Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.09.2002. Die FAZ wundert sich über den Realitätsschock nach dem 11. September. Die NZZ widmet sich der Realität und berichtet über die "Initiative Berliner Bankenskandal". In der taz erklärt Hans-Ulrich Wehler, warum die Bundesrepublik ein "Türkenproblem" hat. Die FR ärgert sich über den Goldenen Löwen für Peter Mullen. Die SZ geißelt die "Verliederlichung" der Historikerzunft.

NZZ, 10.09.2002

Claudia Schwartz ärgert sich über die "Initiative Berliner Bankenskandal", die die Namen von rund 150 Personen publiziert, die Immobilienfonds der Berliner Bankgesellschaft erworben hatten. "Die meisten der an den Pranger Gestellten hatten die Fonds in gutem Glauben gekauft. Nicht ein moralisch fragwürdiges Verhalten ihrerseits ist Grund für das Finanzdesaster, sondern die Konstruktion der Fonds. Dies kümmert die Verfasser der Proskriptionslisten jedoch wenig ... Ausgerechnet der Amtsnachfolger des CDU-Fraktionsvorsitzenden, der in seiner Doppelfunktion als Politiker und Manager die Schlüsselgestalt des Bankenskandals war, unterstützt die Ziele der Protest-Initiative. Die für das Malaise hauptverantwortliche Partei zeigt mit dem Finger auf die kleinen Kapitalanleger. Scheinheiliger kann man kaum 'Haltet den Dieb' rufen. So lässt sich die Bankenskandal-Initiative als Spiegelbild der gesellschaftlichen Eliten Berlins verstehen."

"Ein Jammer ist es, ein wahrer Jammer. Da gibt es dieses hervorragende Potenzial, und es wird nicht genutzt. Verschanzt hinter trotzigem Konservativismus, stolz beschränkt auf die Nummer Sicher des Mainstream, dabei mit einem fahlen Gesicht, hinter dessen Falten allerdings da und dort etwas hervorblitzt - so erschienen die Wiener Philharmoniker beim Luzerner Musiksommer dieses Jahres. Und dies umso mehr, als wenige Tage zuvor die Berliner Philharmoniker vorgeführt hatten, wie ein Spitzenorchester lebendig bleiben kann, wenn es sich denn bewegt ..." So beginnt Peter Hagmanns bewegende Klage über ein Konzert der Wiener mit Mariss Jansons.

Weitere Artikel: Reinhold Vetter war in Bukarest und hat sich dort Ceausescus "pharaonische" Casa Poporului, das Haus des Volkes, angesehen. "Ausgestattet mit einem Grundriss von 270 mal 240 Metern und einer Höhe von 86 Metern, soll es 3,3 Milliarden Dollar gekostet haben. Seine über 1000 Räume werden bis heute nur unvollständig genutzt." Obwohl dem Bau "ein Akt barbarischer Stadtvernichtung vorausgegangen" war - etwa 20 Prozent der Bausubstand Bukarests wurden vernichtet - ist der Palast bei den Rumänen "sehr populär". Bernd Flessner stellt deutschsprachige Science-Fiction-Autoren vor. Abgedruckt ist schließlich ein Text des Schriftstellers Mattia Cavadini über die Heide.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Grafiken und Multiples von Richard Hamilton im Kunstmuseum Winterthur, und Christiane Zintzen stellt neue Lyrik aus Österreich vor.

FAZ, 10.09.2002

Mark Siemons schildert den (seinen?) "Realitätsschock" nach dem 11. September, der plötzlich auch "Ron Sommer, Thomas Middelhoff und zahllose andere vormals gut bezahlte Angestellte in den Bereichen Consulting, Werbung, Informationstechnologie, Medien, Finanzdienstleistung, New Economy" eingeholt habe. "Die Abstraktion, die für diese Weise des Wirtschaftens typisch war, vermochte die einzelnen Wirklichkeitselemente nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Verknüpfbarkeit wahrzunehmen: 'Wirklichkeit' war für sie letztlich nichts anderes als ein selbsterzeugtes, bei Bedarf zu wechselndes Markenimage."

