Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.03.2004. In der Welt analysiert Wolf Lepenies das Verhältnis zwischen Intellektuellen und Macht in Frankreich. Die SZ verteidigt die NS-Erinnerung im Familienroman. In der FAZ krisitiert Günter Amendt die Bundeswehr, die die Drogenproduktion in Afghanistan duldet. Die taz feiert die Fernsehserie "24" als Tolstoi-Ersatz für das 21. Jahrhundert. In der FR erklärt Herfried Münkler, warum ein EU-Beitritt der Türkei in unserem Interesse liegt.

FR, 08.03.2004

Die FR blickt anlässlich des Internationalen Frauentags nach Osten und fragt: Hat sich in Irak und Afghanistan das Leben für Töchter, Mütter und Schwestern verbessert? Finden Frauen, die sich zu uns flüchten, weil sie wegen ihres Geschlechts verfolgt werden, bei uns Schutz?

Auf der Debattenseite antwortet Herfried Münkler (mehr hier) auf einen Artikel Heinrich-August Winklers (mehr hier) in der letzten Woche und erklärt, "weshalb der EU-Beitritt der Türkei in unserem Interesse liegt": "Natürlich kann man sagen, wir Europäer sollten uns aus den gewaltigen Problemen der arabisch-islamischen Welt heraushalten und diese sich selbst oder wem auch immer überlassen. Aber diesen Gefallen wird uns die arabische Welt nicht tun. Bislang hat sich jede ihrer Krisen sofort auf Europa ausgewirkt; das wird in Zukunft noch stärker der Fall sein. Die EU-Zugehörigkeit der Türkei erhöht die Möglichkeiten einer proaktiven Politik der Europäer in der arabischen Welt. Das ist nicht ohne Risiko. Aber die Risiken einer Abweisung der Türkei durch die EU wären erheblich höher."

In Bochum inszeniert Jürgen Kruse Federico Garcia Lorcas "Bluthochzeit", und Stefan Keim fühlt sich auf angenehme Weise zurückversetzt in die Zeit, als der Regisseur noch Herr über das Stück war. "Bühnenhistorisch könnte man Jürgen Kruse als Weiterentwickler der Theorien Bertolt Brechts betrachten, einen Erneuerer des epischen Theaters aus dem Geist der Rockmusik. Denn die Schauspieler rutschen nur für Minuten - wenn überhaupt - ganz in ihre Rollen hinein. Immer wieder plappern sie über den Text hinaus, misstrauen den großen Gefühlen, wagen es nicht, sich fallen zu lassen. Wenn sie es dann doch tun, ist es wunderschön. Das sind oft die Momente, in denen ihnen der Tod schon über die Schulter schaut. Kruse wirkt heute wie ein Fossil aus einer Zeit, als Selbstverliebtheit noch etwas gegolten hat. Jetzt werden vor allem Regisseure bejubelt, die sich als subtile Diener eines Textes begreifen. Kruse interessiert das nicht, er denkt nicht in den Maßstäben des Theatersystems und bleibt sich treu, ohne sich zu ändern."

Hilal Szegin schreibt eine fast wahre Geschichte über einen vermeintlichen Jungen in Mekka, die heilige Wallfahrt der Muslime und am Rande: das Kopftuchverbot. A. von Schnackenburg fragt sich in Times mager, ob McDonalds in Sachen Esskultur nicht ein Rückschritt ins Mittelalter ist. Gemeldet wird, dass der Mäzen Friedrich Christian Flick seine Kunstsammlung nicht in Zusammenhang mit der Nazi-Vergangenheit seiner Familie gebracht sehen möchte, und dass Peter Eisenman den Eklat im Kuratorium des Holocaust-Mahnmals bedauert: Er hatte einen Witz erzählt, wonach er "bei einem Zahnarztbesuch in New York gefragt worden (war), ob seine Goldfüllungen von der Firma Degussa aus den Zähnen ermordeter Juden stammten".

Auf der Medienseite führt uns Thomas Roser in die Hintergründe des polnischen Rywingate-Skandals ein, der kurz vor der Aufklärung steht: Sozialdemokratische Politiker sollen Geld für die Änderung des Mediengesetzes verlangt haben.

