Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.03.2004. In der FAZ beobachtet Hans Christoph Buch den blutigen Karneval von Haiti. In der Welt erklärt Natan Sznaider, warum jetzt auch Israels Intellektuelle ihre Sympathien mit den Palästinensern verloren haben. Die NZZ betrachtet die öden, eisigen, wüsten Bilder vom Mars. Die FR warnt die CDU-Frauen, vor Angela Merkel zu kuschen.

Welt, 06.03.2004

Spannend (und traurig) ein großer Artikel von Natan Sznaider über die Wende des "neuen Historikers" Benny Morris, der die Vertreibung der Palästinenser bei der israelischen Staatsgründung, die er einst ans Licht brachte, heute rechtfertigt. Sznaider versucht zu erklären: "Die Intellektuellen Israels - unter ihnen Benny Morris - sahen sich mit Beginn der Friedensverhandlungen mit einer palästinensischen Gewalt konfrontiert, die zwar durch die israelische Besatzung ausgelöst war, sich aber längst von ihrem ursprünglichen Motiv losgelöst und verselbstständigt hat. Damit verwandelte sich der Terror von einer politischen Waffe in ein antipolitisches Instrument, das jegliche Kommunikation auslöscht. Verständnis beginnt da, wo die Gewalt aufhört, doch die anhaltende Gewalt hat langsam jedes Verständnis untergraben. Friedenswillige und kompromissbereite Israelis zogen sich aus der Öffentlichkeit zurück und begannen allen Ernstes zu überlegen, ob nicht die Rechte Recht hat - und sie selbst jahrelang einem Irrtum aufgesessen sind. Das ist der Hintergrund für das Interview, das Morris nun gab." Das Ha'aretz-Interview, in dem Morris die Revision seines Standpunkts bekannt gab, ist hier nachgedruckt.

Außerdem bespricht der Historiker Anthony Beevor sehr ausführlich das Buch eines Kollegen, Richard J. Evans' "Das Dritte Reich - Der Aufstieg", das die anderen Feuilletons noch nicht zur Kenntnis genommen haben.

FAZ, 06.03.2004

Hans Christoph Buch (mehr hier) liefert einige Anmerkungen zu Haiti: " In seiner letzten Amtshandlung, während der Belagerungsring um Port-au-Prince sich immer enger schloß, empfing Jean-Bertrand Aristide eine Abordnung von Karnevalsprinzen. Der Präsidentenpalast war taghell angestrahlt, und das Volk tanzte auf dem Champ de Mars, bevor die Schimären ausschwärmten, um ihr Zerstörungswerk zu beginnen. Blutiger Karneval ist keine bloße Metapher in Haiti, wo der Voodoo-Totengott Baron Samedi an der Spitze des Faschingszuges tanzt, begleitet von Totengräbern, die mit Schaufeln und Eimern ohrenbetäubenden Lärm veranstalten, bis ein Platzregen Konfetti und Blut von den Straßen spült."

Weiteres: Reiner Burger ruft Dresdens Kulturbürgermeister Lutz Vogel auf die Barrikaden. Das neue Haushaltssicherungskonzept der Stadt sieht nämlich nicht nur Kürzungen in Höhe von acht Millionen Euro vor, sondern auch die "endgültige, planmäßige und nachhaltige Kulturverunsicherung - die Abschaffung des Kulturamts". Auch die Goethe-Institute müssen sparen. Im Interview mit Regina Mönch fürchtet Generalsekretär Andreas Schlüter die Schließung von bis zu zwanzig Instituten.

Jordan Mejias hat sich in New York von Gesine Schwan eine "standesgemäße, aber immer ausgesprochen charmante" Vorlesung über die Macht angehört. In der Leitglosse erklärt uns "miga" das Konzept "Mugge" - Musik gegen Geld. Andreas Rossmann hat Harald Schmidt beim Lesen des "Fängers im Roggen" gelauscht. Irene Bazinger hat sich die Abschiedsaufführungen des Schauspiel Leipzig angesehen. Ingeborg Harms blättert in deutschen Zeitschriften. Jürgen Kesting geht vor der Schönheit Kiri Te Kanawa und ihrer Stimme auf die Knie, die Sopranistin wird sechzig. Edo Reents gratuliert den Gitarristen David Gilmour und Walter Hinck dem Schriftsteller Jürgen Theobaldy (mehr hier) zum Sechzigsten.

