Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.12.2001. Die SZ fragt sich, wo Osama Bin Laden steckt. Die FAZ ist einigermaßen begeistert vom möglichen Wiederaufbau des Berliner Schlosses. Die FR empfindet eher Unmut darüber. Die NZZ denkt über die Krise in Argentinien nach und die taz stellt uns die Philosophin Avital Ronell vor.

TAZ, 21.12.2001

Jan Engelmann stellt uns die Freestyle-Philosophin Avital Ronell (mehr hier und hier) vor, die in den USA schon mal als "Elfenbeinturm-Terroristin" oder "Dekonstruktionsschlampe" beschimpft wird. Besonders ihr kürzlich auch auf Deutsch erschienenes dem Nicht-linearen Schreiben verpflichtetes "Telephone Book: Technology, Schizophrenia, Electric Speech" von 1989 hat es Engelmann angetan: "Ronell organisiert ihr Vorhaben, dem Telefon in Philosophie, Kunst, Psychoanalyse, Dichtung und Technik nachzuspüren, konsequenterweise selbst innerhalb einer telefonischen Anordnung, mit ihr als operator. So wird der Anruf des SA-Hochschulamtes, der Heidegger ereilte und zum Komplizen des NS-Staates werden ließ, in eine Konferenzschaltung gebracht mit seinem Begriff des Rufs ... Ronell weist nach, dass Heidegger, der 'Denker des Ferngesprächs par excellence', sämtliche Unwägbarkeiten, die sich aus dem 'Mitsein' des Anderen in der (An-)Leitung des Selbst ergeben, rigoros abschnitt." Heute gibt es dafür bekanntlich den Anrufbeantworter.

Weitere Artikel: Harald Fricke besucht die Ausstellung "New Heimat" im Frankfurter Kunstverein und Martin Weber bespricht neue Platten von Hope Sandoval & The Warm Inventions ("Bavarian Fruit Bread") und The Moldy Peaches ("The Moldy Peaches").

In den Tagesthemen schreiben Ralph Bollmann (hier) und Uwe Rada (hier) zur Entscheidung, das Stadtschloss wiederaufzubauen, und Stefan Kuzmany erklärt, wie die Nachrichtenmacher des ZDF den Krieg täglich von fern sehen und für die TV-Zuschauer aufbereiten.

Schließlich der Tom.

SZ, 21.12.2001

Das Berliner Stadtschloss soll wieder aufgebaut werden, berichtet Jens Bisky. So lautet die Empfehlung der Expertenkommission, die gestern bekanntgegeben wurde. "Ihre Empfehlungen will die Kommission erst im Januar endgültig formulieren, Details der Entscheidung hat ihr Vorsitzender, der österreichische Abgeordnete Hannes Swoboda, gestern mitgeteilt. Genutzt werden soll das Gebäude von den Staatlichen Museen, die einen Teil ihrer außereuropäischen Sammlungen aus Dahlem nach Mitte verbringen wollen. Wie seit langem gewünscht, erhält die zur Zeit auf zwei völlig unzureichende Standorte verstreute Zentral- und Landesbibliothek im Schloss ihren Sitz."
Wo eigentlich ist Osama bin Laden? Lothar Müller hat da einen Verdacht. Was, wenn Osama längst zum ewigen Schläfer geworden ist und die amerikanischen Höhlensucher bei ihrer auf den Körper des Feindes fixierten Jagd an der Nase herumführt? "Während die Todespiloten im Moment des Einschlags in die extreme Sichtbarkeit eingingen, ginge ein bin Laden, der aus den Höhlen der Bergfestung nie zurückkehrt, in die extreme Unsichtbarkeit ein. Die Attentate des 11. September kehrten die Bildzentrierung der westlichen Welt gegen diese selbst. Bin Laden ginge durch seine Selbstauslöschung ähnlich unwiderstehlich in die Erzählbarkeit ein wie die Attentäter ins Bild. Er würde nicht nur in der arabischen Welt ein Perpetuum mobile der Legendenproduktion in Gang setzen."