Welt, 08.03.2004

Wolf Lepenies beschäftigt sich mit dem Bruch zwischen Frankreichs Intellektuellen und ihrer Regierung: "Während in England Autoren und Wissenschaftler ohne Zögern in die Politik gingen, während in Deutschland Dichter und Denker der Politik fern blieben, hielten sich die französischen 'Philosophen' für geborene Besserwisser der Politik. Von der Rechten wurde ihnen entgegen gehalten, ein Intellektueller müsse nicht unbedingt intelligent sein. Diese Polemik ist bis heute wirksam geblieben. Das im Ton traditionell linker Entrüstung formulierte Manifest 'Wider den Krieg gegen die Intelligenz' wird von Anhängern der Regierung Raffarin als ein Dokument der Überheblichkeit angeprangert. Von Schmarotzern ist die Rede, die sich auf Kosten der wahren Arbeiter bereichern wollten. Ein Antitext zum Manifest der 70 000, eher gut gemeint als zündend formuliert, trug den Titel 'Es lebe die Intelligenz eines jeden!'" (Gut, dass Lepenies zur Welt gegangen ist, bei der SZ könnte man ihn online jetzt nur mit Glück lesen.)

Auf der Meinungsseite wird außerdem eine Rede Tony Blairs abgedruckt, in der dieser den noch einmal Irakkrieg verteidigt und fragt, was die UN-Menschenrechtserklärung eigentlich taugt, wenn die UNO nichts dafür tut, sie auch durchzusetzen.


NZZ, 08.03.2004

"Und unser Präsident sorgt sich um den Mars und das heilige Band der Ehe", zitiert Andrea Köhler die New York Times und fragt sich inwieweit die derzeitige Diskussion um die Ehe zwischen Gleichgeschlechtlichen nur schwerwiegendere außen- und innenpolitische vertuschen soll: "Mel Gibsons 'Passion', Janet Jacksons 'Nipple-Gate' und die Homosexuellen-Ehe: Angestachelt durch den Wahlkampf, ist in den USA ein Streit um 'traditionelle Werte' entbrannt, der in der für dieses Land so typischen Melange aus moralischer Heuchelei, ökonomischem Pragmatismus und religiösem Eiferertum ausgetragen wird... Doch Bushs jüngster Einfall wird von vielen Kommentatoren als ein zynisches Ablenkungsmanöver bewertet. Die Irak-Misere, das höchste Haushaltsdefizit aller Zeiten, der Abbau von Bürgerrechten und Sozialleistungen sowie ein unsicherer Jobmarkt."

Der Historiker Werner Michael Schwarz porträtiert das am äußersten Ende Europas gelegene Wladiwostok, das aufgrund seiner Lage von jeher Ort "geografischer Phantasmen" war: "'Ich baue hier ein zweites San Francisco', soll Chruschtschow 1954, gerade von einem Amerika-Besuch zurück, in Wladiwostok verkündet haben. Die vom Hafen über die Hügel kreischende Straßenbahn, gleichsam der Wladiwostoker 'cable-car', ist ein Erbstück dieser Amerika-Phantasien und der tatsächlich nicht geringen Parallelen zwischen der Eroberung des Westens und der des Ostens."

Weiteres: Paul Jandl stellt das neue Grazer Literaturhaus vor (angelehnt an ein " düsteres barockisierendes Palais des 19. Jahrhunderts"). Besprochen werden ein Klavierabend mit dem russischen Pianisten Jewgenij Kissin in Zürich, Laurent Chetouanes Inszenierung von Schillers "Don Karlos" in Hamburg ("Was kurz wie ein Geniestreich wirkt, erweist sich bald als Masche.")

TAZ, 08.03.2004

Zum Internationalen Frauentag schenkt uns die taz zehn Dossiers auf den Tagesthemenseiten. Es geht unter anderem um unsere Schwestern im Osten, die Karriere einer ungarischen "Business Woman", die Chancengleichheit in den Beitrittsstaaten der EU, die neue Emanzipationsbewegung in Polen. Außerdem gibt es ein Interview mit Lettlands Präsidentin Vaira Vike-Freiberga. Auf der Meinungsseite widmet sich Mark Terkessidis "gefährlichen Frauen": Kopftuchträgerinnen und Sibel Kekilli.

