Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.08.2001.

FAZ, 30.08.2001

Auch Andreas Kilb findet "Dust", den venezianischen Eröffnungsfilm des mazedonischen Regisseurs Milcho Manchevski reichlich misslungen. Er verbindet die Verwerfungen auf dem Balkan mit Westernmotiven und entpuppt sich als "hitzige Kraftmeierei". "Manchevski, der sich in seinem Statement zum Film auch vor Milos Forman und Martin Scorsese verneigt, hätte besser daran getan, sich Michael Ciminos "Heaven's Gate" noch einmal anzuschauen, um zu erkennen, wieviel ästhetische Nüchternheit auch ein filmisches Kolossalgemälde braucht, um die Grenze zum sauren Kitsch nicht zu überschreiten."

Heinrich Wefing beschreibt den Weg des Föderalismus in Gemeinschaftsgremien wie der von Julian Nida-Rümelin geplanten Kulturstiftung, wo die Länder nicken, weil der Bund ihnen Geld gibt und zitiert die "Föderalismus-Rede" von Wolfgang Clement: "Wo alle nur irgendwie mitverantwortlich sind, trägt letztlich niemand mehr die Verantwortung."

Der kosovarische Schriftsteller Beqe Cufaj mahnt die internationale Gemeinschaft, die Albaner nicht mit ihren Extremisten zu verwechseln. "Bei den Kommunalwahlen im letzten Jahr hat eine große Mehrheit der albanischen Bevölkerung im Kosovo den Radikalen und Extremisten eine klare Absage erteilt - und so dürfte es auch bei den Parlamentswahlen im November kommen."

Weitere Artikel: Der Wissenschaftsautor Stephen Jay Gould meint, dass es keine Alternative zur Forschung an embryonalen Stammzellen gibt ("Selbst wenn wir auf Möglichkeiten hoffen, adulte Zellen entdifferenzieren und die erforderliche Flexibilität in Zellen wiederherstellen zu können, die sich gewinnen lassen, ohne jemandes Gefühle zu verletzen - selbst dann müssen wir mit embryonalen Stammzellen experimentieren, um die Mechanismen ihres umfassenden Potenzials zu verstehen und zu beherrschen.") Christian Schwägerl plädiert gegen die Unsterblichkeit ("Wie schnell wir ein solches Leben sterbenslangweilig - nach 500, 5.000 oder 50.000 Jahren?") Der Zeithistoriker Klaus Naumann fordert einen "Perspektivwechsel auf die abgeschlossene Geschichte der Bonner Republik. Nicht allein die DDR ist zu Ende gegangen."

Ferner erfahren wir von Edgar Haupt, dass Bremen sich einen "Space Park" bauen will. Dirk Schümer setzt sein "Leben in Venedig" auf dem Golfplatz des Lidos fort. Marianne Hauswedell besucht die kubistische Villa der Maler George Morris und Suzy Frelinghuysen in Massachusetts.

Besprochen werden der Film "Planet der Affen" und Peter Zimmermanns Ausstellung "Flow" im Kunstverein Heilbronn. Auf der Bücher-und-Themen-Seite liest Jürgen Kaube Literatur über Sherlock Holmes.

Zeit, 30.08.2001

Normalerweise lösen Geburtstagsartikel bei uns ja ein diskretes Gähnen aus. Aber wenn Joachim Kaiser seinem Kollegen Fritz J. Raddatz gratuliert, dann ist das was anderes. Die beiden sind ja der lebende Beweis, dass die Denkmäler der deutschen Publizistik in der Regel wesentlich lebendiger schreiben als die schnittigsten Jungjournalisten. Kaiser erzählt noch mal, welchen erstaunlichen Hass Raddatz auf sich zog, als er das Feuilleton der Zeit in seiner größten Zeit (nämlich von 1977 bis 1985) leitete. "Freilich hatte und hat Raddatz Freunde, die sich für ihn einsetzen. Böll nahm ihn in Schutz, Grass, Habermas, Hans Werner Richter. Viele mittlere deutsche Intellektuelle jedoch glauben, sich über Raddatz mokieren zu müssen. Keiner Akademie, weder der Berliner noch der Bayerischen, ist er vermittelbar." Das ist doch eventuell die größte Ehre!