In einem anderen Beitrag erzählt Petra Steinberger, wie Arafat einst die für das Attentat im Münchner Olympiadorf verantwortliche Terrorgruppe Schwarzer September in Liebe auflöste. (Sie bezieht sich auf einen Artikel des amerikanischen Terrorexperten und Bush-Beraters Bruce Hoffman in der aktuellen Ausgabe von Atlantic Monthly.) Und das ging so: Die PLO lud 100 hübsche palästinensische Mädchen im zu einer Single-Party mit den Terroristen. "Und siehe da: Die Hormone funktionierten. Und weil aus den Verliebtheiten möglichst längerfristige Verhältnisse werden sollten, bot die PLO noch einige zusätzliche Anreize: Wer ein Mädchen heiratete, würde 3000 Dollar erhalten, eine Wohnung in Beirut mit Gasofen, Kühlschrank und Fernseher; und falls nach einem Jahr Nachwuchs eintraf, sollten noch einmal 5000 Dollar draufgelegt werden." Ach, so fern, die 70er.
Andere Artikel: Andrian Kreye berichtet: "Seit Jahren versucht Sudan, den Westen im Kampf gegen den Terror zu unterstützen ? und wäre fast das nächste Kriegsziel geworden". Fritz Göttler streift durch neue Nummern der Lettre und des Kursbuchs, für die Reihe Museumsinseln besucht Tim B. Müller die Sammlung Mittelalter-Sammlung "The Cloisters" in New York, Gabriele Henkel ist ebenfalls im winterlichen New York; sie wirft für uns einen Blick in Galerien und Museen. Und Jens Bisky kritisiert Breloers Jahrhundertroman über die Familie Mann (heute letzter Teil in der ARD).

Besprochen werden Manoel de Oliveiras neuer Film "Ich geh' nach Hause", Robert Carsens Inszenierung der "Walküre" in Köln, Thomas Brussigs Fußballmonolog "Leben bis Männer" in den Kammerspielen des DT Berlin. Schließlich Lektüre: ein Buch, das zum Werkzeugkasten für die Betrachtung von Medien taugt, ein Band mit Erzählungen von Fernando Sorrentino sowie das Jahrbuch der Ökologie (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 21.12.2001

Gleich drei Artikel zum Berliner Stadtschloss-Votum druckt die FR. Während Rainer Jung bereits über das historische Äußere der angepeilten Rekonstruktion nachdenkt, macht Peter Conradi, Präsident der Bundesarchitektenkammer in Berlin und Mitglied der verantwortlichen Kommission Historische Mitte Berlin, seinem Unmut Luft über "eine rückwärtsgerichtete, ängstliche Entscheidung" und "eine politisch und geschichtlich falsche Botschaft": "Preußen ist Teil der deutschen Geschichte, doch Preußen ist untergegangen, und das Berliner Preußenschloss begründet keine Identität für Deutschland", schreibt Conradi und fordert einen "breiten Wettbewerb", der alle Gestaltungsoptionen zulässt.

Und Christian Thomas sieht "das Hohenzollern-Residenz-Imitat als Obdach angesichts der Abstraktionszumutungen der Moderne, als nationaler Schlupfwinkel angesichts der globalen Weltläufe." Dabei werde die historische Hypothek fatal sein. "Denn mit dem Augentrug wird die Verortung der Bundesrepublik in ihrer historischen Kontinuität ausgerechnet am symbolträchtigsten Ort der Republik aufgesprengt. Schon das ist ein Grund, warum man ihm eine vorfabrizierte Steintapete wird vorblenden müssen."

In einem anderen Beitrag liefert Helmut Höge eine kleine Geschichte der Querulanz. Von den ersten lexikalischen Erwähnungen und Kleists Querulantennovelle "Michael Kohlhaas" über das kurzfristige epidemische Aufflammen der querulatorischen Einstellung Ende 1989 im Osten bis hin zu den als Trittbrettfahrer beschimpften "Anthrax-Stellern", die anonyme Briefe mit vermeintlichen Milzbranderregern verschicken. Wie possierlich! Höge aber ist wirklich betroffen. Die verbohrten Sonderlinge, glaubt er, sterben nämlich langsam aus, "in den Fluren der Behörden sitzen bald nur noch allseits einsatzfähige Gutwillige."