Feuilleton: Kolja Mensing hat den stillen Bürgerkrieg gesehen, den der Kampf gegen den Terrorismus in den USA hervorruft: in der auch in der zweiten Staffel hochgelobten Echtzeit-Krimiserie 24, die Mensing als Tolstoi-Ersatz für das 21. Jahrhundert annonciert. Dort jagt Jack Bauer nicht nur der Atombombe hinterher, seine Kollegen in der Einsatzzentrale "pflegen über die Schreibtische hinweg ihre persönlichen Differenzen, in reichen Vorortsiedlungen zerbrechen Familien, und im Weißen Haus in Washington werden auf höchster Ebene Intrigen und Verschwörungen angezettelt. Freunde werden zu Feinden, Ehefrauen zu Verrätern und ehrbare Politiker zu Tyrannen. Es geht um die ganz großen Gefühle, wie in einem Roman aus dem 19. Jahrhundert. Allerdings werden sie mit Mitteln in Szene gesetzt, von denen Schriftsteller nur träumen können."

Jan Hendrik Wulf hat auf einer Potsdamer Tagung gelernt, dass auf den weltweiten Terrorismus der hausgemachte Despotismus folgen könnte. Auf der Meinungsseite sieht Mark Terkessidis die Kampagne gegen Sibel Kekilli als Symptom der zähen Integration von jungen Türkinnen. In der zweiten taz berichtet Mia Raben aus den Niederlanden, wo - wieder mal einen Schritt voraus - homosexuelle Muslime um Anerkennung auch bei ihren Imamen werben. Hier die dürftigen Zahlen über "MoHos" in Deutschland. Martin Weber ist sich nach der Echo-Verleihung hingegen todsicher, dass die Plattenindustrie untergehen wird.

Eine einsame Besprechung widmet sich Laurent Chetouanes Inszenierung des "Don Karlos" am Schauspielhaus Hamburg ("Nach der Zuschauerkrise schöpft die Kunst wieder Luft", glaubt zumindest Till Briegleb.)

Und Tom.

SZ, 08.03.2004

Im Aufmacher verteidigt Ulrich Raulff die neueste Form der NS-Erinnerung, den subjektiven Familienroman, gegen die Kritik der etablierten Historiker, die solch unscharfe Formen fürchten. "Muss ihnen eigentlich die Reflexion auf ihre subjektive Präsenz im Bild der Geschichte ewig suspekt bleiben? Vermutlich werden die Historiker erst in dem Augenblick erwachen, wenn ihnen ihr Lesepublikum in lichten Scharen davonläuft." Allerdings warnt Raulff die Familiengeschichtsschreibung auch vor dem eigenen Dilemma. "Wie die Historie will sie forschen und wissen, aber wie das Gedächtnis will sie versöhnen und retten. Praktisch in jeder Zeile muss sie sich entscheiden, ob sie wissen oder retten will, aber das muss nicht immer so sein. Am wenigsten ist hier vom Gefühl zu erwarten ... Eine Versöhnung von Erkenntnis und Rettung gibt es, wenn überhaupt, nur in der Kunst. In diesem Fall ist es die Erzählkunst." Als Ergänzung dazu wird heute Tanja Dückers diesbezüglicher Versuch "Himmelskörper" besprochen.

Weitere Artikel: Marcus Jauer freut sich nach der deprimierenden Verleihung der Echo-Musikpreise in Berlin, kein Plattenboss zu sein. "Imue" beäugt die Eklat-Maschine des Kuratoriums für das Holocaust Mahnmal, in die nun Peter Eisenman geraten ist. Rebecca Casati schildert die Verleihung der FiFi-Awards (verantwortlich ist die Fragrance Foundation) in Frankfurt, wo die Kosmetikbranche sich und ihr Überleben feiert. Jörg Häntzschel gratuliert dem britischen Bildhauer Anthony Caro zum Achtzigsten (einige seiner Arbeiten gibt es in Mary Ann Sullivans riesigem digitalen Skulpturarchiv zu sehen). Karl Bruckmaier trauert um den nuyoricanischen (irgendwo in Mexiko) Dichter Pedro Pietri (mehr von der vorzüglich organisierten Academy of American Poets), der mit 59 Jahren gestorben ist. "skoh" verkündet ein Kunstprojekt Harald Schmidts für das Museum Ludwig. Henning Klüver gratuliert dem Goethe-Institut von Genua, das mit Beuys und Baselitz die diesjährige Kulturhauptstadt verschönern wird.

Auf der Medienseite geht Kai-Hinrich Renner auf die Kritik am Deutschen Presserat ein, dem mangelnde Öffentlichkeitsarbeit vorgeworfen wird (eine Website hat er immerhin). Und Gerd Kröncke klärt auf, warum über die Bahnerpresser in Frankreich alle Zeitungen bis auf eine geschwiegen haben. Lesenswert auch Marcus Jauers Bericht auf der dritten Seite über den kuriosen Filmproduzenten und Zoodirektor Haig Balian.

