Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.02.2004. In der SZ merkt Kurt Flasch an: Es gibt auch Gründe, Kant in Ruhe zu lassen, auch wenn es die seitherige Philosophie ohne ihn  nicht gäbe, wie Otfried Höffe in der Welt darlegt. In der FAZ legt Robert Gernhardt zehn Thesen zum komischen Gedicht vor. Die FR findet: Julie Delpy und Ethan Hawke sind das Traumpaar der Berlinale. Die NZZ feiert die Glasgower Art-School-Band Franz Ferdinand. Und die Zeit fragt, ob die Tentakel an den Hosen der Jugendlichen zur Nahrungsaufnahme dienen.

Zeit, 12.02.2004

Das Feuilleton der Zeit ist heute erhaben, erbaulich, ergreifend und erheiternd. Erhaben ist der Aufmacher von Thomas E. Schmidt: "Wir schlittern in eine Epoche, die uns lehren wird, wieder das Knie zu beugen", lautet der wie gemeißelt dastehende erste Satz. Es geht Schmidt um die Wiederkehr des Ernstes in der Kunst. "Die Religion ist wieder ein ernst zu nehmender Zufluchtsort, aber auch die Kunst", lesen wir und freuen uns über diese Warnung an die Sozialdemokraten: Die Kunst "sorgt nicht für soziale Gleichheit und stiftet keine Gemeinschaften im Zeichen irgendeines weltanschaulichen Konsenses."

Erbaulich sind Jens Jessens Meditationen über die Hosen heutiger junger Menschen: "Dem menschlichen Beinkleid sind beispielsweise jüngst merkwürdige Tentakel gewachsen, rechts und links an der äußeren Hosennaht stehen sie ab wie Borsten oder hängen herab, als wollten sie Botenstoffe aus der Luft oder Nahrungspartikel vom Boden aufnehmen."

Ergreifend ist Peter Kümmels Bericht vom internationalen Fadjr-Theaterfestival in Teheran. "Ein kurzes Theaterstück allerdings lässt uns hoffen. Sein Inhalt wird im Festivalkatalog so beschrieben: 'Eine Bombe weigert sich zu explodieren, weil sie sich verliebt."

Erheiternd ist Hanno Rauterbergs Gespräch mit dem großen Architekten Günter Behnisch, der viele schöne Dinge über die Architektur sagt und viele hässliche Dinge über Kollegen, die wir gern zitieren. Zum Beispiel: "Der Axel Schultes, das ist schon ein lustiger Vogel. Aber beim Kanzleramt hat er formal überzogen. Das ist so ein Kinoding geworden, wo man immer darauf wartet, dass der Kanzler mit Elektrogitarre die Treppe runterkommt."

Weitere Artikel: Hanno Rauterberg ist nicht besonders begeistert von der Mega-Event-Ausstellung "Das Moma in Berlin" in der Nationalgalerie ("550.000 müssen kommen, um die Rekordkosten wieder reinzuholen.") Evelyn Finger resümiert die Tanzplattform in Düsseldorf. Till Briegleb porträtiert den jungen Regisseur Sebastian Nübling, der in München "Don Karlos" inszenierte. Der Deutschlandradio-Intendant Ernst Elitz fasst die öffentlich-rechtlichen Kollegen an die Nase und fordert die Definition von Qualitätsstandards, bevor die Gebühren erhöht werden. Katja Nicodemus hat sich auf der Berlinale Filme aus Südafrika angesehen. Konrad Heidkamp stellt neue Platten von Joss Stone, Jamie Cullum und Norah Jones vor.

Aufmacher des Literaturteils ist Ulrich Greiners Besprechung von Michael Frayns Roman "Das Spionagespiel". Und Elisabeth von Thadden spießt in der Kolumne die kaum noch zählbaren Literaturskandälchen der jüngsten Zeit auf.

Hinzuweisen ist im Politikteil noch auf den Essay des neokonservativen Vordenkers Robert Kagan ("Macht und Ohnmacht") über "die transatlantische Tragödie", die seiner Ansicht nach darin besteht, dass die Europäer den Führungsanspruch der USA nicht mehr als legitim anerkennen. "Um den globalen Bedrohungen der Welt begegnen zu können, benötigen die Amerikaner die Legitimität, die Europa ihnen verschaffen könnte. Aber es ist wahrscheinlich, dass die Europäer ihnen hier nicht behilflich sein werden. In ihrem Bestreben, die Supermacht einzuhegen, werden sie die wachsenden Gefahren dieser Welt aus den Augen verlieren. In ihrer Nervosität angesichts von Unipolarität werden sie womöglich die Gefahren der Multipolarität vergessen, in der Europa im globalen Wettbewerb von nichtliberalen und undemokratischen Mächten übertrumpft werden könnte." Im Dossier entlockt die neuerliche Suche der Sozialdemokraten nach Identität Gunter Hofmann nur ein ausgedehntes Schulterzucken: So gehe das schließlich seit dem Godesberger Programm.

