Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.09.2004. FR und taz sind sich einig: Den "Untergang" wird man schnell vergessen. Die SZ fragt nach der Zukunft der Historikerzunft. Die FAZ beschreibt Renzo Pianos gigantische Pläne für den Hafen von Genua.

FR, 14.09.2004

Auch in der FR ist Hitler, respektive der Film "Der Untergang", Aufmacher. Daniel Kothenschulte arbeitet sich redlich am Spannungsverhältnis zwischen Interesse, historischer Wirklichkeit und Inszenierung ab. Er schreibt: "In der stärksten Szene von Hirschbiegels und Eichingers Film sieht man sechs unschuldige Menschen sterben, es sind die Goebbelskinder. Eine weitere Perspektive, oder gar, wie von Eichinger erhofft, eine spezifisch deutsche Aufarbeitung der NS-Zeit, entwirft er nicht. Die Bilder, die er zeigt, fallen in die Dunkelheit zurück, aus der sie gekommen sind."

Ulrich Clewing zieht Bilanz der Moma-Ausstellung in Berlin und stellt abschließend fest: "Die Ausstellung wird keine historische Wegmarke sein, sondern eine Ausstellung bleiben. Und das ist für eine Ausstellung sicher kein Makel, schon gar nicht für eine so gut besuchte wie diese." Thomas Fechner-Smarsly resümiert das diesjährige Ibsen-Festival in Oslo. Und in Times mager rechnet Hilal Sezgin unter anderem mit der Zumutung "Hüfthose" ab.

Besprochen werden Andre Wilms Inszenierung von Jean Genets Stück "Zofen" am Schauspiel Frankfurt, Robert Wilsons "Parsival" an der Hamburgischen Staatsoper sowie eine Übersetzung von Aexandre Dumas' Roman "La Terreur Prussienne", die preußische Schreckensherrschaft (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 14.09.2004

Hitler rauf und runter - dran vorbei kommt man irgendwie nicht. Deshalb denkt heute Stefan Reinecke auf den Tagesthemenseiten über Eichingers Film "Der Untergang" nach, der diese Woche in die deutschen Kinos kommt. Er hält die ganze Debatte um Bilderverbote etc. für -zumindest - irgendwie übersteigert. "Und nun? Nun werden die Massen ins Kino strömen. Danach in der Kneipe werden sie Bruno Ganz Schauspielkunst loben und dass Corinna Harfouch mit 50 noch immer toll aussieht. Dann wird man das Thema wechseln und sich der Krise von Bayern München widmen. Hitler ist kein Gespenst von einem anderen Planeten mehr. Hitler ist nicht mehr so wichtig. Keine schlechte Nachricht. Diesen Film hätte es dafür nicht gebraucht."

Weiteres: Auf den Kulturseiten erläutert die Historikerin Ute Frevert anlässlich des heute beginnenden Historikertags in Kiel aktuelle Fragestellungen und Standpunkte ihrer Disziplin ("Ein guter Europäer schaut nicht nur auf Europa"). In der Kolumne "Postproletarische Körper" beschäftigt sich Helmut Höge mit Herstellungs- und Erhaltungsbemühungen derselben. In tazzwei setzt Bernard "der-zu-seinem-Nutzen-Geohrfeigte" Pötter seinen pädagogisch ausgerichteten Lebensbericht fort (geht das wirklich schon sechs Jahre so?!). Und auf der Medienseite wundert sich Klaus-Peter Klingelschmitt über die Sprachregelung bei Einführung der neuen Zeitschrift "News" - die wird nämlich "gelauncht".

Besprochen werden zwei Ausstellungen von Francis Alys in Berlin und Wolfsburg, die Vertonung der Pet Shop Boys zu Sergej Eisensteins Revolutionsfilm "Panzerkreuzer Potemkin", die am vergangenen Samstag mit Unterstützung der Dresdner Philharmoniker auf dem Londoner Trafalgar Square über die (Leinwand) Bühne ging und Art Spiegelmans neuer Comic "In the Shadow of no Towers" über den 11. September (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Und hier Tom.

Welt, 14.09.2004

"Wie weit können materielle Entschädigungen heute noch die Wunden heilen, die wir im Europa der Nachkriegszeit nicht durch innergesellschaftliche Debatten und bilaterale Vereinbarungen zu schließen vermochten? Versöhnen Geld oder Restitution die Opfer nach 60 Jahren tatsächlich mit dem Schicksal, oder schürt der Kampf um materielle Wiedergutmachung die Ressentiments?", fragt sich die Journalistin Helga Hirsch auf den Forumseiten und kritisiert die Forderungen der selbst ernannten Preußischen Treuhand und des polnischen Parlaments gleichermaßen: "Es sei eine gefährliche Illusion, hat erst unlängst der tschechische Historiker Bohumil Dolezal gesagt, zu glauben, alles Unrecht der Vergangenheit sei wieder gutzumachen. Letztlich lässt sich Seelenfrieden weder durch materielle Entschädigungen noch durch Entschuldigungen seitens unserer Nachbarn erreichen."

