Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.11.2004. In der NZZ versucht sich Laszlo F. Földenyi , die Erfolge der ungarischen Zwischenkriegsliteratur in Deutschland zu erklären. Die FAZ empört sich über Orchestermorde im Bayerischen Rundfunk. Die SZ druckt Robert Gernhardts Laudatio auf Loriot. In der Berliner Zeitung sagt Imre Kertesz etwas Schönes über Berlin. Alle Zeitungen setzen ihre apokalyptischen Visionen nach der US-Wahl fort: In der taz fürchtet Norman Birnbaum, dass nun auch der Iran angegriffen wird. Nur Hans-Ulrich Gumbrecht sieht's in der Welt ein bisschen anders.

NZZ, 06.11.2004

Literatur und Kunst zuerst: In einem lesenswerten Essay versucht sich der ungarische Autor Laszlo F. Földenyi den erstaunlichen Triumphzug der ungarischen Zwischenkriegsliteratur zu erklären. Ein Gedanke: "Verglichen mit der zeitgenössischen europäischen Literatur erscheint diese Literatur deshalb so eigenartig, weil ihre Verfasser sich zu einem Zeitpunkt nach der bürgerlichen Lebensform sehnen, als diese woanders schon im Niedergang befindlich ist. Thomas Buddenbrook wäre überaus erstaunt gewesen, dass Marai Kaschau die dreißiger Jahre wie das goldene Zeitalter des Bürgertums beschreibt! Ungarische Autoren haben irgendeinen nostalgischen konservativen Einschlag - ohne dass sie insgesamt konservative Schriftsteller gewesen wären."

Thomas Lachenmaier trauert darüber, dass die Fotografie mit der Digitalisierung ihre Magie verloren hat: "Das besondere an der analogen Fotografie ist, dass es - und zwar zwingend - eine direkte Verbindung vom fotografierten Objekt bis zum fertigen Bild gibt. Das Licht wandert über eine Kette gewissermassen naturgesetzlicher Prozesse von der Realität bis zum Bild: Es beginnt mit optischen Gesetzlichkeiten über optisch-mechanische bis zu den chemischen Prozessen, die auf dem Film und zum Schluss im Labor ablaufen. Diese Linie ist unverbrüchlich... Mit dem Aufkommen der digitalen Fotografie - besser: der Digitalie - gibt es nicht notwendigerweise mehr die Gebundenheit des Objekts an seine neue Wirklichkeit, das Bild. Der digitale Bildermacher bedarf des realen Baumes oder Gesichtes so wenig wie ein Maler."

Im Feuilleton rauft sich Samuel Herzog die Haare über die jüngste Eskalation im Berner Museumsstreit um die Paul-Klee-Bilder. Demnach besteht Maurice E. Müller, Mäzen des geplanten Zentrum Paul Klee nun doch darauf, dass sämtliche Klee-Bilder des Kunstmuseums in sein Zentrum überführt werden - "sonst werde er die für die Fertigstellung des Baus noch ausstehenden zehn Millionen nicht herausrücken". Dabei hatte sich die Direktoren beider Museen bereits anders geeinigt. Barbara von Reibnitz sichtet deutsche Zeitschriften, die sich mit der Entsolidarisierung befassen. Aldo Keel berichtet von neuestem Stand der Vorbereitungen zu Hans Christian Andersens 200. Geburtstag.

Besprochen werden die Cezanne-Ausstellung im Essener Museum Folkwang, eine Retrospektive auf das Werk des Architekten Wilhelm Riphahn in Köln, die Schau " Shooting Stalin" des Fotografen James Abbe im Kölner Museum Ludwig, und jede Menge Bücher, darunter Harald Weinrichs geistreiche Abhandlung "Knappe Zeit", Peter Zilahys Roman "Die letzte Fenstergiraffe" sowie zwei Kriegserzählungen von Alexander Solschenizyn (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 06.11.2004

"Was bei dem jetzigen Abwicklungsverfahren des Bayerischen Rundfunks im übrigen besonders verärgert, ist der Holzhackerstil der Intendanz, der so gar nicht in das Image von der blühenden bayerischen Kulturlandschaft mit Herz passt, mit dem man sich vor allem in München so gerne schmückt", schreibt ein ziemlich erboster Wolfgang Sandner, der nicht verstehen kann, dass ausgerechnet "dieses erfolgreiche Orchester" geopfert werden soll. Von einer Verwöhnmentalität kann seiner Meinung nach gar keine Rede sein: "Stimmführer in einem B-Orchester mit Fußnote und auf der letzten Gehaltstufe, also langer Arbeitspraxis, erhalten durchschnittlich ein Monatssalär von 3.800 Euro brutto, Tutti-Geiger im selben Orchester etwa 2.600 Euro brutto."