Weitere Artikel: Gina Thomas beschreibt die Reaktionen der angloamerikanischen Presse auf Martin Amis' Stalin-Buch "Koba the Dread". Sybille Tönnies fürchtet sich vor der Pax americana und einem Krieg gegen den Irak: "Man spürt zwar, dass etwas Unrechtes und Gefährliches geschieht - man spürt aber auch, dass es unausweichlich ist. Niemand wagt, die amerikanische Hegemonie zu rechtfertigen; niemand wagt andererseits, ihr zu widersprechen." (Zumindest in der deutschen Presse geschieht doch nichts anderes.) WWS. schreibt zum Tod des Pianisten Vlado Perlemutter und Hans-Martin Gauger zum Tod des Linguisten Eugenio Coseriu. Kerstin Holm berichtet über die Potsdamer Gespräche zur Architektur in Moskau. Und Jordan Mejias erzählt auf der letzten Seite von seinem Besuch bei der Freiheitsstatue in New York.

Auf der Medienseite kommentieren Roger de Weck und Michael Hanfeld das Kanzler-Duell: Während de Weck die Moderatorinnen lobt, beklagt Hanfeld die "Medienfixierung der Macht".

Besprochen werden eine Ausstellung mit Handschriften und Illuminationen einer untergegangenen Frömmigkeit in Brügge und die Aufführung von Olga Neuwirths "Bählamms Fest" in Luzern.

TAZ, 10.09.2002

In einem Interview mit Christiane Kühl gibt der amerikanische Dramatiker und Filmemacher Neil LaBute Auskunft über seine 11. September-Stücke, von denen eines - "Land of the dead" - morgen auf einer großen Benefizveranstaltung in New York uraufgeführt wird. La Bute, dem bescheinigt wird, in seinen Filmen extrem "brutale Mittelklasse-Protagonisten" unkommentiert zu präsentieren, findet sein Stück zwar definitv nicht "tröstend", allerdings auch allenfalls nur "bittersüß". Auf die Frage, ob dem Künstler in Krisenzeiten eine besondere Aufgabe zukomme, erklärt er lapidar: "Nein. Es gibt keine Verantwortung, etwas sagen zu müssen."

Christina Nord kommentiert ausführlich die Zuerkennung des Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen von Venedig für Peter Mullan und seine Nonnengeschichte "The Magdalene Sisters". Dass die Kirche von dieser Geschichte mit realem Hintergrund über "Zwangsarbeit" junger Frauen in einer von katholischen Nonnen geführten Anstalt nicht begeistert sein kann, leuchtet durchaus ein. Nord berichtet, dass Mullan bereits bei seinen Recherchen auf Schwierigkeiten stieß. Eine irische Tageszeitung habe sich geweigert, seine Anzeige, mit der er nach in eine Magdalenenkonvent eingewiesenen Frauen suchen wollte, zu drucken, weil er darin die Wörter 'survivor' (Überlebender) und 'Magdalene asylum'" kombiniert habe. Insgesamt konstatiert sie - wenn auch mit aller Vorsicht - einen "Boom" von "Wahn und Krankheit im Weltkino". Die weiteren Preisträger finden Sie hier.

Weitere Themen: Christiane Rösinger hat eine Sexmesse im traditionsreichen Ostberliner "Cafe Moskau" besucht, und natürlich werden auch Bücher besprochen: u.a. Marc Fischers Roman "Jäger", der Debütroman des Schweizers Andreas Münzner, zwei kunsttheoretische Bände, sowie mehrere Publikationen zum Thema Migration und Multikultur (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Hingewiesen sei noch auf ein Interview mit dem Historiker Hans-Ulrich Wehler auf den Tagesthemenseiten zum 11. September. Wehler sieht in der Bundesrepublik kein gutes Beispiel für die gelungene Integration von Moslems. "Die Bundesrepublik hat kein Ausländerproblem, sie hat ein Türkenproblem. Diese muslimische Diaspora ist im Prinzip nicht integrierbar. Die Bundesrepublik ist seit ihrer Gründung mit heute zehn Prozent Zugewanderten bravourös fertig geworden. Aber irgendwann kommt eine Grenze, was man einer komplexen Gesellschaft zumuten kann."

Schließlich Tom.

FR, 10.09.2002

Daniel Kothenschulte erklärt, warum er die Preisvergabe bei den Filmfestspielen in Venedig für "bestürzend" und "beschämend" hält. Ein "nonkonformistisches Kino" wie Antonionis Film "Rote Wüste" 1965 habe heute vermutlich "keine Chance mehr am Lido". "Wie", fragt er empört, "konnte irgendjemandem die Meisterschaft Takeshi Kitanos entgehen?" Stattdessen habe die Jury mit Peter Mullans "plumpem britischen Sozialdrama 'The Magdalene Sisters'" (...) jenen neuen Quäl-Realismus" gewürdigt, "der uns als Trend noch einige Zeit beschäftigen wird."

