Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.06.2004. Die FAZ feiert eine herrlich wütend zischende Martha Argerich. In der FR stellt Bogdan Musial klar: Die Polen hatten keinerlei Einfluss auf die Vertreibung der Deutschen. In der SZ schimpft Hans Leyendecker auf seine Kollegen vom Presseclub. Die NZZ freut sich auf die arabische Literatur in Frankfurt. Und in der Welt erklärt Simon Rattle seine Liebe zu seinen Phillis.

FAZ, 29.06.2004

Andreas Obst war bei Martha Argerichs Festival "Progetto" im Tessin und erzählt eine wunderbare Geschichte über die Aufführung von Sergej Prokofjews erstem Klavierkonzert: "Rabinovitch-Barakovsky, ein früherer Lebensgefährte Martha Argerichs, ließ das Orchester losdonnern, ohne die Solistin - für Fans, aber auch Klavierkenner seit mehr als drei Jahrzehnten die beste Pianistin der Welt - eines Blickes zu würdigen. Doch mit ihrem ersten Einsatz machte Martha Argerich sofort deutlich, wer die Herrschaft über die Musik beansprucht. Über die gesamte Dauer des Konzerts entspann sich ein Führungsstreit in drei ineinander verhakten Sätzen und fünfzehn Minuten - zudem ein Schauhörspiel von unmittelbarer Dramatik, die sich den Zuschauern geradezu physisch mitteilte. Noch im Schlußakkord sprang der Dirigent vom Pult und die Pianistin vom Schemel, und wütend zischten sie einander an - wie zwei Raubtiere, die sich um die Beute streiten. Zwar war kein Wort zu verstehen, doch jeder im Publikum konnte erkennen, daß die beiden da oben keine Komplimente austauschten. Sie verneigten sich streitend zum Saal hin, und sie stritten weiter, während sie sich den Weg durchs Orchester zum Ausgang bahnten. Sie stritten immer noch, als sie, vom Applaus zurückgeholt, wieder aufs Podium traten." Die Geschichte geht weiter, aber das müssen Sie selbst lesen!

Heinrich Wefing hat sich mit Amerikanern in Berlin über das Amerikabild der Deutschen unterhalten, unter anderem mit Richard Bernstein, Korrespondent der New York Times, den vor allem das "Paradoxon der deutschen Außenpolitik" irritiert, "stets das sittlich Richtige zu wollen, sich zuverlässig auf die Seite von Moral und Gerechtigkeit zu schlagen, ohne selbst aktiv zu werden. Wie Schröder nach einer UN-Resolution für den Irak zu rufen, doch sogleich die Entsendung deutscher Soldaten auszuschließen, das sei das 'Privileg der Machtlosen'. Diese Politik garantiere, dass alles, was Deutschland wolle oder sage, irrelevant bleibe."

Weitere Artikel: Niedersachsens Regierungs-Chef Christian Wulff - "Ich war ja, wie der Spargel, lange unter der Erde" - fordert im Interview eine "parteiübergreifende Initiative" zur Zurücknahme der Rechtschreibreform. Tobias Döring beschreibt mit warmen Worten das "eindrucksvolle" Berliner Poesiefestival. Klaus Ungerer erzählt, wie das BKA in Berlin auf unsittliche Anträge reagiert: "Herr Koop möchte Herrn Müller ermorden lassen, denn Herr Müller hat ihn übers Ohr gehauen, einige hunderttausend sind futsch. Herr Koop ist sauer, für gewöhnlich haut er die Leute selbst übers Ohr ..." Muss ja böse ausgehn, sowas. Monika Osberghaus resümiert das Stuttgarter Kinder- und Jugendtheaterfestival "Schöne Aussicht". J.A. berichtet kurz vom Widerstand französischer Intellektueller gegen die Auslieferung Cesare Battistis, über die am Mittwoch ein Gericht entscheidet.

Auf der Medienseite annonciert Lorenz Jäger "Die Stunde der Offiziere", einen Spielfilm über das Attentat vom 20. Juli im ZDF, "mit kleinen, aber entscheidenden Korrekturen". Auf der letzten Seite berichtet Ludger Fittkau, wie in den Niederlanden Altersdemenz zum Sterbehilfefall wird. Richard Kämmerlings porträtiert entzückt den Bachmann-Preisträger Uwe Tellkamp und verweist auf eine Kostprobe seiner Kunst in der jüngsten Nummer der Literaturzeitschrift edit.

Besprochen werden eine Modigliani-Ausstellung im Jüdischen Museum in New York, Aufführunge von Viktor Ullmanns "Kaiser von Atlantis" und de Fallas "Meister Pedros Puppenspiel" in Frankfurt und ein Konzert von Bill Frisell mit Rickie Lee Jones und Vic Chesnutt im Rahmen der Ruhrtriennale in Essen.