Außerdem: Christian Broecking über den umstrittenen Dokumentarfilm "Jazz", der dieser Tage auf Phoenix zu sehen ist, Harry Nutt zählt die Berliner Kultursenatoren und kommt zu dem Schluss, dass es völlig gleich ist, wer den Job macht, und Elke Buhr besucht Kassel fünf Monate vor der documenta 11 und stellt fest, dass Kurator Okwui Enwezor die Show längst begonnen hat - als globale Debatte über Konzepte von Demokratie.

Besprechungen endlich gibt es zu Thomas Brussigs "Leben bis Männer" am Deutschen Theater in Berlin und zu Manoel de Oliveiras Film "Ich geh nach Hause".

NZZ, 21.12.2001

Carl D. Goedeler macht für die Krise in Argentinien ausschließlich innnerargentinische Gründe verantwortlich: "Man glaubt es kaum: Vor hundert Jahren lebte das 'Silberland' Argentinien in Saus und Braus - dieser Tage ist es arm wie eine Kirchenmaus. Kaum eine andere Nation hat in einem Jahrhundert so gründlich ihren Reichtum verschwendet. Aus freien Stücken und (fast) ohne Krieg. Wie der Märchen-Hans mit seinem Goldklumpen heimzieht und am Ende mit leeren Taschen ankommt: Das ist die Geschichte Argentiniens."

Ein neues Brasilia wird entstehen, berichtet Philipp Meuser, und zwar in Kasachsastan. Architekt des Masterplans für die Hauptstadt Astana ist der Japaner Kisho Kurokawa: "Hier sollen bis zum Jahre 2030 knapp 800 000 Menschen eine neue Heimat finden. Das entspricht einer Verdreifachung der Einwohnerzahl. Das neue Astana unterscheidet sich von den bis heute umstrittenen Hauptstadtplanungen des vergangenen Jahrhunderts: Während Brasilia und Chandigarh vom 'großen Wurf' ihrer Architekten geprägt wurden, verzichtet Kurokawa bis auf das im Stadtgrundriss verankerte Band der Regierungsbauten gänzlich auf starren Formalismus. Stattdessen entwickelte er eine Strategie, um das Wasser- und Abfallmanagement zu erneuern - mit dem Ergebnis, dass im kommenden Frühjahr mit japanischer Finanzhilfe zunächst die Kanalisation Astanas modernisiert wird."

Emil Maurer schreibt zum 600. Geburtstag 600. Geburtstag Masaccios, dem in den Uffizien eine Ausstellung gewidmet ist. Thomas Veser benennt "neue Nominierungstendenzen des Unesco-Welterbekomitees" (man erfährt unter anderem, dass die Unesco mit der Inflation der Stätten Schluss machen möchte). Tobias Hoffmann gratuliert der Bündner Theatergruppe In Situ zum 15-jährigen Jubiläum. Besprochen wird eine Ausstellung über den Mythos des "Ewigen Juden" im Pariser Musee d'art et d'histoire du Judaïsme.

FAZ, 21.12.2001

Vorgestern schwärmte noch Heinrich Wefing von der postmodernen Collage, die Axel Schultes an Stelle des Berliner Stadtschlosses errichten wollte, heute schwärmt Patrick Bahners über den Beschluss der Expertenkommission, einen Wiederaufbau des historischen Schlosses zu empfehlen: "Dass die Mehrheit der Fachleute sich entgegen allen Prognosen nicht auf eine historisch-moderne 'Collage' verständigt hat, ist denkwürdig als Absage an das Diktat der Symbolik. Denn mit der 'Collage' als Stilprinzip war der Budenzauber postmoderner Didaktik gemeint. Das Ganze sollte schon aussehen wie das Schloss, aber an allen Ecken und Enden wären neckische Zeigefinger montiert worden."