In den Resten von Bilder und Zeiten erinnert Christian Geyer an den Reformtheologen Karl Rahner, der vor hundert Jahren geboren wurde. Dietmar Dath feiert einen Triumph der "Bildliteratur": Dave Sims "vollendeten" Sechstausend-Seiten-Comic "Cerebus".

Auf der Plattenseite genießt Wolfgang Sander Nora Jones' neues Album "Feels like Home": "Es ist eben nicht nur die somnambul erfasste Mixtur aus Folkmusic, Jazz, Popsongs, Bluegrass und Blues, sondern dieses geniale Hakenschlagen um die Eckpfeiler des Kitsches, das ihr den breiten Erfolg garantiert." Edo Reents kündigt eine Platte von Jerry Hall an. Gewürdigt werden auch Berlioz' Choräle sowie Brahms' "schöne Magelone" mit Roman Trekel und Bruno Ganz.Besprochen Bücher: John Le Carres "bitter-grotesker" Thriller "Absolute Freunde", Monica Alis für den Booker-Pries nominierter Roman "Brick Lane" und Oscar Wildes Werke in fünf Bänden sowie Inge und Walter Jens' Frau Thomas Mann" und Anonymas "Eine Frau in Berlin" als Hörbücher (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Joachim Sartorius Barbara Köhlers Gedicht "Ingeborg Bachmann stirbt in Rom" vor.

Und im Politikteil schließlich nimmt Joschka Fischer Abschied von Kerneuropa und begrüßt das neue "strategische Europa", das sich zunächst an eine Rekonstruktion des Westens machen sollte.

NZZ, 06.03.2004

Der Kutlurwissenschaftler Hartmut Böhme betrachtet ein wenig widerwillig die Bilder vom Mars, die uns Spirit und Mars Express allenthalben senden: "So hart, öde, eisig, wüst die Erde sein mag, im Vergleich mit den Mars- Bildern erscheint sie wie ein Garten überbordenden Lebens. Das Todesstarrste der Erde - verwitterte Felslandschaften im Atlas, zerklüftete Eisgebirge des Himalaja, arktische Wüsten, felsübersäte tote Ebenen, schrundige Täler und tiefe Steinschluchten, Krater von Grossmeteoriten- Einschlägen. Dies ist, vom Standpunkt des Lebendigen aus, schon das Beste, was auf dem Mars zu sehen ist. Sollten einige Forscher doch Recht haben, wenn sie in Mars ursprünglich gar den Gott des Todes und der Unterwelt zu erkennen glauben? Was wollen wir dort?"

In Literatur und Kunst feiert Roman Bucheli Wilhelm Genazinos (mehr hier) Poetik des genauen Blicks". Helmut Hoping und Jan-Heiner Tück würdigen den Reformtheologe Karl Rahner, Victor Conzemius nimmt die Modernismus-Krise in den Blick, die die katholische Theologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts beutelte.

Besprochen werden eine Ausstellung von Ferdinand Hodlers Landschaften im Kunsthaus Zürich sowie Eric Tills "Luther"-Film.

Und jede Menge Bücher, darunter die - erstmals auf Deutsch erschienene - Urfassung von Tolstois "Krieg und Frieden", Swetlana Geiers Neuübersetzung von Dostojewskis "Brüder Karamasow", Gertrud Leuteneggers Roman "Pomona", Matias Faldbakkens Roman "The Cocka Hola Company", Anne Webers Prosatext "Besuch bei Zerberus", Eleonore Freys Erzählung "Das Haus der Ruhe" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 06.03.2004

