Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.01.2004. In der FAZ fragt sich Zafer Senocak, was die Türkei zur kulturellen Identität Europas beiträgt. Die taz versteht Hans Magnus Enzensbergers Empörung nicht. In der FR erklärt Manfred Schneider, woher Europas künftige Eliten kommen werden: aus Osteuropa. Die SZ findet es arschkalt in Kevin Costners neuem Western. Und die NZZ heißt angeblich alles gut, was Geld spart.

FAZ, 28.01.2004

Der Schriftsteller Zafer Senocak (mehr hier) sucht nach der kulturellen Identität Europas und überlegt, was die Türkei dazu beiträgt. Für ihn sorgen "Demokratie und pluralistische Lebensformen als Produkte des bürgerlichen Zeitalters für eine bestimmte, einzigartige Tönung, die nur der westlichen Zivilisation zugeschrieben werden kann". Die Türkei ist jedoch für Senocak noch weit entfernt, "die europäische Kultur mit hochrangigen, exklusiven Beiträgen zu bereichern". Schuld daran sind vor allem die "westlich geformten national gesinnten Eliten", deren "kulturelles Versagen" erst zu einer "Art Kulturdiktatur" geführt habe und die ausgerechnet jetzt die "europakritischen Stimmen in der Türkei" anführen. "Politiker aus dem islamischen Lager und das einfache Volk auf der Straße, das weder in die Oper geht noch irgendein anderes abendländisches Kultursymbol sein eigen nennt, sind dagegen eifrige Befürworter des EU-Beitritts."

Arno Lustiger (mehr) erinnert in seiner Rede anlässlich des Holocaust-Gedenkentages, die die FAZ auszugsweise abdruckt, auch an die deutschen Judenretter, wie etwa an den Feldwebel Anton Schmid, der ab 1940 als Leiter der Versprengten-Sammelstelle der Wehrmacht in Wilna diente: "Im Zeitraum von wenigen Monaten, vom Spätsommer 1941 bis zum Januar 1942, vollbrachte er unglaubliche Heldentaten. Er transportierte mit seinen Wehrmachts-Lastwagen mit Marschbefehlen, die er selbst ausgestellt hatte, bis zu dreihundert Juden aus Wilna nach Weißrussland und rettete damit vorerst ihr Leben. Anton Schmid wurde im Januar 1942 verhaftet. Das Kriegsgericht in Wilna verurteilte ihn am 25. Februar 1942 zum Tode; das Urteil wurde am 13. April 1942 durch Erschießen vollstreckt. Feldwebel Anton Schmid ist sehr einsam gestorben. Er konnte weder auf die Solidarität einer politischen Gruppierung hoffen noch des ehrenden Andenkens der Nation sicher sein, deren Uniform er trug. Er verdient allgemeine Bewunderung."

Weitere Artikel: Heinz Berggruen erzählt, wie Helmut Newton ein Abendessen mit dem Bundeskanzler verschlief. Abgedruckt ist eine Erklärung von sieben Heidelberger Professoren des Instituts für Anatomie und Zellbiologie, die sich von Gunther von Hagens "Körperwelten"-Ausstellung distanzieren: "Die menschlichen Präparate werden oft in einer Weise präsentiert, die die Anatomie völlig verfälscht." Mark Siemons berichtet von einer Diskussion, zu der Heinrich August Winkler ins Berliner Haus der Friedrich Ebert Stiftung eingeladen hatte: Es ging um die Frage, ob "Westen" noch eine "brauchbare Kategorie ist, um die angeschlagenen transatlantischen Beziehungen und die europäische Integration wiederzubeleben". Christiane Tewinkel berichtet über UltraSchall, das Festivel für Neue Musik in Berlin. Edo Reents gratuliert dem Rock'n'Roller Achim Reichel zum Sechzigsten.