Dieter Bartetzko sieht die Sache irgendwie anders: "Animiert von einem Video Wilhelm von Boddiens (dem seit 1990 unermüdlichen Verfechter einer Rekonstruktion), das in zarten Farben ein Schloss ausschließlich in Schlüter- und Eosander-Barock simuliert, debattierte die Kommission sich in einen Traum. Denn im Eifer des Gefechts verschwand die Tatsache - oder wurde ignoriert -, dass Berlins Schloss ein Konglomerat verschiedener Stile und Epochen gewesen ist."

Verena Lueken hat in New York der Premiere von Tony Kushners Stück "Homebody/Kabul" beigewohnt, an dem der Autor vier Jahre geschreiben hat und das jetzt als Stück über den 11. September missverstanden wird. Lueken ist nicht begeistert. Es gehe im Stück um alles, "um Antidepressiva und Whiskey und Opium und Heroin. Um Abtreibung. Um Entfremdung. Um die Kluft zwischen den reichen und den armen Ländern der Welt. Um Vereinsamung und Narzissmus. Um Krieg, Unterdrückung, Gewalt und Mord." Und das ist ein bisschen wenig.

Weiteres: Der Zoologe Clas M. Naumann erzählt die 40-jährige Geschichte der "Zoologischen Projekte Afghanistan", einer deutschen Aufbauhilfe für den Zoo von Kabul, die jetzt wieder aufgegriffen wird. Christian Schwägerl trifft den ehemaligen Forschungsminister Heinz Riesenhuber, dem wir das vor 10 Jahren beschlossene Embryonenschutzgesetz verdanken. Renate Schostak beschreibt die Neuordnung der Säle in der Alten Pinakothek. Eberhard Rathgeb verabschiedet den ungarischen Schriftsteller Peter Esterhazy, der in der Hamburger Warburg-Stiftung zu Gast war, wo er ein Buch schrieb. Caroline Neubauer resümiert eine Tagung britischer Psychoanalytiker über den 11. September am University College London. In der Serie über Afghanistans Nachbarländer schreibt der Islamkundler Ahmad Taheri über die Länder Tadschikistan und Usbekistan, die sich nach 1989 nicht gerade zu Demokratien entwickelten.

Ferner resümiert der Sinologe Ole Döring eine deutsch-japanische Tagung über Genomforschung und Bioethik. Dieter Blume schreibt zum 600. Geburtstag des Malers Masaccio (Bilder). Jürgen Richter meldet Hoffnung für das thüringische Schloss Denstedt, nachdem es von zwei Ärzten gekauft wurde und schonend restauriert werden soll. Jörg Thomann freut sich, dass RTL eine deutsche Version der berühmten britischen Comedy-Serie "Fawlty Towers" wagt. In einem Interview bescheinigt John Cleese, Erfinder der Serie, seinen deutschen Kollegen brav, dass sie Humor haben. Joseph Croitoru meldet auf der Medienseite ferner, dass Israel die Rechte palästinensischer Reporter einschränkt. Auf der letzten Seite schreibt Andreas Kilb, dass der schwarze Schauspieler Hassan Tantai (mehr hier), der in Mohsen Makhmalbafs Film "Kandahar" einen amerikanischen Arzt spielt, verdächtigt wird, ein islamistischer Killer zu sein. Und Arnold Bartetzky erinnert an Jan Zachwatowicz, dem die historischen Rekonstruktionen im Nachkriegspolen zu verdanken sind.

Besprochen werden Manuel de Oliveiras Film "Ich geh' nach Hause", Stephan Toss' Choreografie "Nach Moskau" in Hannover und eine Ausstellung über Paul Celans Wiener Zeit ebendort.

Auf der Schallplatten-und-Phonoseite geht's um eine neue "Tosca" mit mit Angela Gheorghiu, um eine venezianische Weihnachtsmesse aus der Zeit um 1600, um eine dieser grandiosen Miles-Davis-Boxen, die diesmal um die Einspielungen zu "In a Silent Way" kreist, um die Jazzsängerin Holly Cole und um die Madrigale des Prager Renaissance-Komponisten Iacobus Handl Gallus.