FR, 29.06.2004

Polen und Deutschland, Vertriebene und Vertreiber. Bogdan Musial meint: "Das Hauptanliegen der polnischen Regierung und ihrer sowjetischen Auftraggeber nach dem Krieg war nicht die Vertreibung der Deutschen, sondern die Brechung des antikommunistischen Widerstandes. Dieselben Institutionen, die diesen Widerstand bekämpften, führten jedoch auch die Vertreibungen durch. Die polnische Gesellschaft hatte auf die neuen Grenzziehungen, auf das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche System wie auf die Bevölkerungspolitik im Nachkriegspolen keinen Einfluss, genauso wenig wie auf die Vertreibungen. Darüber entschied allein die sowjetische Führung."

Christian Broecking berichtet vom JVC-Jazz-Festival in New York, wo er unter anderem erfahren hat, dass der verstorbene Elvin Jones immer noch Frühstück von seiner Frau bekommt. Alexander Kluy nutzt den Platz der Times mager, um ambitionierte Berliner Architektur-Mini-Monographien im DIN A 6-Format anzupreisen. Auf der Medienseite bringt uns Rüdiger Heimlich die berechtigten Ängste der Privatsender vor dem werbefeindlichen Festplattenrekorder näher. Auch Araber lieben seichte Soaps, stellt Gerwin Klingler nach einer internationalen Konferenz über die arabische Medien-Galaxie im Berliner Haus der Kulturen der Welt fest.

Besprechungen widmen sich Brian Wilsons Soloalbum "Gettin' In Over My Head" (eine "solide All-Stars-Vereinigung im Diesseits", lobt Silke Hohmann), zwei Einaktern von Manuel de Falla und Victor Ullmann im Bockenheimer Depot der Oper Frankfurt, und Büchern, darunter eine Ausgabe mit "Gesammelten Gedichten" von Blaise Cendrar, Wolfram Bergers Vorlesemarathon durch Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften", der von Christa Maar und Hubert Burda herausgegebene Sammelband zum "Iconic turn" sowie Rujana Jegers Memoiren über ihre kriegs- wie poperschütterte kroatische Jugend "Darkroom."

TAZ, 29.06.2004

"In der Ausstellung wird nicht geflüstert, sondern immer geplappert, gesprochen und gelacht", erfährt Robert Hodonyi im Deutschen Hygiene-Museum, dessen neu konzipierte Dauerausstellung nun zu besichtigen ist. Christian Broecking bringt uns den New Yorker Jazzsommer näher, diesmal mit sozialem Akzent. Christoph Twickel notiert auf dem Dortmunder Kongress zu Lohndumping, was freie Journalisten und Putzhilfen gemeinsam haben. "Das Allerneueste sind aber Lamatherapien", referiert Jenny Zylka in der zweiten taz, nicht ohne zuvor über den Communications Breakdown zu sinnieren. Die olympische Flamme macht Station in Deutschland, und Klaus Raab und Jan Feddersen bekommen feuchte Augen - trotz Fackelträgerin Sabine Christiansen. Tobias Moorstedt entdeckt die Modemacht der Fussballtrikots. Für die Tagesthemenseite besucht Jörg Schallenberg den "Psycho-Guru" Bernd Hellinger (Familienaufstellung), der gerade in Hitlers zweite Reichskanzlei in Berchtesgaden umgezogen ist.

Besprochen werden nur Anja Siljas Auftritt in Leos Janaceks "Sache Makropulos" in der Deutschen Oper Berlin und Christian Kadens kulturpessimistische Hommage an die Musik "Das Unerhörte und das Unhörbare".

Und Tom.

SZ, 29.06.2004

Eine wütende Suada gegen den bräsigen Journalismus hierzulande hält Hans Leyendecker auf der Medienseite. "Recherche, die mehr als ein Wort sein soll, ist das Stiefkind des deutschen Journalismus. Investigativer Journalismus gar, der gegen Widerstand und Barrieren öffentlich nicht zugängliche Vorgänge öffentlich macht, ist ein Bastard." Auch die Kollegen kommen nicht gut weg. "Wer den Leitartikel schreiben darf, wer im Presseclub sitzt, hat den Ausweis höchster Professionalität erreicht."

In einem recht politischen Aufmacher bezichtigt der Soziologe Heinz Bude Konservative wie Liberale des Realitätsverlusts. Die einen reden immer noch von Globalisierung, die anderen wollen zurück zu 1945. "Man will diese wilden neunziger Jahre mit ihrem Börsenfieber, ihren Genomprojekten und Konzernverschmelzungen aus dem Gedächtnis tilgen und die Wunder des Erfolgsmodells der Bundesrepublik wiederbeleben. So flieht man vor den Einsicht, dass wir soviel Anfang wie nach dem verlorenen Krieg und der glücklichen Befreiung nie mehr haben werden."