Auf der Medienseite berichtet Jörg Bremer, dass die gegen Israel gerichtete Hetze im palästinensischen Fernsehen "spürbar" nachlässt, seit der Informationsminister in einem Brief an Rundfunk und Presse zur Mäßigung aufgerufen hat. Für die Stilseite hat Andreas Rosenfelder ein Seminar des "Art Directors Club" besucht um zu erfahren, was gute Werbung ist. Andreas Platthaus bespricht eine Ausstellung über die Entwicklung des ostdeutschen Designs im Leipziger Museum für Kunsthandwerk. Auf der letzten Seite porträtiert Paul Ingendaay den spanischen Politiker Francisco Alvarez Casco, der sich aus der Politik zurückgezogen hat, um sich ganz seiner 21 Jahre jüngeren Freundin widmen zu können. Und Rainer Blasius porträtiert den Historiker Michael Buddrus, der ein Gutachten zur Frage erstellt hat, ob man ohne individuellen Antrag Mitglied der NSDAP werden konnte. Laut Buddrus war das nicht möglich.

Besprochen werden Kevin Costners Filmwestern "Open Range", eine Botticelli-Schau im Pariser Musee de Luxembourg, Verdis "Nabucco" an der Hamburgischen Staatsoper und eine Ausstellung über Günther Domenigs Steinhaus - er baut seit 1986 daran, es ist noch nicht fertig - im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt.

TAZ, 28.01.2004

Will Hans Magnus Enzensberger die Zweifel am Tagebuch der Anonyma "in gut löwenhafter Manier einfach wegbrüllen", fragt sich Dirk Knipphals angesichts des empörten Textes von Enzensberger in der gestrigen FAZ. Niemand habe Hannelore Marek, der Erbin des Tagebuchs, Manipulation unterstellt. Die "zentrale Frage" habe Enzensberger aber immer noch nicht beantwortet: "inwieweit der publizierte Text mit dem authentischen Tagebuch übereinstimmt, das die Autorin im Jahr 1945 in Berlin geführt hat". Auch das zweiseitige Gutachten Walter Kempowskis könne "die Frage nicht abschließend beantworten, ob zwischen dem Originaltagebuch und der heutigen Ausgabe weitere Bearbeitungsschritte lagen. Und genau das ist nun der Punkt, an dem Enzensberger Nachforschungen als moralisch verwerflich denunziert."

Weiteres: Dietmar Kammerer berichtet über ein Symposium in Bremen, auf dem Filmwissenschaftler über das "Unheimliche" im Film sprachen. Besprochen wird eine Ausstellung der "privaten Mythologien" Sophie Calles im Centre Pompidou.

Schließlich Tom.

FR, 28.01.2004

Manfred Schneider, Professor für Ästhetik und Literarische Medien an der Universität Bochum, findet Edelgard Bulmahns "Brain Up"-Uniwettbewerb nicht besonders hilfreich: "Es wird zumal in Deutschland kein Harvard, kein Yale, kein Stanford geben. Man kann mit Wettgeld nicht züchten. Es ist auch nicht nötig." Denn: "Europas Eliten werden zu einem großen Teil aus den osteuropäischen Ländern kommen. Sie bilden eine Ressource an Talenten auch und gerade für ein Land, das weniger Kinder zeugt und doch mehr Genies haben möchte."

Weiteres: Ulrich Speck blickt auf die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die morgen in Hamburg ihre letzte Station erreicht. Silke Hohmann gratuliert Claes Oldenburg, dem "Meister sinnbildhafter Maßstabsverschiebungen", zum Fünfundsiebzigsten. Jürgen Otten berichtet vom "Ultraschall"-Festival für neue Musik in Berlin, Franz Anton Cramer war auf dem Salzburger Tanzfestival "choreographische plattform österreich 04". In Times mager findet Ina Hartwig Hans Magnus Enzensbergers gestrige Verdammung seiner Kritiker in Sachen Anonyma "befremdlich".