SZ, 12.02.2004

"Seit dem Ancien Regime dient das französische Schulwesen als ein Instrument, aus Korsen, Basken, Bretonen, Italienern (Savoien), Elsässern, und später Polen, Spaniern, Portugiesen, Vietnamesen oder osteuropäischen Juden Franzosen zu machen," schreibt Johannes Wilms in einem Artikel, der versucht, uns den französischen Kopftuchstreit zu erklären, der seiner Ansicht nach auch nach dem Beschluss des Verbots durch die Nationalversammlung weitergehen wird. "Die bekanntesten Beispiele für den Erfolg dieser Assimilierung durch Erziehung sind der Korse Napoleon Bonaparte oder der derzeitige Innenminister Nicolas Sarkozy, der Sohn eines Ungarnflüchtlings. Dieses bewundernswert erfolgreiche Verfahren versagt jetzt jedoch bei der kulturellen Integration, der 'Französisierung', von algerischen, marokkanischen oder tunesischen Muslimen. Eben dieses Versagen ist die ganze Ursache des 'Kopftuchstreits'."

"Das Wort 'Jubiläum' kommt von 'jubilieren'", schreibt Kurt Flasch, emeritierter Philosophieprofessor aus Bochum, aus Anlass des 200. Todestages von Immanuel Kant, "aber nichts passt weniger zur besonnen prüfenden Denkart Kants als das Tamtam selbstsicherer Aneignung. Wer ihn nicht liest, weil er wissen will, ob auf der Erde ewiger Frieden sein soll und ob wir von der Existenz Gottes etwas wissen können, sollte ihn auch heute in der Ruhe lassen, in die er vor genau zweihundert Jahren eingegangen ist."

Weitere Artikel: Lothar Müller zeigt sich enttäuscht über einen Abend in der Berliner Akademie der Künste, wo Peter Wapnewski unter anderem zu seiner vom Internationalen Germanistenlexikon aufgedeckten NSDAP-Mitgliedschaft befragt wurde. Robert Menasse untersucht den österreichischen Unwillen, den eigenen Faschismus zu verstehen sowie die Nachwirkungen des Dollfußmordes heute vor siebzig Jahren. Fritz Göttler fragt, ob das Übernahmeangebot des größten US-Kabelfernsehbetreibers Comcast den Mythos Disney in Gefahr bringt und spricht außerdem mit Ron Howard über dessen jüngsten Film "The Missing". Berlinaleberichte und -reflexionen gibt es von Susan Vahabzadeh und Fritz Göttler.

Besprochen werden Amelie Niermeyers Fassung von Melvilles "Moby Dick" am Theater Freiburg ("eine Sprechoper für Landratten"), die Uraufführung von Thomas Ades Oper "The Tempest" an der Londoner Royal Opera Covent Garden, Joseph Kahns Bikerfilm "Hart am Limit", Achim von Borries Film "Was nützt die Liebe in Gedanken" und Bücher, darunter die Autobiografie von Madeleine Albright und eine Biografie Franz Schüssels (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 12.02.2004

"Eine kleine Romanze, noch dazu die Fortsetzung einer kleinen Romanze, die es schon gibt, ist 'everybody's darling movie' und steht plötzlich da wie der 'Citizen Kane' dieser Berlinale", bejubelt Daniel Kothenschulte den amerikanischen Wettbewerbsfilm "Before Sunset". "Regisseur Richard Linklater ist der Mann der Stunde und seine Stars Julie Delpy und Ethan Hawke sind ein veritables Festivaltraumpaar, das vorgestern, allein durch sein Auftauchen im Partystrudel, von der Fortsetzung der Fortsetzung in der Wirklichkeit träumen ließ. Es ist schon kurios: Wer der Romantik zu einem großen Auftritt verhelfen möchte, sollte zuvor für die gebotene Nüchternheit sorgen."

