Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.01.2002. FR, taz und SZ haben die Holocaust-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum besucht und schwanken zwischen Zustimmung und Kritik. In der FR polemisiert überdies der Bürgerrechtler Wolfgang Templin gegen den rot-roten Senat in Berlin, der nur der PDS nütze. Die FAZ begrüßt die Erlaubnis, nun auch ohne Betäubung zu schlachten und die NZZ nimmt Stellung zum deutschen Hochschulstreit.

FAZ, 16.01.2002

Christian Geyer begrüßt im Aufmacher das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur "Schächtung", das das betäubungslose Schlachten von Tieren entgegen "vermeintlicher westlicher Standards" nun erlaubt: "Die Verfassungsrichter verfolgen insoweit eine klare Linie: Sie schärfen den Glaubensgemeinschaften ihre Freiheit ein, bei grundsätzlicher Beachtung der Rechtsordnung gemäß ihrem besonderen religiösen und weltanschaulichen Bekenntnis zu leben und den Eigensinn ihrer Überzeugungen ungeschmälert zur Entfaltung zu bringen. Damit stellt sich Karlsruhe einer Überdehnung und extensiven Lesart des Begriffs der gesamtgesellschaftlichen 'Werteordnung' entgegen und fordert die Glaubensgemeinschaften auf, in ihrer eigenen Binnenstruktur nicht etwa einen imaginierten gesamtgesellschaftlichen Konsens antizipieren zu wollen." Ganz anders sieht das übrigens Georg-Paul Hefty in seinem Leitartikel auf Seite 1 der FAZ: "Der für die Zukunft des Landes bedeutende Begriff 'Integration' droht in sein Gegenteil verdreht zu werden."

Marta Kijowska erzählt, wie die Polen "der Unüberschaubarkeit des Buchmarktes, dem Ausbleiben wichtiger literarischer Debatten, dem geringen Einfluss von Literaturzeitschriften und vor allem der schwindenden Leselust der polnischen Gesellschaft" westliche Formen des Literaturbetriebs und vor allem den Nike-Preis der Gazeta Wyborcza entgegenstellen, der dem Vorbild des Booker-Preises nachempfunden ist und offensichtlich tatsächlich Wirkung auf das literarische Leben hat.

Weiteres: Dietmar Dath erinnert in einem längeren Essay an ein Treffen des Science-Fiction-Autors H. G. Wells mit Lenin im Jahr 1920. Ilona Lehnart stellt anlässlich der Fusion der Berliner Festspiele, der Berlinale und des Hauses der Kulturen neue Akzentsetzungen des Festspielchefs Joachim Sartorius vor. Der Rechtsprofessor Erik Jayme nimmt ausführlich zur Inititiative des Bundesrats zur Restitution von Raubkunst der Nazis Stellung. Martin Lhotzky resümiert einen Vortrag des Literaturwissenschaftlers Werner Michler über die gefälschten Ossian-Gesänge von James Macpherson, die im 18. Jahrhundert die literarische Welt begeisterten. Jürgen Kaube konstatiert, dass George W. Bushs Ansinnen, die Fürsorge für die Armen religiösen Institutionen zu überlassen, auf den Widerstand von Gerichten stößt. Jordan Mejias erzählt, wie der amerikanische Rechtspopulist Pat Buchanan in einem Buch den Untergang des Abendlands durch Migranten und Bevölkerungsrückgang beschwört - Titel des Buchs: "The Death of the West: How Dying Populations and Immigrant Invasions Imperil Our Country and Civilization".

Ferner berichtet "S.K." über Plagiatsvorwürfe gegen Dieter Wedels ZDF-Mehrteiler "Die Affäre Semmeling" - ganze Passagen seien dem Roman "Monrepos oder die Kälte der Macht", beschwerte sich der Autor des Romans, Manfred Zach. Auf der Medienseite wird Guido Knopps ZDF-Serie über den Jahrhundertkrieg gewürdigt. Und Michael Hanfeld setzt seine Berichterstattung über die Auseinandersetzungen zwischen dem Land NRW und dem ZDF fort. Hans-Dieter Seidel gratuliert dem Regisseur Alain Jessua zum Siebzigsten. Auf der Stilseite fragt Gustav Falke, ob Teppiche Kunst seien. Dieter Bartetzko schreibt zum Tod des französischen Kunsthistorikers Gerald van der Kemp, der das Schloss von Versailles wieder aufmöbelte. Timo John berichtet, dass die Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen den Abriss des kleinen Barock-Schlosses Krauschenwies beantragt haben - angeblich Geldmangel. Rose-Maria Gropp schreibt eine kleine Hommage auf die etwas altertümlichen Parfums der Firma Guerlain. Nach dem Abschied von Yves Saint Laurent tritt nun auch Jean-Paul Guerlain zurück - sein Haus gehört ohnehin schon dem Luxusmulti LVMH.