Besprochen werden die Uraufführung von Rebekka Kricheldorfs bereist preisgekröntem Stück "Kriegerfleisch" in Münster und Bücher, darunter ein Band mit chinesischen Propagandapostern und Antal Szerbs Roman "Reise im Mondlicht" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 28.01.2004

Joachim Güntner weist darauf hin, dass nicht nur Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann in Rolf Hochhuths neuem Skandalstück "McKinsey kommt" sein Fett wegkriegt, sondern auch die Schweizer: "Nicht allein, dass die Deklassierten von Kalaschnikows und Molotowcocktails träumen - sogar ein Berner Nationalrat lässt für einmal die Hemmung fahren. Überhaupt ist viel Schweiz in Hochhuths Stück. Bitteren Kommentar erfährt die mit Entlassungen verbundene Übernahme der Waggonfabrik in Oerlikon durch die 'Ausländer' von Daimler-Chrysler; den Eidgenossen wird wachsende Arbeitslosigkeit prognostiziert ('niemand kann sich's leisten, die teuren Schweizer zu entlöhnen'); und die gleich fünfmal thematisierte NZZ wird als Blatt präsentiert, das prinzipiell alles gutheißt, 'was Geld spart oder einbringt', namentlich steigende Aktienkurse auf Kosten gefeuerter Arbeitnehmer. Hochhuth liebt ein kräftiges Schwarzweiß, Zwischentöne sind seine Sache nicht." 

Weiteres: Michael Wildt bemerkt zum kürzlich von der FAZ präsentierten Vermerk Heinrich Himmlers, der angeblich zum ersten mal belege, dass Adolf Hitler persönlich am 10. Dezember 1942 die Ermordung der französischen Juden befohlen hat (hier): "Das Dokument ist mitnichten jetzt erstmals aufgetaucht, sondern seit langem der Forschung zugänglich und etliche Male zitiert worden." Karl-Markus Gauß erinnert an den Schriftsteller Karl Emil Franzos, der vor hundert Jahren gestorben ist. Matthias Messmer bespricht einen Bildband des Chinesischen Fotografen Li Zhensheng ("Roter Nachrichtensoldat") mit "schockierenden" Aufnahmen aus der Zeit der Chinesischen Kulturrevolution. Außerdem berichtet Christina Thurner von dem neuen Trend auf dem Kinder- und Jugendbuchmarkt zu naturwissenschaftlichen und philosophischen Büchern und bespricht fünf davon (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 28.01.2004

Susan Vahabzadeh kann Kevin Costners neuen Film "Open Range" viel Positives abgewinnen, auch wenn er einen Wilden Westen zum Abgewöhnen zeigt: "Arschkalt war's, die Cowboys mussten bei jeder Witterung im Freien schlafen, die klassischen Sträßchen mit ihren Läden und Saloons waren auf Dreck gebaut, und wenn es zu regnen anfing, ergossen sich Schlammlawinen durch die Stadt."

Weitere Artikel: Joachim Nettelbeck sieht auch Vorteile in den deutschen Nicht-Elite-Universitäten, zum Beispiel dass sich Spitzenleistungen an jeder Hochschule entwickeln können, in einzelnen Fachbereichen oder Instituten. Kristina Maidt-Zinke stellt fest, dass der Lebensabend immer länger und die Rente immer kürzer wird. Alexander Kissler erklärt die Hintergründe zur Auflösung des Staatsvertrags mit der Jüdischen Gemeinde Hamburg. Arno Orzessek würdigt das Osnabrücker Carolinum, das jetzt auch schon 1200 Jahre alt wird. Gemeldet wird, dass der Publikumspreis des BDA wegen eines Hackerangriffs nicht ausgelobt werden konnte. Jens Malte Fischer vermisst jetzt schon Verdi-Sopranistin Julia Varady, die ihre Konzerttätigkeit beendet. Reinhard J. Brembeck hat erlebt, dass Menschen nach Opern auf DVD süchtig geworden sind.

Besprochen werden eine Ausstellung zu Ferdinand Khnopff in Büssel, die Karlsruher Schau zum Nibelungenlied, eine Aufnahme der Donaueschinger Musiktagen 2002, Andreas Staiers Einspielung von Mozartsonaten und Bücher, darunter der Roman "Strategie" von Adam Thirlwell, (den man sich laut Ijoma Mangold als einen "vorlauten Kerl" vorstellen muss, "der jede Badewanne, in die er steigt, zum Überlaufen bringt") und Claire Beyers Erzählungen "Rosenhain" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).