Vorgeblättert

Leseprobe zu Regie: Ruth Berghaus. Geschichten aus der Produktion. Teil 3

05.08.2010.
Achim Freyer
Die Initialzündung

Gioacchino Rossini: Der Barbier von Sevilla,
Deutsche Staatsoper Berlin (1968)



Bertolt Brecht hatte eine klare Weltbetrachtung. In seinem Theater waren Idee und Form Versuch von Klarheit. Die Personen für dieses Theater erkannte er, sie fanden zu ihm und er fand sie. Die so unterschiedlichen Benno Besson, Ruth Berghaus und Achim Freyer zum Beispiel, wir fanden uns für unser und auch sein Theater, nur ganz anders, gegensätzlich, das war das Verwandte. Und dann machte Benno Besson mit mir Der gute Mensch von Sezuan in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin (1970). Und ich mit Ruth Berghaus Ballette von Paul Dessau (Flug zur Sonne, 1959; Hände weg!, 1962), Reiner Bredemeyer (Das Katzenhaus, 1960), Siegfried Matthus (Sieg durch List, 1960/61) bei Gret Palucca in Dresden, für das Erich-Weinert-Ensemble oder alternative Aufführungsorte.
     Ich, der Maler - tanzende Malerei; Berghaus, die Tänzerin - ideologisch-dramaturgischer Tanz, ungesehen, dann auch verboten, trotz der Diskussionen mit den Genossen Offizieren oder deshalb? Wo war Klarheit?
     Ein dummes Gespräch im Berghaus-Westauto über das "Lob des Kommunismus", sie: "Die chinesischen kommunistischen Reisbauern fliehen vor dem Feind durch ihr Reisfeld, ohne eine Pflanze zu zertreten, im Gegensatz zum kapitalistischen Bauern, der das Feld nicht für das Gesamtwohl bestellt." Unser Streit wurde darüber so heftig, dass wir fast von der Straße abgekommen wären, wie wir das in unseren gemeinsamen künstlerischen Arbeiten nicht kannten, trotz oder wegen unserer so verschiedenen Weltsichten.
     Nach einer großen Funkstille kam dann ihre Anfrage, ob ich den Barbier von Sevilla mit ihr arbeiten möchte. Ich fühlte in meiner Unbildung Spott in dieser Frage, weil ich nicht glaubte, dass diese "Operette" unserem besessenen Avantgardismus entspräche. Für mich war dann diese erste Begegnung mit Oper eine Initialzündung für große theatralische Abstraktionen. Brecht war widerlegt, der Barbier war soziologisch und politisch bestes Theater aus genialischer Musik. Das hat jeder neue Probentag gezeigt, die Arbeit floss in großen Strömen, die Widersprüche waren die größten Funde. Hier verwirklichte sich die Sprache Brechts mit unseren jugendlichen neuen Formulierungswünschen: antiillusionistisch, Musik als Sprachform mit Worten, Handlungszeit in musikalischer Zeit, nicht Imitation von Wirklichkeit, Gestus und Arrangement in strenger mathematischer, autarker Klarheit.
     Das Vergnügen durch Erkennen war komprimierter als bei unseren Choreografien in früherer Zeit.
     Wir hatten etwas für uns entdeckt und gewonnen zu den reichen Erfahrungen in der Schule Brechts, und es war neu.
     Walter Felsenstein in seiner Berliner Komischen Oper war ein Gegenbild, das Brecht schätzte, weil es das Schauspielerische gegen das Nutzen der musikalischen Zeit, die die Gefahr des Formalen und Pathetischen in sich trägt, förderte.
     Das gerade war unsere Entdeckung: Das Libretto wurde so ernst genommen wie die Musik. Sie war die Sprache, die es zu inszenieren galt, die räumlich-zeitlichen Dimensionen in ihrem archaisch-urklanglich-rhythmischen Atem. Die vom Schauspiel verteufelte Oper wurde durch unsere Arbeit zum Theater der Zukunft.
Das Schauspiel brauchte Jahrzehnte, sich an dieser Entdeckung neu zu definieren. Viele Schauspielregisseure wechselten das Lager und brachten nun oft für die Oper das ein, was Felsenstein einst praktizierte!
     Natürlich sind diese Gedanken meine Sicht, die sich mit dieser ersten Opernarbeit bildete, und sind nicht ein Bericht über das folgerichtige Arbeiten der Berghaus.
     Wir hatten nach dem Barbier keine gemeinsame Arbeitsgelegenheit mehr, und das war sicher auch sehr vernünftig.
     Wir hatten beide unser gelungenes, unwiederholbares Gesellenstück abgelegt und mussten eigene Wege weiterbeschreiten. Die damalige Reaktion der Presse auf den Barbier war skeptisch bis negativ, der Premierenabend hatte den berühmten Buh-Bravo-Effekt als Zeichen einer guten Arbeit, die viel diskutiert sich bis heute durchsetzte.
     So kann ich in diesem Buch über diese besessene, kämpferische, sehr freundliche Regisseurin, die Staffel an die Künstler weitergeben, die sie nach mir begleitet haben.
     Ruth Berghaus war kritisch-neugierig und mutig: Sie erwarb zum Beispiel ein reliefartiges weißes Gemälde von mir, ähnlich weiß wie der Barbier-Raum, aber natürlich eine ganz andere Thematik behandelnd, in einer Zeit der Feme gegen meine Kunst. Sie hatte deswegen in ihrer eigenen Wohnung von Besuchern, sogenannten Genossen, große Anfeindungen.
     Wir trafen uns bei einem frühen Ballettgastspiel von Merce Cunningham und John Cage im Berliner Schillertheater und waren begeisterte Bewunderer - im Gegensatz zum Publikum, das heftig gegen die Aufführung protestierte.
     Ein weiteres Beispiel ihres Mutes: Trotz meiner Republikflucht kam sie zu mir nach West-Berlin, um mich für ihre Ring-Inszenierung an der Staatsoper Berlin zu begeistern. Während Freunde wie Heiner Müller, wenn ich sie im "Westen" traf, den Kontakt scheuten und erst nach dem Mauerfall wieder die alten Beziehungen aufnahmen.
     "Die Berghaus", eine unkonventionelle, kühne Frau mit einer Kunstvorstellung für eine bessere Welt, politisch und theatralisch, auf der Suche nach einer klaren Weltsicht in Idee und Form mit allen Irrtümern, die dazu gehören.

Achim Freyer
Geboren 1934 in Berlin. Nach dem Studium der Gebrauchsgrafik an der Fachschule für Angewandte Kunst Berlin (DDR) wurde er Meisterschüler von Bertolt Brecht am Berliner Ensemble. Er arbeitete zunächst als Bühnen- und Kostümbildner, unter anderem für Ruth Berghaus, Adolf Dresen und Benno Besson. 1972 reiste er in die Bundesrepublik Deutschland aus und begann selbst zu inszenieren. Als bildender Künstler war er auf der Kasseler documenta (6/1977 und 8/1987) und auf der Prager Quadriennale vertreten. 1976 bis 2002 war er ordentlicher Professor an der Universität der Künste Berlin. Er gründete 1988 das
Freyer Ensemble, dem Schauspieler, Tänzer, Akrobaten, Musiker, Sänger, Regisseure und Bühnenbildner angehören.
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Mit freundlicher Genehmigung des Rotbuch Verlages
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