Besprochen werden eine Aufführung von Berlioz' "Romeo et Juliette" unter Kent Nagano in Berlin, Ulrich Hubs "schnelle, witzig-scharfe" Komödie "Blaupause" in Köln, die Dogma-Komödie "Italienisch für Anfänger" von Lone Scherfig und eine Gerhard-Altenbourg-Ausstellung im thüringischen Lindenau-Museum.

FR, 16.01.2002

Rüdiger Suchsland berichtet von der Holocaust-Ausstellung im Berliner Deutschen Historischen Museum und zeigt sich erstaunt: Es ist die erste ihrer Art überhaupt! So sei nicht nur der Gesamtzusammenhang des Völkermordes erstmalig dargestellt, auch die Geschichte der Holocaust-Wahrnehmung in Deutschland werde in einer vorläufigen Bilanz zum ersten Mal präsentiert und zeige, wie lange es gedauert habe, bis die westdeutsche Öffentlichkeit die Judenvernichtung auch emotional zur Kenntnis genommen habe. Erst die "Popularisierungsmaschine Fernsehen" sei es gewesen, "die einen grundlegenden Wahrnehmungswandel einleitete. Der US-Serie 'Holocaust', klischeetriefend wie sie war, gelang es, das Thema zu ästhetisieren und so die Massen zu berühren".

Noch steht er gar nicht, der neue Berliner Senat. Der Publizist und DDR-Bürgerrechtler Wolfgang Templin aber schlägt schon mal druff: Nicht der Stadt nütze er, sondern der PDS, meint er und spielt an auf das monotone Sparprogramm der Koalition, das keinen Platz für "positive Entscheidungen" lasse, und auf die routinierte "Entschuldigungspolitik" der Altkommunisten: "Es dürfte sich als absolute Fehlrechnung erweisen, die PDS durch Machtbeteiligung zu normalisieren oder zu 'entzaubern'. Mittelfristig wird sie den Spagat zwischen systemoppositioneller Destruktion und taktisch-gefälliger Anpassung durchhalten, machtpolitische Bodengewinne verbuchen und einer innerlich ausgehöhlten SPD zusetzen".

Weitere Artikel: Helmut Ploebst stellt die Teilnehmer der diesjährigen "Tanzplattform Österreich" vor, und Daniel Kothenschulte staunt über mobile Möbel auf der Kölner Möbelmesse und trauert (in einem anderen Artikel versteht sich) um den gestern verstorbenen amerikanischen Jung-Regisseur Ted Demme.

Besprechungen gelten fotografischen Arbeiten von Michael Wesley in einer Ausstellung der Berliner Galerie Fahnemann, der Uraufführung von Felix Mitterers "Johanna oder Die Erfindung der Nation" im Salzburger Landestheater, der Uraufführung von Ulrich Hubs "Blaupause" am Kölner Schauspiel sowie der Pop-Elektronik-Band Notwist und ihrem aktuellen Album "Neon Golden".

TAZ, 16.01.2002

In den Themen des Tages widmet sich die taz, wie die anderen Zeitungen auch, der Holocaust-Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin. Interessant ist die Gegenüberstellung zweier divergierender Beiträge. Während Philipp Gessler in seinem Beitrag gerade das Solide und "Anständige" der Schau und das Wagnis lobt, "etwas darzustellen, was sich einer Darstellung entzieht", liefert Christian Semler gleich eine ganze Mängelliste zum Ausstellungsschwerpunkt "Vergangenheitsbewältigung nach 1945". Semler vermisst nicht nur eine Würdigung des Kampfes der Studentenbewegung gegen das Schweigen der Väter zum NS-Regime und einen Konnex zwischen der Welle rechtsradikaler Gewalt in Deutschland und unserem gegenwärtigen Verständnis des Mordes an den Juden, sondern auch eine Dokumentation des langwierigen Prozesses der Wiedergutmachung, incl. der unsäglichen Zahlungsverweigerung vieler Unternehmen und des Streits zwischen jüdischen und osteuropäischen Organisationen. "Hier geht es um materielle Anerkennung, mehr aber noch um die Anerkennung der Würde als Opfer, die den jüdischen wie den nichtjüdischen Zwangsarbeitern zusteht".

Ebenfalls in den Themen: Vier ehemalige Weggefährten (1, 2, 3, 4) verabschieden den Anfang Januar verstorbenen Mitbegründer der taz, engagierten Journalisten, Entwicklungshelfer und Wissenschaftler Klaus-Dieter Tangermann.