Weiteres: Hilal Sezgin erregt sich über eine Verordnung, wonach hessische Beamte männlichen Geschlechts bis zum Beginn der nächsten Woche ihre Bärte abzunehmen haben: Seit Bartträgern wie Bismarck oder Wilhelm Zwo gelte der Bart als aggressives Symbol männlich-obrigkeitsstaatlichen Denkens, wie Sezgin kopfschüttelnd die Begründung dieser Verordnung zu Protokoll gibt. (Auch wir sind empört!) Nikolaus Merck zeigt sich befremdet über eine Inszenierung von Peter Weiss' Stück "Die Ermittlung" in der Dresdener Kreuzkirche, durch die er das Geschehen von Auschwitz christlich vereinnahmt und die ermordeten Juden wie die Toten von Dresden der Erlösung durch Jesus Christus ganz unterschiedslos anempfohlen sah. Jürgen Roth stöhnt unter der gefühlten Last eines Plastilinwortes namens "Lust", und macht hinter dessen inflationärem Gebrauch bereits ein gewisses Lustgewürge aus.

Besprochen werden der erste Abend der neuen Debattenreihe "Kontrapunkt Akademie" der Berliner Akademie der Künste, innerhalb derer Peter Wapnewski unter anderem über seine NSDAP-Mitgliedschaft Auskunft gab, David McVicars Inszenierung von Georg Friedrich Händels Oratorium 'Semele' im Pariser Theatre des Champs-Elysees, eine Ausstellung der Kunstsammlung des Werbeagenten Christian Boros im Museum für neue Kunst in Karlsruhe ("Wenn Boros über die gekaufte Kunst spricht, klingt das ein bisschen, als sei von gekauftem Sex die Rede, von einer Hure, die sich einer gründlich vornimmt, um herauszufinden, was für ein Mensch sie ist") sowie Heft 625 der von Jean Paul Sarte gegründeten Zeitschrift "Les Temps Modernes" mit dem Titel "Berlin Memoires".

TAZ, 12.02.2004

"Ja, man könnte über Kant einen durchaus amüsanten Kostümfilm drehen, in dem er ähnlich ausgelassen und spleenig auftritt wie Mozart in Milos Formans 'Amadeus'", lesen wir bei Wolfgang Ullrich aus Anlass von Immanuel Kants zweihundertstem Todestag. "Und man könnte ihn damit als typisches Genie darstellen, würde ihm aber nur gerecht, wenn man auch zeigte, wie wenig er selbst sich über seinen Witz und seine Fantasie definierte, ja wie sehr er diesen Fähigkeiten misstraute. Kants philosophischen Impetus, sein Streben nach einer klaren Trennung zwischen Wissenschaft und Spekulation könnte man sogar gerade damit erklären, dass er den Drang zur bloßen Imagination, den er von sich selbst nur zu gut kannte, ja dass er die Lust auf das Ersinnen von Gedankengebäuden aller Art streng begrenzen wollte."

Weitere Artikel: Kolja Mensing beschäftigt sich mit Versuchen einiger Verlage, Literatur mit technischen Hilfsmitteln wie CD und DVD sinnlicher zu machen. Ralf Leonhard berichtet von empörten Debatten in der steiermärkischen Hauptstadt Graz, weil ihr berühmtester Sohn Arnold Schwarzenegger im richtigen Leben via Todesurteil Menschen in den Tod befördert. Besprochen wird Achim von Borries Film "Was nützt die Liebe in Gedanken".

Auf der Berlinale-Seite lässt Kolja Mensing kein gutes Haar an Romuald Karmakars "Die Nacht singt ihre Lieder": "Die langen Einstellungen auf Frank Gierings unabänderlich trauriges Gesicht, die für den Hallraum einer Theaterbühne gemachten endlosen Wiederholungen der Beziehungsstreitfloskeln und die geradezu groteske Ausweglosigkeit der Situation führen dazu, dass 'Die Nacht singt ihre Lieder' schon nach einer halben Stunde wie die Paraodie eines Bergmann-Films wirkt." Außerdem besprechen Harald Fricke den Dokumentarfilm "Neverland" von Robert Stone und Diedrich Diedrichsen Joshua Marstons "Maria voller Gnade" (hier).

Und Harald Peters erkennt schon einen Trend im Wettbewerb, nämlich "dass die Filmschaffenden zum Wohle der künstlerischen Wahrhaftigkeit zusehends dazu übergehen, relativ belanglose Themen auch relativ belanglos zu inszenieren". 

Schließlich TOM.

Welt, 12.02.2004

Otfried Höffe, Autor von "Kants Kritik der reinen Vernunft", liest pünktlich zum 200. Todestag des großen Kant nochmal seine "Kritik der reinen Vernunft" und stellt mal wieder fest: "Wer Kants 'Kritik' studiert, macht sich mit den Wurzeln der seitherigen Philosophie vertraut."
Stichwörter: Höffe, Otfried

NZZ, 12.02.2004

Hanspeter Künzler feiert das Comeback der so genannten Art-School-Musik: "Dank dem Debütalbum des Quartettes Franz Ferdinand, das der Kunstschule von Glasgow entwachsen ist, sind Art Schools praktisch über Nacht wieder salonfähig geworden". Bisher mussten Kunstschüler, wie der Australier Angus Andrews, der jetzt in New York mit der Band The Liars für Furore sorgt, schreckliche Erfahrungen machen, wie Künzler ihn zitiert: "Ich bin nicht nur an Musik interessiert. Ich will Kunst machen. Aber ich habe immer die größten Bedenken, das zuzugeben, besonders in England. Die Bezeichnung Kunststudent hat unglaublich negative Konnotationen: Was, der ist gebildet? Da muss er ja ein Snob sein."