Von einer Großtagung mit nicht weniger als 35 Vorträgen zum Thema Bild in Kunst und Film berichtet Jörg Metelmann: "Im Mainzer Medienhaus kamen erstmals in Deutschland die konkurrierenden Disziplinen Kunst- und Filmwissenschaft zu einem Austausch zusammen. Beide arbeiten mit dem 'Bild', können sich aber, das haben die Diskussionen gezeigt, bisher schwer verständigen. Die erste deutet statische, die zweite bewegte Bilder, und zwischen ihnen steht mehr als nur eine andere Institutsadresse." Michael Braun kommentiert die Ablösung des zweimaligen Direktors der Filmfestspiele von Venedig Moritz de Hadeln durch Marco Müller. In Stefan Reineckes Lektüre des jüngsten Hefts der Zeitschrift Ästhetik & Kommunikation (die Website ist reichlich unaktuell) kommen jüngere Intellektuelle, die sich an der älteren Linken abarbeiten, nicht gut weg - und der konservative Philosoph Odo Marquard umso besser. Ein großes Porträt des soeben mit dem Hölderlin-Preis ausgezeichneten Lyrikers Johannes Kühn hat Oliver Ruf verfasst. Abgedruckt ist auch sein Gedicht "Die Tatze II":

"(...) Die Seele, denk ich, hält sich still,
lässt sich nicht zerreißen
von der Tatze
und entflieht."

Die tazzwei geht nach wie vor von der Kultur-Redaktion getrennte Wege. Während diese die Berliner Moma-Ausstellung längst abgefeiert hat, war jetzt Susanne Lang noch einmal da, um den Besuchern zu lauschen: "Jemand wie Herr Gunz, Unternehmer aus München und Besucher des MoMA in Berlin, lächelt nur und sagt: 'Kunst ist doch etwas für viele Menschen, nicht nur für das Bildungsbürgertum. Kunst gehört zum Leben und heute muss man eben vermarkten, um neugierig zu machen.'Dann stupst er seine Begleiterin und zeigt auf die Skulptur vor ihm, die 'Schwebende Figur' von Gaston Lachaise. Er breitet die Arme aus, genau wie die Figur, und sagt: 'Schau, als ob sie die ganze Welt umarmt.'"

Im tazmag erinnert Robert Misik an die Vergangenheit des mutmaßlichen demokratischen Präsidentschaftskandidaten John Forbes "JFK" Kerry: "Kerry erklomm also nicht als Kriegsheld die Bühne, sondern als Antikriegsheld. Stand plötzlich mit einem Proletensohn aus Liverpool Schulter an Schulter bei Friedensdemonstrationen. John Kerry und John Lennon. Jeder auf seine Weise ein Popstar. Kerry war kompatibel mit den Energien dieser Ära - persönlich waren seine Haltungen aber nicht von dem Sex-drugs-and-rock-and-roll-Ethos der Sechzigerjahre geprägt." In einem Spezial-Teil geht es um die Internationale Möbelmesse. Michael Kasiske stellt die Talentschau "inspired by cologne" vor. Von Betten und allem, was dazugehört, berichtet Thomas Paul.

Besprochen werden unter anderem die Buchfassung von Texten der Internet-Kommune "Höfliche Paparazzi", der frisch wiederentdeckte Roman "Elisabeth" des jungen Eric Rohmer und ein "nicht unproblematisches" Buch des ehemaligen israelischen Botschafters Avi Primor. (Mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr.)

Und nicht vergessen: Tom

FR, 06.03.2004

Ursula März kartet nach und plädiert lautstark für die Frau, die nicht sein möchte, was sie ist, eine Zählkandidatin nämlich: "Jetzt müssen wir die Sache, wie gesagt, mal auf den Punkt bringen: Die Wahl der Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan zur Bundespräsidentin wäre ein Quantensprung der Emanzipation in Deutschland. Die Frauen in den Unionsparteien und in der FDP müssen wissen, welchen Schaden sie der Geschichte der Emanzipation zufügen, wenn sie vor Angela Merkel kuschen."

Außerdem: In einem großen Interview wird der rumänische Schriftsteller Norman Manea vorgestellt, der die Literatur als Gegengift zum Kollektiv versteht: "Holocaust und Kommunismus sind Massenerfahrungen, kollektive Erlebnisse, wenn auch sehr unterschiedliche. Und diese habe ich dann in eine individuelle Lebensform umgewandelt, dank der Bücher. Das Leben mit Büchern hält einen fern von den kollektiven Formen des Lebens." Für Aufsehen sorgt in Frankreich, wie Martina Meister berichtet, die Verhaftung und drohende Auslieferung des in Italien zu lebenslanger Haft verurteilten Ex-Terroristen Cesare Battisti. Johanna di Blasi schlägt einen Bogen von Big Brother zu den Völkerschauen von einst und wieder zurück. Impressionen vom neuen SAP-Firmensitz in Berlin liefert Rahel Willhardt. Beim zwölften Dessauer Kurt Weill Festival wurde dessen "amerikanischste Oper" Street Scene aufgeführt. Spirituell geht es diesmal in Renee Zuckers nach wie vor indischer Zimt-Kolumne zu.

