Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.09.2003. Die SZ enthüllt die Identität der Anonyma ("Eine Frau in Berlin"). Die taz stellt die neuen russischen Schriftsteller vor. In der FR sinniert Herfried Münkler über den Mehrwert des Opferstatus. Lord Dahrendorf erklärt in der NZZ: Autobiografien sind Lebenslügen. In der FAZ sieht Hanna Liss im Kopftuchstreit Parallelen zur jüdischen Geschichte in Deutschland.

SZ, 24.09.2003

Wer ist die Anonyma, deren Tagebuch-Aufzeichnungen "Eine Frau in Berlin" über Luftschutzkeller, Hunger und Vergewaltigung von 1945 sich seit Monaten auf den Bestsellerlisten halten? Verärgert über die "überaus schlampige" Ausgabe des Eichborn-Verlages, ist Jens Bisky auf die gute Idee gekommen, mal ein bisschen nachzuforschen. Für Bisky spricht alles dafür, dass die Berichte von der Journalistin Marta Hiller stammen und von ihrem Kollegen Kurt W. Marek nachträglich bearbeitet wurden. Aber gänzlich nachweisen kannn er es natürlich nicht. So bleibt sein Ärger: "Solange das Buch in so nachlässiger Edition verkauft und als historisches Zeugnis vermarktet wird, profitieren Verlag und Herausgeber schamlos von der gutwilligen Leichtgläubigkeit der Leser. Diese haben ein Recht zu erfahren, wie es wirklich war mit diesem Buch."

Wo es um Frankreichs grandeur geht, leidet leider meist das Urteilsvermögen, meint Clemens Pornschlegel, weswegen er auch von der eben eröffneten grand debat zur Lage der education nationale nicht viel erwartet. Dabei sind die Probleme gravierend: "Das französische Bildungssystem bietet nicht die geringste Chancengleichheit. Es perpetuiert mit kaum vorstellbarer Rigidität die bestehenden Klassenverhältnisse. Reiche bleiben reich, Arme arm. Das System hat nicht zur Demokratisierung der Bildung beigetragen, die Vermassung hat zu mehr sozialer Ungleichheit und zur ghettoisation geführt. Der Staatsminister für Unterricht, Xavier Darcos, stellte fest: 'Die soziale Reproduktion hat noch nie so gnadenlos funktioniert wie heute.'" So viel zu den Ganztagsschulen.

Weiteres: Der palästinensische Soziologe Salim Tamari, Direktor des Instituts für Jerusalem-Studien, plädiert angesichts der gescheiterten Unabhängigkeit und der wachsenden Bedeutung islamistischer Bewegungen für eine Neubestimmung des palästinensischen Nationalismus. Markus Balser und Michael Bauchmüller fürchten, dass bei den - abseits des Rampenlicht fortgesetzten - WTO-Verhandlungen nun die Kultur an die Reihe der Liberalisierung kommt. In einem Offenen Brief warnt der Dramatiker Marius von Mayenburg vor den gewaltigen Etat-Kürzungen am Niedersächsischen Staatstheater in Hannover. Christiane Schlötzer erzählt, wie Türken und Griechen zumindest in einem Architektur-Projekt zusammenfinden wollen. Und Burkhard Müller beendet die Italienisch-Lektionen mit einem denkwürdigen Satz über die Tedeschi: "So füllt sich Italien... mit einem Volk, das 'Typisch deutsch!' ruft, die Nase rümpft und nicht merkt, dass es der Geruch der eigenen Oberlippe ist, den es nicht aushält."

Besprochen werden Gary Ross' klassischer Suspense- und vertrackter Medienfilm "Seabiscuit", Rene Polleschs Stück "Splatterboulevard" am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und neue CDs, darunter Eduardo Lopez Banzos Wiederentdeckung der spanischen Barockoper "Jupiter y Semele", Michel Corboz Einspielung von Franz von Suppes Requiem, sämtliche Sibelius-Symphonien, dirigiert von Sakari Oramo, eine Zusammenstellung der wichtigsten Arbeiten des griechischen Komponisten Iannis Xenakis.

TAZ, 24.09.2003

Kolja Mensing konstatiert einen Generationenwechsel in der russischen Literatur, die Autoren der 90er Jahre wie Wiktor Pelewin, Wladimir Sorokin oder Eduard Limonow sind abgelöst: "Die Behandlung des postsowjetischen Alltags als neurotischen Ausnahmezustand scheint jedoch langsam aus der Mode zu kommen. Jüngere Autoren wie Roman Sencin (mehr hier), Alexander Ikonnikow (mehr hier) oder Ilja Stogoff (mehr hier), deren Bücher pünktlich zur Buchmesse mit ihrem Russland-Schwerpunkt auch in deutschen Übersetzungen erscheinen, beschäftigt nämlich nicht mehr die unberechenbare Dynamik und 'fürchterliche Unbestimmtheit' der Gegenwart, von der Wiktor Pelewin in seinem manifestartigen Roman 'Generation P' gesprochen hatte. Sie zeichnen stattdessen das Bild einer Generation, die irgendwann zwischen den so genannten historischen Umwälzungen im Sumpf der Geschichte stecken geblieben ist - und für die sich 'sehr, sehr lange nichts ändern wird'. Ihre Angehörigen waren zu jung, um sich Anfang der Neunziger als Unternehmer in die Schlacht der freien Marktwirtschaft zu stürzen. Jetzt, mit 25 oder 30 Jahren fühlen sie sich bereits zu alt für einen neuen Anfang."