Auf den Kulturseiten blickt Harald Fricke zurück auf das große Vorbild von dokumenta-Kurator Okwui Enwezor: Harald Szeemanns d5 von 1972; Jan Engelmann berichtet von der Grünen Woche in Berlin, wo sich allerhand lernen lässt über Kontrolle im Kuhstall und die Aufhübschung des Umweltbewusstseins, Michael Bartsch schwärmt von Sachsens intelligenter Kulturfinanzierung, und Christian Broecking plaudert über Identitätsprobleme bei Jazzmusikern.

Schließlich Tom.

SZ, 16.01.2002

Dass eine deutsche Holocaust-Ausstellung an der Zeit gewesen ist, findet auch Franziska Augstein. Die "Schau" im Deutschen Historischen Museum hält sie überdies für gelungen. Die Fülle der Originaldokumente, schreibt sie, sei eindrucksvoll, und überall fänden sich Details, "die so etwas wie Entdeckungen ermöglichen". Was die Darstellung der Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der Bundesrepublik angeht, stellt sie "diplomatische Umsicht" fest: Sie "verzichtet auf Provokationen. So groß der Konsens bezüglich der NS- Verbrechen sein mag, so wenig herrscht Einigkeit darüber, wie der Umgang mit dieser Vergangenheit in Ost und West zu beurteilen sei. Aber die Ausstellung vermeidet es, Stellung zu beziehen".

Jürgen Kocka, der Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, führt die Hochschuldebatte weiter. "Trotz aller Dementis", meint er in seinem Beitrag, "die Chance für promovierte, teilweise habilitierte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, nach zwölf Jahren Anstellung im Wissenschaftsbereich ... ohne Lebenszeitstelle weiterbeschäftigt zu werden, nimmt radikal ab. Der Hinweis, befristete Anstellungen seien ja nach dem allgemeinen Arbeitsrecht weiterhin möglich, überzeugt nicht". Wer derart den zunehmenden Wechsel der Beschäftigungsverhältnisse erschwere, so Kocka, erhöhe die Arbeitslosigkeit und reduziere die Leistungsfähigkeit.

Außerdem: Holger Liebs sagt, wie die Krise der New Economy sich auf der Kölner Möbelmesse bemerkt macht (man wirbt jetzt für das Steck-Regal "Egal"), Andreas Bernard kommentiert einen heißen ikonographischen Trend aus New York (Ansichtskarten mit brennendem WTC), Jürgen Berger versucht zu ergründen, warum einem gefeierten Marthaler in Zürich dennoch die Zuschauer fehlen, Kristina Maidt-Zinke besucht Dietrich Schwanitz in Hartheim, wo der Bestseller-Autor eine Volkstheaterbühne instandsetzt, und Jens Bisky meldet mit verhaltener Empörung, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft ihren Verlagsausschuss entlässt.

Besprochen werden Werner Herzogs Comeback, der Film "Invincible" (dazu gibt's ein Interview mit Herzog übers Kinogeschichtenerzählen), die Uraufführung von Felix Mitterers Jeanne d'Arc-Stück am Salzburger Landestheater, ein dadaistisches Musik-Theater-Konzert mit Oswald Wiener in Köln sowie an Büchern: eine Geschichte des englischen Weltreichs vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert und ein Handbuch der Antike, das dem Mythos und seiner Überlieferung in Literatur und bildender Kunst nachspürt (auch in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 16.01.2002

Joachim Güntner kommentiert den deutschen Streit um die Universitätsreform, nach der die Habilitation zugunsten einer "Juniorprofessor" abgeschafft werden soll: "Plausibel ist die Befürchtung, dass die Novellierung des Gesetzes den Jugendlichkeitswahn befördert und ein neues Selektionsprinzip installiert: 'Alter statt Qualität.' Aber dass es 'Massenentlassungen' erzwinge, ist aus dem Gesetz nirgends ablesbar."

Weiteres: Marc Zitzmann resümiert die französische Debatte um Entschädigungsklagen französischer Behinderter, die inzwischen durch ein Gesetz beendet ist: Auch wenn die eigene Behinderung einem ärztlichen Kunstfehler geschuldet ist, kann man sein Leben nicht als Schadensfall einklagen. Peter Hagmann widmet sich "Leben und Stillstand beim Berner Symphonie-Orchester". Besprochen werden die Ausstellung "Loop - Alles auf Anfang" im New Yorker P.S. 1 und einige Bücher, darunter "Schweigen", der erste Roman des Dramatikers Joshua Sobol und Uwe Timms Roman "Rot" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).