SZ, 06.03.2004

Tim Renner, bis Januar noch Universal-Deutschland-Chef, hat jetzt die Muße, sich entspanntere Gedanken zur Krise des Pop zu machen. Hier seine Ratschläge für Musikmanager: "Aus Tonträgerfirmen müssen wahre Musikrechteunternehmen werden. Überleben kann nur, wer Rechte schafft, sie gesamtheitlich verwertet oder zumindest an der gesamten Verwertungskette beteiligt ist. Das heißt Expertise aufzubauen, die bislang nicht vorhanden ist. Das bedeutet auch: Nähe zum Künstler. Und Investitionen in einen fallenden Markt. Keine Sache für Manager mit schwachen Nerven."

Außerdem: Gerhard Matzig meditiert über die globale Austauschbarkeit von Orten - von Las Vegas bis Jette Joop: "Wir befinden uns in der definitiven Ära austauschbarer Ortlosigkeit, in einer Epoche transitorischer Zwischenräume, in einer Halbwertzeit-Welt der Paradiesersatzkonstrukte, der Vergnügungsparks, Freizeitoasen, Erlebniswelten, Spaceparks, Indooranlagen und Architekturmobilitäten." Winfried Schulze hält in einer Antwort auf einen SZ-Artikel vor einer Woche (den kann man noch verlinken) steigende Akademikerzahlen sehr wohl für nötig. Aus Italien berichtet Henning Klüver von Diskussionen um Haftverschonung für den Kriegsverbrecher Erich Priebke. Im Medienteil prophezeit Hans-Jürgen Jakobs die Kanzlerdämmerung und hält es für gut möglich, dass Gerhard Schröder die Brocken bald hinwirft und nach New York zieht.

Doppelt kommentiert wird die Ablösung Moritz de Hadelns in Venedig. Fritz Göttler stellt im Politikteil den Nachfolger Marco Müller vor, Susan Vahabzadeh macht sich im Feuilleton sorgen, dass die Querelen das Festival bald "zugrunde gerichtet" haben werden. Sehr freundlich fällt die Kritik zu Sylke Enders Film "Kroko" (mehr) aus. Besprochen werden eine weltfremde "Berenice de Moliere" von Igor Bauersima, die Pariser Rimbaud-Oper "L'Espace dernier" und die Tübinger Uraufführung von Margareth Obexers "Die Liebenden". Reinhard J. Brembeck bedauert, dass in den USA kaum zeitgenössische Musik gespielt wird. Rezensionen gibt es unter anderem zu einer Wiederauflage von Jens Rehns vor 50 Jahren erstmals erschienenem Werk "Nichts in Sicht" und Stewart O'Nans Roman "Ganz alltägliche Leute". (Mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr.)

In der SZ am Wochenende berichtet der Schriftsteller Matthias Politycki von seinem Weihnachtsgeschenk, einer eigenen Homepage, die allerdings eher morbide Gedanken auslöst: "Was aber ist sie damit anderes, die Homepage, als der digitale Grabstein, den wir uns zu Lebzeiten errichten? Eine Zeitlang werde ich noch, als Netzbewohner mit einer festen Heimat selbst im Virtuellen, diese Homepage hausputzenderweise begleiten, mit mancherlei Möbelgerücke und wohl auch gelegentlicher Gesamtrenovierung, aber warte-nur-balde..."

Hans Holzhaider erklärt, dass psychologische Gutachten vor Gericht für eines gewiss nicht sorgen werden: ein gerechtes Strafrecht. Ausführlich porträtiert werden der unspektakuläre Bayern-Star Roy Makaay und Al Sharpton, der schwarze US-Präsidentschafts-Kandidat, der nicht einmal mehr die Schwarzen mobilisieren kann. Alexander Gorkow interviewt die Pianistin Helene Grimaud. In einer großen Anzeige werden im übrigen alle 50 geplanten Titel der SZ-Roman-Edition aufgelistet.