Jörg Lau geht den jüngsten Debatten um Sebastian Haffner und Leo Baeck nach, denen man ohne viel Beweise Schönungen ihrer Biografie in der Nazi-Zeit unterstellte: "Woher speist sich der immer wieder zutage tretende Drang, die wenigen überlebensgroßen Figuren aus finsterer Zeit, die heute noch wegen ihrer moralischen Integrität verehrt werden, ins Zwielicht zu rücken?" Und die vernichtende Antwort: "Das neue Jahrhundert hat begonnen, so scheint es, die Vorgeschichte nach seinem Maß neu zurechtzuschneiden."

Thomas Groß bespricht "Vespertine", die neue CD von Björk, und "Björk singt immer noch, als müsse sie die Schöpfung erweichen; flehentlich, überartikuliert, beschwörend - Neigung zur Hyperventilation inbegriffen."

Weitere Artikel: Hanno Rauterberg interviewt den Architekten Daniel Libeskind zur bevorstehenden Eröffnung des nun mit einer Sammlung bestückten Jüdischen Museums in Berlin. Merten Worthmann erzählt in der Serie "Richtung Europa", wie die tschechische Fimindustrie immer Großproduktionen aus Hollywood nach Böhmen zieht. In der Leitglosse eröffnet Petra Kipphoff die Kunstsaison.

Besprochen werden eine Ausstellung über den ungarischen Maler und Bildhauer Hans Mattis-Teutsch im Münchner Haus der Kunst, der Film "Planet der Affen", das Filmfestival von Sarajewo und eine Ausstellung über Kaiser Otto den Großen im Magdeburger Kulturhistorischen Museum.

Im Aufmacher des Literaturteils porträtiert Ulrich Greiner den Schweizer Autor Peter Stamm. Und Evelyn Finger nimmt in einer Glosse Stellung zur Hürlimann-Debatte. Auf Marcel Reich-Ranickis Frage "Warum kann Thomas Hürlimann nicht Jude schreiben, wenn er Jude meint?" antwortet sie: "Ganz einfach: Weil Hürlimann Mensch meint, wenn er Jude denkt. Er meint übrigens oft auch Mensch, wenn er Katze sagt. Woraus keineswegs folgt, dass er mit Katze immer Jude meint."

Hinzuweisen ist auch auf die Reportage des Schriftstellers Peter Schneider im Leben über die schwierige Fusion von Daimler und Chrysler.

NZZ, 30.08.2001

Marc Zitzmann legt ein nicht gerade vor Sympathie vibrierendes Porträt Michel Houellebecqs vor und weigert sich, seinen neuen Roman "Plateforme" skandalös zu finden: "'Plateforme' ist, wie die beiden vorhergegangenen Romane, ein Thesenroman. Da der Autor Bahnhofsliteratur für die Intelligenzia schreibt, enthält sein jüngstes Opus gleich mehrere Thesen; und zwar sowohl im Rohzustand als auch verarbeitet. Also einerseits in Form von Maximen, anderseits in Form von Szenen, welche die Maximen illustrieren. Erwartungen betreffend Glaubwürdigkeit, Folgerichtigkeit usw. des Plots sollte man somit nicht allzu hoch stecken. Das Gleiche gilt für die Sprache: kurze, schlichte Sätze, an denen bis auf die gelegentlich diskutable Wahl eines Wortes oder einer Metapher eigentlich gar nichts auffällt."

"Mangas sind hip, Mangas sind chic, Mangas sind Pop", konstatiert Christian Gasser. Die Dominanz des frankobelgischen Comics haben sie nun auch im Westen abgelöst, erzählt er weiter und bereitet uns auf japanische Zustände vor: "Für die Manga-Produktion werden angeblich mehr Wälder gerodet als für die Herstellung von WC-Papier."

Weitere Artikel: Stanislaus von Moos schreibt zum Tod von Steven Izenour, der zu den Autoren des berühmten Architekturbuchs "Learning from Las Vegas" gehörte.

Besprochen werden Bücher, unter anderem Detektiverzählungen von Walter Satterthwait, John David Morleys Erinnerungsbuch "Nach dem Monsun" und Doron Rabinovicis "Einmischungen" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 30.08.2001

Der niederländische Politologe Peter van Ham konstatiert, dass auch Staaten ihr internationales Selbstbild nach den Prinzipien des "Branding" und der Markenidentitäten formen: "Die traditionelle Diplomatie verschwindet allmählich - um ihren Job in Zukunft anständig verrichten zu können, müssen sich Politiker einem Training in Markenverwertung unterziehen. Zu ihren Aufgaben wird es gehören, eine Markennische für ihren Staat zu finden..."

Weitere Artikel: Alex Rühle stellt angesichts der wieder fliegenden Concorde fest: "Der Dreisatz Fortschritt, Zukunft, Utopie, der andernorts längst krachend auseinanderflog, er gilt in Frankreich immer noch. Wörter wie avenir und futur schimmern wie amour und espoir."

