Heute in den Feuilletons

Mit geläufiger Gurgel

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.11.2013. Heise analysiert das nach langen Jahren gefallene Urteil zu Google Books: Der Konzern darf Bücher einscannen und durchsuchbar machen - vorerst. Die taz fürchtet Pressezensur in Großbritannien. Die NZZ lauscht mit Oleg Jurjew russischen Ganovenliedern. Die SZ schildert das Behördenchaos im Fall des Schwabinger Kunstfundes. Und der Hornist Felix Klieser spielt Schumann.

Weitere Medien, 15.11.2013

Nach acht Jahren hat der amerikanische Bezirksrichter Denny Chin ein Urteil veröffentlicht, in dem er Google Books in den USA für legal erklärt, berichtet Daniel AJ Sokolov auf heise. Das kostenlose Scannen und online zugänglich Machen von Büchern sei zwar eine Verletzung des Copyrights, aber durch die Doktrin des Fair Use geschützt: "Zwar sei Googles Absicht, einen Gewinn zu erzielen, ein Argument gegen Fair Use. Aber eine direkte kommerzielle Verwertung finde nicht statt. Google verkauft weder die Scans noch die darin erkannten Texte, und zeigt im Umfeld der gezeigten Textschnipsel auch keine Werbung an. Daher ging Chins Prüfung des ersten Faktors deutlich zugunsten Googles aus."

TAZ, 15.11.2013

In London hat der Prozess gegen die britische Boulevardzeitung News of the World begonnen, die illegal Prominente überwacht und die Anrufbeantworter von Terror- und Verbrechensopfern abgehört haben soll. Jon Mendrala fürchtet, dass die Regierung den Fall zum Anlass nehmen könnte, die Pressefreiheit in England insgesamt zu schwächen: "Vor dem House of Commons warnte Premier Cameron unverhohlen: 'Wir haben eine freie Presse. Aber ich möchte nicht genötigt werden, irgendwelche Vorschriften oder Unterlassungen an Verleger ausgeben zu müssen, wenn die nationale Sicherheit gefährdet ist.' (...) Dass die Regierung den Skandal nun instrumentalisiert, um die kritische Berichterstattung in der NSA-Affäre zu beschneiden, kann nicht die Lösung sein."

Weiteres: Christian Werthschulte informiert über einen Dissenz, den die Popsängerin Lily Allen mit ihrem möglicherweise satirischen Video "Hard out Here" im Internet ausgelöst hat. Besprochen werden das Album "Kuuntele" von AFG alias Antye Greie-Fuchs-Ripatti, Robert Thalheims Film "Eltern" und Bücher, darunter Rutu Modans Comic "Das Erbe" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 15.11.2013

Der russische Romancier Oleg Jurjew ergründet die Faszination seines Heimatlandes für die kriminelle Romantik von Ganovenliedern, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts aus der russischen Kultur nicht mehr wegzudenken sind. "'Ganovenmusik', mit modischen Tango- und Foxtrott-Rhythmen unterfüttert, trug den unbewussten Widerstand des kommunen Kleinbürgers gegen die allgegenwärtige Parteiideologie, gegen die Gigantomanie des sozialistischen Projekts, gegen die rigiden Moralvorstellungen des neu gezüchteten Komsomolzen-Volkes. Man versuchte diese 'schädlichen' Lieder daher mit neuer, 'sowjetischer' leichter Musik zu verdrängen - und erreichte damit das Gegenteil."

Hier eines der beliebtesten Ganovenlieder: "Odessa" von Dina Verni:

In Jena, wo die NSU-Mörder aufwuchsen, sitzt der Schock über die neonazistischen Terrorakte besonders tief. Gabriele Hoffmann besuchte dort das Stadtraum-Projekt "BrandSchutz - Mentalitäten der Intoleranz", das nach Gründen für den Fremdenhass forscht. Linda Schädler berichtet über die diesjährige Athen-Biennale, die sich einer Auseinandersetzung mit der kritischen globalen Lage widmete und ein Diskussionsforum für Kulturschaffende und Wissenschaftler über mögliche Wege aus der Krise schaffen sollte.

Besprochen werden die italienische Veranstaltungsreihe klassischer Musik Settimane Musicali und neue Projekte des Schweizer Schlagzeugers Julian Sartorius.

Welt, 15.11.2013

Martin van Creveld, ehemals Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem versetzt sich in den Kopf der Iraner und ergründet ihre Sehnsucht nach Atombomben. Das klingt dann zum Beispiel so: "Israel, besonders Netanjahu, würde dich liebend gern - wie einige sagen - auf dieselbe Weise bis zum letzten Tropfen amerikanischen Blutes bekämpfen, wie es ja auch geholfen hat, die USA sowohl in den ersten als auch in den zweiten Irakkrieg zu stoßen."

Hanns-Georg Rodek kann die Europäische Kommission nur dafür loben, dass sie die europäische Filmwirtschaft vor Hollywood schützt. Hannes Stein begutachtet das erste Gebäude, das auf Ground Zero nun endlich fertiggestellt wurde, das Four World Trade Center. Elmar Krekeler liest für seine Krimikolumne Martin Cruz-Smiths Roman "Tatjana". Außerdem erweisen sich die Kultur- als Kultusseiten, und Lucas Wiegelmann präsentiert der frommen Welt-Leserschaft den neuen Nuntius in Berlin, Nikola Eterović.

Besprochen werden die Ausstellung "Raffael und das Porträt Julius II." im Städel (die laut Hans-Joachim Müller plausibel macht, dass die 2010 durch das Frankfurter Museum erworbene Version des Bildes aus der Raffael-Werkstatt stammt) und Filme, darunter Lars Beckers Verfilmung von Georg M. Oswalds Roman "Unter Feinden".