Besprochen werden die großen Rubens-Ausstellungen in Lille und Antwerpen ("Wer den ganzen Rubens sehen will, wird um beide Städte nicht herumkommen."), Laurent Chetouanes "ganz auf die Sprache gestellte" Version von Schillers "Don Karlos" am Schauspielhaus Hamburg, Lars Büchels Film "Erbsen auf halb 6", die musikalisch "befriedigende", ansonsten aber etwas "zähe" Uraufführung von Wilfried Hillers Oper "Wolkenstein" in Nürnberg, das dritte Münchner musica-viva-Konzert mit Werken von Smutny, Lang und Mundry, und Bücher, darunter Gilad Atzmons "schriller" wie "nachdenklicher" Debütroman "Anleitung für Zweifelnde", Marion Keßlers Biografie über den Historiker Arthur Rosenberg und die deutsche Ausgabe des Etrusker-Handbuchs des italienischen Historikers Giovannangelo Camporeale (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Der Internationale Frauentag ist der SZ keine Zeile wert.

FAZ, 08.03.2004

Man fragt sich zwar, was ein solcher Artikel genau auf den Kulturseiten zu suchen hat, aber was soll's, wenn er interessant ist. Der Drogenexperte Günter Amendt weist auf ein paar Ungereimtheiten im Bundeswehreinsatz im Norden Afghanistans hin: Man sieht über die dortige Drogenproduktion hinweg, obwohl sie die Zentralregierung in Kabul schwächt. Und überhaupt: "An der Heimatfront mit der ganzen Wucht des Gesetzes gegen Dealer und Konsumenten vorzugehen, bei der Verbindungsaufnahme an der Drogenfront sich aber damit zu begnügen, mit Drogenfürsten Tee zu trinken und honigsüßes Gebäck zu knabbern, ist ein Verstoß gegen das allgemeine Rechtsempfinden."

Weitere Artikel: Jordan Mejias kommentiert das Urteil gegen die Unternehmerin Martha Stewart, die wegen Insiderhandels mit einer Gefängnisstrafe rechnen muss, als zu hart, wenn man es mit den viel größeren Finanzskandalen in Unternehmen wie Enron vergleicht. Joseph Hanimann eröffnet eine neue Reihe mit "lexikalischen Grenzgängen" und denkt über denn Elitebegriff in Frankreich und Deutschland nach. Thomas Wagner gratuliert dem Bildhauer Anthony Caro zum Achtzigsten. Gina Thomas meldet, dass eine Brücke des Ingenieurs Brunel in London als solche wiederentdeckt wurde. Und Kerstin Holm meldet, dass das Hauptquartier von Eduard Limonows Nationalbolschewisten in Moskau von Sicherheitskräften aufgelöst wurde. Christian Schwägerl berichtet über eine Anhörung der Grünen zum Thema Nanotechnologie.

Auf der Medienseite beklagt Michael Hanfeld die "Medienfixierung der Macht", die überdies immer mehr zwischen "guten" und "bösen" Journalisten unterscheide. (Hierzu auch ein Interview mit dem Stern-Redakteur Hans-Ulrich Jörges, der nicht mit dem Kanzler in die Türkei reisen durfte, aus der Sonntags-FAZ) Auf der letzten Seite fürchtet Andreas Rossmann, dass der ehemalige riesenhafte Regierungsbunker im Ahrtal, ein Monument des Kalten Krieges, spurlos "zurückgebaut" wird. Und Dirk Schümer porträtiert den neuen Chef der Filmfestspiele Venedig, Marco Müller.

Besprochen werden eine "Jungfrau von Orleans" in Hannover und ein "Don Karlos" in Hamburg, die große Jugendstil-Ausstellung in der Münchner Villa Stuck, ein Auftritt der Band Lambchop in Dresden, Händels "Alcina" an der Komischen Oper Berlin, Wilfried Hillers Oper "Wolkenstein" in Nürnberg und einige Sachbücher, darunter Philipp Bloms "Sammelwunder, Sammelwahn" über die Sammlerleidenschaft.

Und zum Internationalen Frauentag beglückt uns die FAZ mit einem Porträt der ersten Stewardess der Lufthansa.