Weitere Artikel: Jens Bisky referiert noch einmal das Problem, dass das Hannah-Arendt-Institut mit seinem Direktor Gerhard Besier hat. Auf der Biennale neuer europäischer Theaterstücke ist Jürgen Berger vor allem Alvis Hermanis im Gedächtnis geblieben. Wolfgang Schreiber wohnt der Eröffnung der Münchner Opernfestspiele durch eine harmoniebetonte Kulturstaatsministerin Christina Weiss bei. Martina Knoben kündigt die neue Generation amerikanischer Independent-Dokus an, die derzeit in München gezeigt werden. Alex Rühle leidet mit den Briten, deren Post jährlich 14 Millionen Briefe verschluckt. Herrmann Unterstöger fragt sich in der "Zwischenzeit" unter anderem, ob in der FAZ wirklich alle Briefe an die Herausgeber gehen. "tsr" schreibt zum Tod des Schauspielers und Regisseurs Edwin Noel. Auf der Literaturseite resümiert Ralf Hertei die kontroverse Debatte zu einem Berliner Zentrum für Poesie.

Besprochen werden das Regiedebüt des Kabarettisten Bruno Jonas mit "Der Mann von La Mancha" am Münchner Gärtnerplatztheater, "Wohnsitze, Auftraggeber und Sammler", eine Ausstellung in Genua, auf der die Privatsammlungen der Kunstmäzene der Rubens-Zeit gezeigt werden, eine Ausstellung mit Bildern des Modefotografen Guy Bourdin im neuen Pariser Fotozentrum im Jeu de Paume ("Die Auswahl der Bilder ist ganz und gar unzulänglich", schimpft Johannes Willms), ein Liederabend mit Waltraud Meier bei den Opernfestspielen in München. Und Bücher, darunter Franziska Gerstenbergs Erzählband "Wie viel Vögel", Simone Barcks und Siegfried Lokatis' Geschichte des DDR-Verlags Volk & Welt sowie Stephane Moses' verschiedene Lesarten der Bibel "Eros und Gesetz" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Außerdem präsentiert die SZ heute eine Literaturbeilage. Den Aufmacher widmet Thomas Steinfeld dem neuen Buch von Philip Roth: "Shop Talk".

NZZ, 29.06.2004

Die arabische Liga scheint, was ihren Buchmessen-Auftritt betrifft, endlich in die Strümpfe zu kommen, meldet Stefan Weidner: "Schon die Liste der eingeladenen Autoren dürfte den Skeptikern den Wind aus den Segeln nehmen. Mehr als 200 Namen sind genannt, darunter auch Kritiker, Intellektuelle und Reformdenker, übrigens auch aus den Ländern, die offiziell gar nicht teilnehmen wollen. Im Exil lebende Schriftsteller wie der Syrer Adonis und der Iraker Saadi Yussuf befinden sich ebenso darunter wie der Libanese Amin Maalouf oder der Saudi Ahmed Abodehman, die auf Französisch schreiben (und ebenfalls im Exil leben). Und was Schriftstellerinnen angeht, so scheinen diese fast überrepräsentiert."

Weiteres: George Waser berichtet in einem Schauplatz London, dass die öffentlichen Bibliotheken Großbritanniens in ihrer eigenen Bürokratie unterzugehen drohen. "Bis in einer öffentlichen Bibliothek ein neues Buch im Bücherregal stehe, seien 28 Leute nötig." Richard Merz porträtiert das Tänzerpaar Birgit Keil und Vladimir Klos. Hubertus Adam beleuchtet den bizarren Trend zum Neohistorismus in den Niederlanden: "Wohnanlagen haben die Form von Kastellen, und eine Siedlung bei Helmond entsteht in den Formen einer brabantischen Kleinstadt aus dem 17. Jahrhundert." Gemeldet wird, dass der Belgier Philippe Pirotte neuer Leiter der Kunsthalle Bern wird.

Besprochen werden Bücher, darunter Albert Ostermaiers Gedichtband "Solarplexus", Wenedikt Jerofejews Erstling "Aufzeichnungen eines Psychopathen" und Franco Lucentinis Erzählungen "Der unbekannte Begleiter" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 29.06.2004

Im Feuilleton singt Sir Simon Rattle eine Hymne auf die Berliner Philharmoniker: "Die Spielweise, das Reagieren aufeinander ist in diesem Orchester anders, direkter. Vielleicht, weil hier so viele aktive Kammermusiker arbeiten. Deswegen wollen sie auch so viel reden. Und deswegen zählen sie nie, sie bewegen sich, finden einen Weg, die Musik in ihren Körper zu lassen, fast sogar miteinander zu tanzen. Gastmusiker und Gastdirigenten erwähnen das immer. Schwierig würde es mit einem Dirigenten, der gewöhnt ist, die totale Kontrolle zu übernehmen. In Berlin ist einfach mehr Raum für Fantasie. Deswegen reagiert das Orchester so anders. Ganz physisch."

"Singulär war das Verbrechen der Judenvernichtung. Der Weg dahin war nicht singulär." Und deshalb, meint der Theologe Richard Schröder auf den Forumseiten, darf man die beiden totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts miteinander vergleichen. Die Unterschiede seien für die wissenschaftliche Analyse von Bedeutung - "aber doch nicht für das Gedenken an die Opfer! Da wird die Quantifizierung zur Instrumentalisierung." Deshalb gehören für Schröder die Gedenkstätten beider deutscher Diktaturen "in einen Zusammenhang, damit wir nicht noch einmal das Falsche aus der Geschichte lernen".