchner Haus der Kunst, eine von Mariss Jansons dirigierte Aufführung von Giuseppe Verdis "Requiem" ("Höchsten Heiles Wunder", frohlockt Reinhard J. Brembeck), Kilian Riedhofs Kinodebüt "Sein letztes Rennen" (der seinem Hauptdarsteller Dieter Hallervorden laut Susan Vahabzadeh "einen ganz wunderbaren Karriere-Höhepunkt beschert"), David Cages neues Videospiel "Beyond: Two Souls", für das sich auch Ellen Page und Willem Dafoe ein Stelldichein gaben, und Yannis Houvardas' (von Christine Dössel als "unausgegoren, seltsam schwerfällig" gescholtene) Inszenierung von Gerhart Hauptmanns "Die Ratten" am Münchner Residenztheater.

FAZ, 12.10.2013

Im Gespräch mit Jordan Mejias erklärt der Netztheoretiker Evgeny Morozov, worauf seines Erachtens Big Data und die NSA-Totalüberwachung hinauslaufen: "Für mich ist die NSA nur Teil eines viel größeren Problems, das ich in einer Art von präemptivem Regieren sehe, gestützt auf Voraussagen und Informationsanalysen, durch die Probleme entschärft werden sollen, bevor es Probleme sind... Dank der neuen technologischen Infrastruktur werden Probleme im Voraus gelöst, und zwar mittels Anreizen, die neue Verhaltensweisen hervorrufen. Für einen Technokraten ist das eine perfekte Sache. Nicht so für einen Demokraten, der sich denkende Bürger wünscht, die zwischen richtig und falsch zu unterscheiden wissen und fähig sind, sich an der Verbesserung des Systems zu beteiligen."

Weiteres: Christiane zu Salm zeigt eine Auswahl aus den rund 100 Lebensberichten, die sie als ambulante Sterbebegleiterin notiert hat. Bei der Hamburger Ausstellung "Dionysos. Rausch und Ekstase" vergisst Thomas Brock glatt, dass die Stadt "gerade mal fünfzig Weinstöcke oberhalb der Landungsbrücken an der Elbe ihr Eigen nennt". Besprochen werden Bücher, darunter der erste Band von Volker Ullrichs Hitler-Biografie (mehr in unserer Bücherschau heute um 14 Uhr).

Dass mehrere britische Zeitungen die Behauptung des MI5-Chefs Andrew Parker übernehmen, der Guardian riskiere mit seinen Enthüllungen über die NSA die Sicherheit der freien Welt, ist "gefährlich, weil sie Aufklärung nicht nur behindern, sondern verdammen", wettert Michael Hanfeld auf der Medienseite: "Damit entziehen sie dem Journalismus die Geschäftsgrundlage und machen sich ihrerseits zu Helfershelfern." In Bilder und Zeiten schreibt Jan-Christoph Hauschild einen Essay über Büchners Frauenfiguren. Und in der Frankfurter Anthologie deutet Marcel Reich-Ranicki "Als ich nachher von dir ging", sein Lieblingsgedicht von Bertolt Brecht:

"Als ich nachher von dir ging
An dem großen Heute
Sah ich, als ich sehn anfing
Lauter lustige Leute..."