In der Diskussion um Margarethe von Trottas Film "Rosenstraße", dem der Historiker Wolfgang Benz Geschichtsklitterung" vorgeworfen hat, zeigt sich Cristina Nord moderat: "In der ihrem Metier eigenen Logik haben beide Recht: der Historiker, insofern er komplexe Fakten überschaut, von einfachen Kausalbeziehungen nichts hält und daher jede Reduktion beklagen muss. Und die Filmemacherin, insofern sie sich nicht damit aufhalten möchte, die Bruchstücke von Geschichten abzubilden."

Weiteres: Das aktuelle Du-Heft glänzt mit einem Special, in dem 147 Autoren eine aktuelle Enzyklopädie von "AAA" bis "Zukunft" verfassen. Eva Behrendts bündiges Urteil: " Dieses Heft ist - anders als die meisten, häufig tantenhaft oder ökologisch überkorrekt anmutenden Du-Exemplare - eine absolute Really-must-have-Spezialausgabe." Und Susanne Messmer bespricht neue Bücher von Maike Wetzel, Henrik Hieronimus, Claudia Kaiser, Claudia Koppert und Jörg Matheis (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

FR, 24.09.2003

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler (mehr hier) sinniert in der Debatte um das Zentrum gegen Vertreibung über den "Mehrwert des Opferstatus": " Der politische Mehrwert des Opferstatus resultiert aus der moralischen Privilegierung des Opfers. Deswegen sind alle, die diesen Status einmal erlangt haben, nicht bloß daran interessiert, ihn auch weiterhin innezuhaben, sondern sie möchten ihn auch mit möglichst wenigen teilen. Je mehr nämlich den Opferstatus innehaben, desto geringer fällt dessen politischer Mehrwert aus. Wie das Geld verliert auch der Opferstatus durch Inflationierung seinen Wert. Dementsprechend bedarf es der Hüter, die der Inflationsgefahr entgegentreten. Der Opferstatus ist inzwischen eine Währung, und die funktioniert bekanntlich nach ganz eigenen Prinzipien und Regeln. In Deutschland haben vor allem Historiker die Rolle des Währungshüters übernommen. Jörg Friedrich hat sich mit seinem Buch über den Bombenkrieg für kräftige Auszahlungen engagiert."

Weiteres: Franz Anton Cramer betrachtet, wie die Spaßguerilla mit Wagner den Palast der Republik erobert. Ulla Hanselmann erzählt vom Kampf gegen die Trostlosigkeit von Halle-Neustadt, als "HaNeu" einst die drittgrößte Großsiedlung der DDR. Jürgen Otting meldet, dass das Berliner Festival "Total Music Meeting" vor dem Aus steht. In Times mager erzählt Thomas Medicus von einer Lesung des amerikanischen Schriftstellers William T. Vollmann.

Besprochen werden eine Ausstellung von stalinistische Kunst in der Frankfurter Schirn, Robert Rodriguez' Desperado-Film "Irgendwann in Mexico" und Bücher, darunter Stefan Breuers Studie "Moderner Fundamentalismus" und bisher unbekannte Texte von Robert Walser (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 24.09.2003

"Autobiografien sind Lebenslügen", erklärt Ralf Dahrendorf, der selbst eine verfasst hat. Dennoch habe sie immer einen Zweck, "und sei es nur den, das, was sonst ohne eigenes Zutun ans Tageslicht gekommen wäre, zu verbergen. Wo aber bleibt dann das Positive? Für mich ist die Antwort einfach: in der Biografie, also in der Beschreibung des Lebens anderer, und zwar vor allem solcher, zu denen der Autor eine besondere Beziehung hat. Der rote Faden, der dem Lauf der Erfahrungen anderer eingezogen wird, hat nichts Peinliches, ist auch keine Lebenslüge. Er gehört mit in das große Lebenswagnis von Versuch und Irrtum, das uns voranbringt." Der Text ist ein Auszug aus einer Rede, die Dahrendorf beim Lucerne Festival gehalten hat.