Jürgen Ritte, Literaturwissenschaftler an der Sorbonne Nouvelle in Paris, verteidigt das französische Kopftuchverbot gegen die Kritiker, die meinen, es ziele am Problem der misslungenen Integration islamischer Einwanderer vorbei: "Genauso wenig wie alle Christen oder Juden praktizieren alle Muslime ihre Religion. Aber niemand, der sie praktizieren will, soll daran gehindert werden; er soll es nur nicht in der Schule tun. Zum anderen: Ein solch mechanistisches Modell verkennt die von sozialen Kriterien unabhängige Dynamik und die damit manchmal verbundene Aggressivität von Religionen... Es geht einfach nicht an, dass islamistische Studenten, wie im vergangenen Sommersemester an einer Pariser Universität geschehen, einer Dozentin lautstark das Recht bestreiten, zwecks Textexegese Koranverse zu zitieren, weil sie a) eine Frau sei und b) eine Ungläubige."

Besprochen werden eine opulent inszenierte Ausstellung in der Hypo-Kunsthalle München zu Carl Faberge und Alfred Cartier, das neue Lambchop-Album "Aw Cmon / No You Cmon", Friedrich Rothes Karl-Kraus-Biografie (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 12.02.2004

Robert Gernhardt (ein produktiver Autor!) legt "zehn Thesen zum komischen Gedicht vor", mit dem er schon mal auf einen von ihm herausgegebenen Sammelband hinweist, der demnächst erscheint. These 4: "Das komische Gedicht braucht die Regel. Komik lebt von vorgegebenen Ordnungssystemen, ganz gleich, ob die außer Kraft gesetzt oder lachhaft penibel befolgt werden. Daher kann das komische Gedicht nur profitieren, wenn es von allen Regeln der Kunst tradierter Suggestionstechniken wie Reim und Metrum durchtränkt ist und wenn sein Dichter von allen bereits erprobten Drehs zur Herstellung komischer Wirkung weiß."

Weitere Artikel: Der Altphilologe Joachim Latacz erzählt vom aufregenden Fund einiger Verse des antiken Komödiendichters Menander - der Text fand sich auf einem Palimpsest im Vatikan und bildet "die unterste von drei übereinanderliegenden Schriftschichten". In der Leitglosse malt sich Mark Siemons aus, dass unsere Politiker heute Kants gedächten, was sie aber offensichtlich gar nicht vorhaben. Jordan Mejias stellt das neue New Yorker Time-Warner-Center vor , das in seiner plumpen Doppelturm-Architektur wohl kaum interessant wäre, wenn sein Architekt David Childs nicht auch an der Planung für den neuen Turm am Ground Zero beteiligt wäre.

Auf der Kinoseite memorieren die FAZ-Filmkritiker zu Ehren der New-Hollywood-Retrospektive ihre Lieblingsmomente aus Filmen dieser Zeit. Außerdem bespricht Peter Körte den Wettbewerbsfilm "Gegen die Wand" von Fatih Akins.

Auf der Medienseite porträtiert Michael Hanfeld den Geschäftsführer der prosperierenden Bavaria Film Thilo Kleine. Und Josef Oehrlein schildert den Fall des nicaraguanischen Journalisten Carlos Guadamuz, der von Meuchelmördern erschossen wurde.

Auf der letzten Seite sucht Horst Kruse nach Anspielungen auf Kant im Werk von F. Scott Fitzgerald (ja, die gibt es) Christian Geyer freut sich über einen Richterspruch, nach dem einseitige Eheverträge nicht das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben wurden. Und Jordan Mejias sieht ein neues Zeitalter in der Met anbrechen, deren Intendant Joseph Volpe jetzt abtritt.

Besprochen werden Mike Figgis' Film "Cold Creek Manor", die Ausstellung "Das große Fressen" in der Kunsthalle Bielefeld, die sechste Tanzplattform Deutschland in Düsseldorf, und die Wiederausgrabung der romantischen Oper "Der Rattenfänger von Hameln" von Victor E. Neßler im sächsischen Freiberg.