Auf den Kulturseiten spricht der Dirigenten Kent Nagano im Interview über seine japanischen Wurzeln, die Kultur der Stille und seine Vorbereitung zu einer Orchesterübernahme: "Ich mache drei Sachen zum Anfang. Zunächst nehme ich mir ein, zwei Jahre vorher Zeit, um die Geschichte des Orchester zu recherchieren. Jedes Orchester hat sein eigenes Wesen. Die Tradition des Deutschen Symphonie-Orchesters ist für mich viel länger als 1946. Zweitens versuche ich die Sprache des Orchesters zu lernen. Ich würde nie erwarten, dass die Musiker meine Sprachen sprechen. Wenn mich jetzt jemand fragt, wo ich deutsch gelernt habe, kann ich sagen: beim Deutschen Symphonie-Orchester. Ich habe 114 wunderbare Lehrer. Sie korrigieren mich gern. Drittens lerne ich vorher alle Namen der Musiker auswendig."

FAZ, 14.09.2004

Dirk Schümer schildert die gigantischen, auf Jahrzehnte angelegten Pläne Renzo Pianos (mehr hier) für den Ausbau Genuas und seines Hafens, in dem bereits jetzt hunderttausend Menschen arbeiten. Dahinter steht nach Schümer auch eine säkulare ökonomische Gewichtsverschiebung von Nord nach Süd: "Der Radikalität der Pläne mag nachgeholfen haben, dass weite Teile des Hafens von Genua bereits von den Kollegen aus Singapur bewirtschaftet werden. Deren Ziel lautet dabei, die Warenströme um die Welt von den Häfen des Nordens - Hamburg, Rotterdam, London, Antwerpen - zunehmend ins Mittelmeer umzuleiten und Europa fortan von Süden mit den Gütern der Welt zu beliefern, damit die Containerschiffe dann durch den Suezkanal in die künftige Kernzone der Weltwirtschaft, den chinesisch-pazifischen Raum, weiterfahren können."

Weitere Artikel: In einem teilweise recht bizarr zu lesenden Aufmacher von epischen Ausmaßen wendet sich der protestantische Theologe Klaus Berger gegen den Ökumenismus ("Leiden, Blut und Kreuz, Schande und Martyrium gehören zum Problem der Theodizee. Schon die alte Aufklärung ist an dieser Frage gescheitert. Der ökumenistischen Aufklärung wird es da nicht anders ergehen. Keiner wird für Aufkläricht sterben wollen", dekretiert Berger). Donaldist Patrick Bahners schreibt einen Nachruf auf einen der Disney-Zeichner, Frank Thomas. Heinz Berggruen erzählt eine Episode aus der Jugend des später berühmten Kulturhistorikers Egon Friedell. Richard Kämmerlings verteidigt Marcel Reich-Ranicki gegen eine Rede Robert Menasses, der den Kritiker in einer Rede auf dem Germanistentag als "Führer in sprachlich-geistigen Dingen" beschimpfte. Christian Schwägerl kritisiert die jüngsten Empfehlungen des Nationalen Ethikrates zum therapeutischen Klonen als "nicht Fisch und nicht Fleisch". Paul Ingendaay berichtet, dass Alejandro Amenabars Film "Mar adentro", der gerade in Venedig lief, in Spanien eine Debatte zum Thema Sterbehilfe auslöste. Hubert Spiegel gratuliert dem Verleger Arnulf Conradi vom Berlin Verlag zum Sechzigsten. Henning Ritter gratuliert der Feministin Kate Millett zum Siebzigsten. Timo John besichtigt den umgestalteten Innenraum der Heidelberger Jesuitenkirche. Die Bevölkerungswissenschaftlerin Juliane Roloff fragt nach den Auswirkungen des demographischen Wandels auf Familienleben und Generationenbeziehung.

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld über eine Selbstverpflichtung des ZDF zu Qualität im Gegenzug zur ersehnten Erhöhung der Gebühren. Andreas Rossmann meldet, dass das Kulturradio WDR 3 seine Reform heimlich zurücknimmt. Esther Kilchmann und Julia Sohnemann melden, dass sich Redakteure der rumänischen Zeitung Romania Libera gegen Einflussversuche des besitzenden Essener WAZ-Konzern verwahren.

Auf der letzten Seite macht Christian Geyer launige Bemerkungen zu den umstrittenen Äußerungen Horst Köhlers über das Ost-West-Gefälle in Deutschland. Und Kerstin Holm erinnert an den deutschen, in Petersburg wirkenden Komponisten Sigismund Ritter von Neukomm, dessen Bühnenmusik zu Schillers "Brau von Medina" jüngst ediert wurde - ein Glück, denn die einzige überlieferte Abschrift verbrannte in Weimar.

Besprochen werden Roland Schimmelpfennigs Stück "Frau von früher" in Wien, die Ausstellung "After Images" in der Bremer Weserburg und Schillers "Johanna" am Thalia Theater.