Christian Thomas berichtet ebenfalls aus Venedig, allerdings von der Architekturbiennale. Die für den Besucher eine arbeitsintensive, "insgesamt exquisite Sammlung der Superlative". Sie könne, findet Thomas, in ihrem grenzenlosen "Optimismus" und "Futurismuseifer" vielleicht doch etwas "kleiner (demutsvoller) operieren".

Weitere Artikel: Peter Michalzik resümiert das Kanzler-Kandidat-TV-Duell als Theaterkritik und hat am Schluss eigentlich nur noch zwei Fragen: "Was wäre passiert, wenn die Damen die Kandidaten gefragt hätten, wie sie es denn interpretieren, dass sie die gleiche Krawatte anhaben? Und welche von beiden hätte diese Frage eher gestellt?" Stephan Hilpold kommentiert Jörg Haider und sein Rin-in-die-Bundespolitik-raus-aus-der-Bundespolitik. In der Kolumne "Times mager" denkt tt über das verantwortungsvolle Amt der Handicapper nach - im Pferderennen und im politischen Wahlkampfgeschäft. Und schließlich würdigt auch die FR den Auftakt von Simon Rattle mit den Berliner Philharmonikern, wenn auch leicht verhalten.

Besprochen werden die Uraufführung einer Komposition von Mark-Anthony Turnage mit dem Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt und dem John Scofield Trio in der Frankfurter Alten Oper und Lessings Trauerspiel "Miss Sara Sampson" am Hamburger Thalia Theater. Außerdem zwei Filme: "Birthday Girl" von Jezz Butterworth mit Nicole Kidman, die auch hier als "Sensation" gefeiert wird, und "Lucia und der Sex" von Julio Medem, angeblich "die erste Literatur-Verfilmung, die sich nicht auf ein bestimmtes Buch bezieht, sondern auf die Durchdringung des Schreibens im Kino". Du liebe Güte.

SZ, 10.09.2002

Willi Winkler staunt über die Energie des inzwischen 90-jährigen grand old man des amerikanischen Journalismus, Studs Terkel (mehr hier), der derzeit mit seinem neuen Buch "Gespräche um Leben und Tod" in Deutschland auf Lesereise ist: "Nach einem 15-stündigen Flug von Chicago über Kopenhagen und München nach Berlin kann er die Bedienung im Lokal so heftig für das Wiener Schnitzel loben, dass sie beinah knickst vor soviel Komplimenten. 'Warum sollte ich aufhören?' fragt er, zündet sich eine monströse kubanische Zigarre an, ascht damit auf die einzige mitgebrachte Hose und die unverzichtbaren roten Socken."

Der Schriftsteller Matthias Politicky ventiliert noch einmal die Gretchenfrage, welchen der beiden TV-Duell-"Provinzfürsten" wir denn nun haben wollen: "Die gute Nachricht: Einen der beiden werden wir in knapp zwei Wochen los sein. Die schlechte: Den andern nicht."

Weitere Themen: Christian Jostmann zeichnet anlässlich des 44. Deutschen Historikertages in Halle ein erbarmungswürdiges Bild von der "Verliederlichung einer Zunft". Der Politikwissenschaftler Peter Reichel resümiert 50 Jahre Luxemburger Abkommen, das deutsche Entschädigungsleistungen an Israel regelt. Bernd Graff bescheinigt der diesjährigen Ars Electronica in Linz zwar über ein politisches Motto, nicht aber die dazugehörige Kunst zu verfügen. Tobias Kniebe bewertet den Goldenen Löwen für Peter Mullans Film "The Magdalene Sisters" in Venedig als ein "Fanal für das engagierte Kino". Tim B. Müller bereitet uns auf vier Adorno-Biografien vor: von Wolfram Schütte, Detlev Claussen, Stefan Müller-Doohm und Lorenz Jäger. Alex. reicht leicht melancholisch eine Meldung aus der Wissenschaft weiter, wonach jetzt endgültig "in zehn Milliarden Jahren ist Schluss mit lustig" sei, weil das Weltall kollabiert. Und schließlich lesen wir noch einen Nachruf auf den Sprachwissenschaftler Eugenio Coseriu.

Besprochen werden Kathryn Bigelows Film "K-19" mit Harrison Ford, eine Inszenierung der "Verkauften Braut"an der Komischen Oper in Berlin und eine Ausstellung im Rahmen des Kunstsommers Wiesbaden (mehr hier) zum Thema "40 Jahre Fluxus und die Folgen".