Weitere Artikel: Gerda Wurzenberger macht sich Gedanken über leider oft viel zu pädagogische Kinderbücher. Besprochen werden eine Retrospektive zum Werk der Performancekünstlerin Laurie Anderson im Düsseldorfer Museum Kunstpalast, Sebastian Nüblings Inszenierung von Händl Klaus' Stück "Wilde - der Mann mit den traurigen Augen" beim "steirischen herbst" in Graz und Bücher, darunter das "Journal des Luxus und der Moden 1786-1827" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 24.09.2003

Heute entscheidet das Bundesverfassungsgericht über das Kopftuch einer muslimischen Lehrerin. Hanna Liss, Dozentin für Jüdische Studien in Heidelberg, sieht im Kopftuchstreit gewisse Parallelen zur jüdischen Geschichte in Deutschland: die religiösen Gesetze der traditionellen Juden "Speise- und Kleidervorschriften, Werkverbot am Schabbat, Verbot der Mischehe und Beschneidung" mussten verschwinden, damit die Juden einer Integration für würdig befunden wurden. Aber ist das tolerant? "... eine Muslima, die ein Kopftuch trägt oder kein Kopftuch trägt, trifft nicht nur eine persönliche Entscheidung, sondern nimmt immer schon Stellung innerhalb ihrer Religion: Sie stellt sich entweder auf die Seite assimilierender Bestrebungen, oder sie hält sich an die traditionelle Form ihrer Religion. Wertneutral kann sie sich keinesfalls verhalten. Und so wenig wie sich die Muslima wertneutral verhalten kann, so sehr hebelt der Staat das Gebot der Wertneutralität, das zu schützen er sich vorgenommen hat, gerade aus. Denn er greift durch ein Urteil über das Kopftuch in die innerislamischen Auseinandersetzungen ein und bevorzugt damit eine bestimmte Richtung."

Weitere Artikel: Heinz Berggruen definiert Luxus neu: wenn man einen Picasso aus der rosa Epoche mit der U-Bahn transportiert. A.H. meldet die Eröffnung der neuen Pinacotheque de Paris im November. Eberhard Rathgeb war bei der Tagung (Programm) der Thomas-Mann-Gesellschaft in Lübeck. Regina Mönch stellt die traurige Bildungsbilanz Berlin-Brandenburgs vor: Kinderschwund und mangelnde Deutschkenntnisse. Peter Winter hat sich ein Installations- und Skulpturenprojekt junger Künstler in der Lüneburger Heide angesehen. Wesel will seine spätgotische Rathausfasse wiederhaben, ab das, meint Michael Glassmann, könnte am Ende aussehen, wie "eine Diamantbrosche auf Freizeitkleidung". Gina Thomas schreibt zum Tod des britischen Historikers Robert Blake. Jordan Mejias hat angenehme Tage beim New Yorker Festival verbracht.

Auf der Stilseite stellt Jürgen Dollase nach mehreren Restaurantbesuchen fest: die besten Kreatoren sind nicht unbedingt die besten Realisatoren. Klaus Ungerer widmet sich im Sprachlabor dem Geist in den Dingen. Ingeborg Harms singt Yohji Yamamoto, der am Freitag sechzig wird, ein Ständchen. Der Modedesigner hatte den jungen Wilden in den Achzigern gezeigt, was "wirklich Antimode" war: "Hatte die Mode sich eben an kunterbunte Modelle von der Stange gewöhnt, so brachte Yamamoto ihr bei, daß Individualität nicht von einem persönlichen Schneider verbürgt wurde, über den eine Dame verfügt, sondern in den Fetzen und Löchern des persönlichen Elends, in der Geschichte, die eine Garderobe, die nicht frivol war, am Rand eines Jahrhunderts der Schrecken erzählte."

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld über neuesten Wendungen im Streit zwischen der WAZ und Michael Dichand. Letzterer hatte behauptet, die WAZ arbeite in Kroatien mit der Mafia zusammen. Auf der letzten Seite porträtiert Patrick Bahners die CDU-Vorsitzende Angela Merkel als Goldgänseliese. Günter Barudio erklärt in einem historischen Abriss, warum die Schweden gegen den Euro gestimmt haben und warum das gut so ist. Jürgen Kaube wundert sich über Gerhard Besier, Direktor des Hannah-Arendt-Instituts, der letzte Woche in Brüssel ein "Zentrum für Religionsfreiheit" eröffnete: das Zentrum ist eine Filiale der Scientologen.

Besprochen werden Christian Petzolds Film "Wolfsburg", ein Konzert der Dixie Chicks (mehr hier) in Frankfurt und Bücher, darunter Steffen Menschings Roman "Jakobs Leiter" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 24.09.2003

Die Vertreibungen waren ein Kriegsverbrechen, und darum muss es auch ein Zentrum für die Vertriebenen geben dürfen, meint Cora Stephan in der Welt. Die Vertreibungen als "Strafe" für Auschwitz zu akzeptieren hieße "die Verewigung von Krieg, Vertreibung, Massenmord". Das große Drama des 20. Jahrhunderts "als ein europäisches, ja weltweites zu begreifen tut weh. Dieser Denkprozess aber ist unerlässlich für die Verständigung über die Gesetze und Regeln, nach denen wir in Europa künftig zusammenleben wollen. Es muss ein Europa sein, in dem weder Vertreibung noch Menschenvernichtung, weder Benesch-Dekrete noch Bomber-Harris Platz haben oder gar ein Denkmal verdienen. Das ist für die Zukunft wirklich nicht zu viel verlangt."

Hingewiesen sei schließlich noch auf Götz Alys (mehr hierRezension des 4. Bandes von Hans-Ulrich Wehlers (mehr hier) Gesellschaftsgeschichte in der Berliner Zeitung: "Er ist an der Sozialgeschichte des nationalsozialistischen Deutschlands gescheitert."