Berliner Zeitung, 14.09.2004

In einem kurzen Kommentar plädiert Arno Widmann für eine "Enthysterisierung" in Bezug auf die zerstörte Anna-Amalia-Bibliothek: "Fragt man einigermaßen mit der Marktlage und mit den Beständen der Anna-Amalia-Bibliothek vertraute Antiquare, so erklären die, man könne weit über achtzig Prozent der überhaupt zu ersetzenden Verluste innerhalb von fünf bis sieben Jahren für einen Betrag von um die zehn Millionen Euro neu anschaffen. Das ist beruhigend, nachdem so viel von 'unschätzbar' die Rede war. Es wäre also sinnvoll, erst einmal ein paar erfahrene Antiquare Bestände und Verluste schätzen zu lassen. Sie sollten die Kosten von Neuerwerb und Restaurierung vergleichen, bevor man Millionen für die Herstellung von Flickgut ausgibt."

NZZ, 14.09.2004

Die NZZ konzentriert sich heute auf das feuilletonistische Kerngeschäft - es gibt nur Besprechungen. Peter Hagmann wohnte dem virtuosen Konzert des Amsterdamer Concertgebouw unter Mariss Jansons beim Lucerne-Festival bei. Robert Uhde widmet sich dem fertig gestellten CODA-Gebäude in Apeldoorn, das vom Architekten Herman Hertzberger entworfen wurde. Ferner besprochen werden die Ballettaufführung "Surfacing" im Theater Basel und die Inszenierung von Roland Schimmelpfennigs "Die Frau von früher" im Wiener Akademietheater.

Buchrezensionen befassen sich unter anderem Norbert Gstreins Streitschrift in eigener Sache "Wem gehört eine Geschichte?", Dagmar Leupolds Roman "Nach den Kriegen" und mit der "Zürcher Fassung" von Brechts Herr-Keuner-Geschichten (mehr in unserer Bücherschau ab14 Uhr).

SZ, 14.09.2004

Im Vorfeld des Historikertags in Kiel denkt Frank Ebbinghaus über die Zukunft der Zunft nach und fragt sich, ob ihr "Heil in der hypertrophierten Nischenexistenz" liege. So habe sich etwa die "Zeitgeschichte zum Wasserkopf" aufgebläht. "Jeder Gedenktag ein Forschungsauftrag. Kein Etat-Topf, der sie nicht trefflich nährt. Und wem gerade nichts einfällt, kann darauf bauen, dass eine erregte Öffentlichkeit die Stichworte liefert." So sei es im Fall Flick gewesen, weshalb nun "gleich drei Einrichtungen die Geschichte des Flick-Konzerns im Dritten Reich untersuchen werden: Symptome nicht zuletzt einer wissenschaftspolitischen Großwetterlage, in der die Zeitgeschichte aufblüht, während alle früheren Epochen verkommen."

Weitere Artikel: Kristina Maidt-Zinke gibt Impressionen vom Weimarer Kunstfest pelerinages. Henning Klüver resümiert das achte Literaturfestival von Mantua, und Ijoma Mangold berichtet von den Literaturtagen "Sprachsalz" in Hall in Tirol. Thomas Thiel stellt Klaus Theweleits Buchreihe "absolute" vor: "Auch Theorie kann cool sein, wenn man ihr ein poppiges Design unterschiebt.". Jens Bisky informiert über eine von der Publizistin Helga Hirsch initiierte Verzichtserklärung bezüglich Rückgabeforderungen, welche die "unheilvolle Spirale gegenseitiger Forderungen" vor allem im deutsch-polnischen Verhältnis anhalten soll und die bereits von 70 Personen unterzeichnet wurde (darunter Wolfgang Thierse, Hilmar Kopper und Janosch). In der Kolumne Zwischenzeit hält Claus Heinrich Meyer unter der Überschrift "Das Bus-Verbrechen der BVG" ein herrlich flammendes Plädoyer für den Erhalt der Berliner Buslinie 341 ("ein Trüffel des öffentlichen Nahverkehrs", "Zierde Berlins"). Mau. meldet ein Projekt von Filmregisseur Dieter Wedel und den Hamburger Kammerspielen, bezahlte Werbung auf die Bühne zu bringen.

Besprochen werden eine Dali-Ausstellung im Palazzo Grassi in Vendig, die Aufführung von Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin", vertont von den Pet Shop Boys, am Londoner Trafalgar Square, die Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs Stück "Die Frau von früher" am Wiener Burgtheater, eine Brüsseler Ausstellung, in der der Architekt Rem Koolhaas und sein Rotterdamer "Think Tank" AMO das "Image Europa" mit Worten und Symbolen sichtbar machen (ab 11. Oktober auch im Münchner Haus der Kunst zu sehen), eine Perfomance von Kattrin Deufert und Thomas Plischke in der Schaubühne Lindenfels, Ingo Metzmachers Aufführung von Luigi Nonos "Prometeo" beim Hamburger Musikfest, Gary Winicks Film "30 über Nacht", ein Album der - stets völlig vermummt auftretenden - afghanischen Burka Band und Bücher, darunter Foucaults Vorlesungen über das Subjekt und seine Moral und ein Buch des ungarischen "Universalmodernisten" Dezso Kosztolany (mehr dazu in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).