Berliner Zeitung, 15.11.2013

Steven Geyer spricht mit Pjotr Wersilow, dem Ehemann der inhaftierten Pussy Riot-Aktivistin Nadeschda Tolokonnikowa. Im Oktober war sie aus aus einem Lager in Mordwinien verlegt worden und seitdem verschwunden. Nun wurde bekannt, dass sie nach einem Hungerstreik im Krankenhaus liegt. "Was bleibt uns übrig? Wir sind Aktivisten: Wenn wir mit Herausforderungen konfrontiert werden wie der, dass einer von uns monatelang fortgeschafft wird, müssen wir Wege finden, uns aufzuspüren." Wersilow fordert die westlichen Politiker auf, mehr Druck zu machen, damit die russische Regierung erkennt, dass sie mit ihren Kritikern nicht so umspringen kann.

FAZ, 15.11.2013

Google hat vor amerikanischen Gerichten für Google Books einen Etappensieg errungen, meldet FAZ.Net mit dpa: "Google darf Millionen eingescannter Bücher im Internet durchsuchbar machen. Ein New Yorker Richter wies am Donnerstag eine Klage der amerikanischen Autorenvereinigung ab, die in der Digitalisierung der Werke einen Bruch des Copyrights sah. Die Autoren kündigten sogleich an, gegen die Entscheidung vorzugehen." Die Begründung des Richters ist hier zu lesen.

Stefanie Lohaus vom Missy Magazine (hier) kann Alice Schwarzers Appell zur Kriminalisierung der Prostitution nicht unterstützen und nähert sich eher dem Gegenappell an: "Wer illegal lebt, hat gar keine Rechte mehr." Constanze Kurz fordert die Internetprovider dazu auf, die Datenpakete ihrer Kunden im Hinblick auf die Begehrlichkeiten der Geheimdienste besser zu verschlüsseln. Niklas Maak befragt Marion Ackermann von der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zu ihrer Entscheidung, nicht zum Centre Pompidou zu wechseln. Andreas Kilb spricht mit dem Regisseur François Ozon über dessen neuen Film "Jung und Schön". Wolfgang Sanders lauscht im Konzert der Jazzsängerin Esperanza Spalding, "die mit geläufiger Gurgel hochmusikalisch vor sich hinträllert". Jürgen Dollase ärgert sich über die Event-Kochsendungen im Fernsehen: Die TV-Köche "sind neben der Spur gelandet und haben den Kern des Kulinarischen aus den Augen verloren." In einem zweiten Artikel wünscht er sich bessere und fairere Richtlinien in Restaurantführern.

Besprochen werden neue Musikveröffentlichungen, darunter eine 63 CDs umfassende Box mit Aufnahmen von Fritz Reiner, eine Jean-Paul-Ausstellung in Berlin, Paul Greengrass' neuer Film "Captain Phillips", eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau in Berlin mit Fotografien der großen Barbara Klemm und Bücher, darunter Vitomil Zupans Roman "Reise ans Ende des Frühlings" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Außerdem hier der Hornist Felix Klieser, dessen neue CD mit "Rêveries romantiques" Jan Brachmann heute auf der Schallplatten-Seite bespricht, mit Schumann:

SZ, 15.11.2013

"Offenbar blickt beim Staat niemand mehr durch, wenn es um den Bilderfund geht", schreiben Stefan Mayr, Frank Müller, Klaus Ott und Kia Vahland in einem Gemeinschaftsartikel, der Licht ins behördliche Dickicht rund um den Schwabinger Kunstfund zu bringen versucht. Der Befund: "Von Anfang an wussten, neben Staatsanwaltschaft und Zoll und weiteren Instanzen, staatliche Experten für Kunst, für Raubkunst und für die Rückgabe solcher Werke, von dem Fund. Aber offenbar hat kein Behördenchef und auch sonst niemand die zuständigen Minister alarmiert. Niemand hat die möglichen Alt-Eigentümer der Bilder oder deren Erben oder jüdische Organisationen informiert. Jetzt ist Deutschland blamiert. Schäuble tobt, Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer ist sauer, und Bundeskanzlerin Angela Merkel ist auch nicht erbaut."

Im beistehenden Gespräch bekundet der bayerische Justizminister Winfried Bausback nun außerdem seine Hoffnungen, dass sich die Eigentumsverhältnisse im Fall Gurlitt nach diesem Debakel schnell klären.

Weitere Artikel: Peter Richter berichtet, dass der Schriftsteller Ilija Trojanow nun doch für einen überwachungskritischen Vortrag in die Staaten einreisen konnte, nachdem ihm kürzlich der Betritt des Landes verwehrt wurde (mehr dazu etwa hier). Volker Breidecker ärgert sich, dass Zürich das Literaturmuseum Strauhof schließt: "Welche Ignoranz!"

Besprochen werden eine Ausstellung von Kunstwerken aus Pompeji in der Hypo-Kunsthalle in München, Cristian Mungius Film "Jenseits der Hügel", eine "Metropolis"-Adaption im Theater Bonn, Dieter Dorns "Walküre"-Inszenierung am Grand Théâtre in Genf und Bücher, darunter Edith Whartons Roman "Dämmerschlaf" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ und NDR recherchieren außerdem zu amerikanischer Militärpräsenz in Deutschland und annoncieren heute ganz groß eine Serie zu diesem Thema: "Wo US-Armee und Geheimdienste während des Kalten Krieges vor allem den Westen geschützt haben, führen sie heute von Deutschland aus einen weltweiten geheimen Krieg, der massiv gegen internationales Recht verstößt. Von Deutschland aus - in Ramstein und Stuttgart - steuern amerikanische Soldaten den blutigen Drohnenkrieg in Afrika."