Besprechungen widmen sich dem Jazzfestival Saalfelden und einem Erweiterungsbau des Jüdischen Museums Westfalen in Dorsten.

Auf der Filmseite bespricht Fritz Göttler Tim Burtons Remake des "Planets der Affen", und Susan Vahabzadeh hat den Regisseur interviewt. Verena Auffermann hat sich ferner die Ausstellung über Audrey Hepburn im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt angesehen.

Die klügsten Ideen setzen sich in den deutschen Medien nicht durch, weil die Entscheidungsträger so fest an die Dummheit des Publikums glauben. Das Wirtschaftsmagazin Brand eins hatte so eine kluge Idee und muss sich darum allein durchschlagen. Auf der Medienseite der SZ erfahren wir, dass nun ein Finanzier abgesprungen ist. In der Hamburger Redaktion von Brand eins nimmt man's aber nicht so dramatisch: So vornehm kann man auf den Putz klopfen!

FR, 30.08.2001

Ina Hartwig hat drei junge Schriftstellerin gelesen. Jenny Erpenbeck und Juli Zeh werden von der Kritik gefeiert, nicht aber von Hartwig, die kein gutes Haar an ihnen lässt. Die eine pflegt postsozialistischen Heldenkitsch, die andere unappetitliche, schlimmer: überflüssige Vergleiche. Dafür feiert sie die dritte: "Antje Ravic Strubel hat kein atemberaubendes Doppelstudium absolviert, hat auch keinen bemerkenswerten Familienhintergrund und ist doch ein beeindruckendes Talent, vielleicht das zur Zeit interessanteste Erzähltalent."

Eine neue Problemlösungsstrategie für den Nahostkonflikt schlägt der israelische Psychoanalytiker Ofer Grosbard vor: "Das Problem Jerusalem erinnert uns erneut daran, dass der Friedensprozess im wesentlichen ein emotionaler Prozess ist, und dass er auch als solcher behandelt werden und mit therapeutischen Methoden gelöst werden muss. Die Schwierigkeit, anzuerkennen, dass Jerusalem die Hauptstadt zweier Staaten sein kann, wurzelt in einer tiefen religiösen Verletztheit, die in ihrer Tiefe der Anerkennung eines anderen Gottes gleichkommt." Ofer Grosbard hat denn auch ein buch mit dem Titel "Israel auf der Couch" geschrieben, aus dem dieser Text ein Auszug ist.

Weitere Artikel: Manfred Schneider kommentiert das Skandälchen um Rudolf Scharpings Urlaubsfotos aus Mallorca als "hypermodern". Andrea Nüsse orientiert uns über die "Dialektik des Schulbuchs im Nahost-Konflikt". Hans Wolfgang Hoffmann setzt die Serie über den Neotraditionalismus in der Architektur mit einem Gebäude in der Berliner Sophienstraße 7 fort (offensichtlich stehen diese Kommoden sämtlich in der Hauptstadt). Besprochen wird Tim Burtons Film "Planet der Affen".

TAZ, 30.08.2001

Thomas Girst hat den legendären schwulen Schriftsteller Charles Henri Ford getroffen, der also noch lebt und in New York im Dakota Building wohnt (dem Bau aus "Rosemary' Baby"): "Als er schließlich verschmitzt lächelnd im Wohnzimmer erscheint, kann man die sorgfältig gezogenen Kammlinien in seinem schlohweißen Haupthaar und Bart erkennen. Er sieht mal wieder so aus, als hätte er kurz zuvor noch in seinem eigenen Gesicht geschlafen. 'Sonnenblumen, wie wunderschön, meine Lieblingsblume, meine Lieblingsfarbe', säuselt er sogleich liebevoll."

Weitere Artikel: Harald Fricke findet, dass Tim Burtons Neufassung vom "Planet der Affen" "erstaunlich nah an die Grenze zwischen den Arten" geht. Helmut Höge bespricht den Dokumentarfilm "Mit Ikea nach Moskau". Wolfgang Müller liefert einen weiteren Artikel über seine Versuche, in Reykjavik ein alternatives Goethe-Institut zu errichten. Und Katja Nicodemus präsentiert ihre zweite Kolumne vom Filmfestival von Venedig. Sie hat einen Film von Giuseppe Bertolucci (einem Bruder von Bernardo) und "Dust" von Milcho Manchevski gesehen: "prätentiöser Wirrwarr".
Schließlich Tom.