Weiteres: Oliver Tolmein zerpflückt den neuen Entwurf des Justizministeriums zu Patientenverfügungen. Besonders problematisch erscheint ihm, dass es dieser jetzt gar nicht mehr bedarf, wenn der - staatlich bestellte - Betreuer und Arzt "sich einig sind, dass ein geplanter Abbruch lebenserhaltender Behandlung dem mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht". In der Randglosse kennt "Ri." die Abschaffung von Nationalfeiertagen vor allem aus Bananen-Republiken, die mit einem gestürzten Diktator auch dessen ganzes Brimborium abräumen müssen. Joesph Croitoru blickt in osteuropäische Zeitschriften, die sich mit dem Warschauer Aufstand und Rumäniens König Karl I. beschäftigen. Achim Heidenreich hat auf dem European Jazz Festival ein gar nicht kühle nordische Viktoria Tolstoy erlebt, deren Stimme vielleicht nicht weit trug, dafür umso schöner intonierte.

Auf den Seiten der früheren Tiefdruckbeilage erinnert Dietmar Dath die linke Philosophie daran, dass Marx durchaus an das westliche Subjekt glaubte. Abgedruckt wird auch ein Auszug aus den Erinnerungen des Diplomaten Hans Graf von Kageneck an seine Österreich-Mission im Jahr 1938.

Auf der Medienseite kündigt Esther Kilcher die 3D-Doku-Serie "Inside USA" an, die ab morgen bei Kabel 1 läuft. "miha" kolportiert die neuesten Klagen über und gegen Bild.

Besprochen werden die Elaine-Sturtevant-Schau im Frankfurter Museum für Moderne Kunst, Peter Chelsoms Tanzfilm "Darf ich bitten?", Armin Petras' "Käthchen von Heilbronn" am Frankfurter Schauspiel. Und Bücher, darunter David Foster Wallace's neuer Roman "Der Besen im System", Ignacio Martinez de Pisons "Die Zeit der Frauen" und Magnus Mills' "Zum König!" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Vorgestellt werden auch neue Platten, etwa von Kings Of Leon, deren zweites Album "Aha Shake" für Edo Reents ebenfalls ein "Meisterwerk" ist, aber auch Werner Güras Lieder von Brahm, Clara und Robert Schumann wird sehr gut aufgenommen.

In der Frankfurter Anthologie stellt Peter Wapnewski Ludwig Uhlands Gedicht "Der weiße Hirsch" vor, das hübsch holprig beginnt:

"Es gingen drei Jäger wohl auf die Birsch,
Sie wollten erjagen den weißen Hirsch."

FR, 06.11.2004

Freud hatte Recht! Helmut Müller-Sievers deutet Bushs Wahlsieg als Quittung für die andauernde Adoleszenzkrise, in der sich Amerika befindet und die es seinem gänzlich unödipalen Lebensstil verdankt. Im Interview mit Stefan Schickhaus erklärt die Dirigentin Sian Edwards, warum es sie zu Shakespeare-Inszenierungen hinzieht und warum für dirigierende Frauen kein Weg zu Karajan führte. In Times mager deutet Christian Schlüter die wirren politischen Verlautbarungen über Arafats Gesundheitszustand als eine einzige lebenserhaltende Maßnahme.

Auf der Medienseite: Harald Keller sehnt sich zu den Anfängen der nunmehr dreißigjährigen Talkshow "3 nach 9" zurück. Oliver Gehrs vergleicht den jetzigen Besuch der Queen mit dem von 1977. Und Silke Hohmann empfiehlt die ambitionierte BBC-Reihe "Walk on by" zur Geschichte des Pop.

Besprochen werden Armin Petras' Inszenierung von Kleists "Käthchen" am Schauspiel Frankfurt, Rene Kollos "Tristan und Isolde" in Halle, die neun hohen Cs des Juan Diego Florez in der Alten Oper Frankfurt, Michaela Melians Ausstellung "Locke Pistole Kreuz" im Kunstverein Langenhagen und die adaptierte Fassung der Ausstellung "Territories, Live" in Tel Aviv.

TAZ, 06.11.2004

Norman Birnbaum, der große alte Soziologe, setzt die Reihe apokalyptischer Visionen nach Bushs Wahlsieg fort: "Außenpolitisch hat Bush jeden Grund anzunehmen, dass er grünes Licht hat, mit totalem Krieg gegen den Widerstand im Irak vorzugehen. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Einwände aus dem außenpolitischen Apparat, dem Kongress oder der Öffentlichkeit ihn jetzt noch beeindrucken. Was weitere Abenteuer angeht, so hat der britische Außenminister gerade erklärt, ein US-Angriff auf den Iran sei 'unwahrscheinlich'. Übersetzt in nichtbritisches Englisch heißt das, dass er ihn tatsächlich für wahrscheinlich hält..."

Weitere Artikel: Auch im Feuilleton muss Bushs Sieg noch verwunden werden. Die Wähler werden mehr und mehr zu Pawlowschen Hunden, bemerkt der Literaturwissenschaftler Niels Werber in seinem Versuch, den republikanischen Wahlsieg in den USA zu erklären. In der tazzwei nimmt uns Henning Kober mit auf seine Streifzüge durch New York, im Gefolge der OSZE-Wahlbeobachter. Im Gespräch mit Daniel Bax bestreitet der holländische Soziologe Thijl Sunier, dass der Mord am Filmregisseur Theo van Gogh kein unabwendbares Drama des Multikulturalismus darstellt, sondern die Tat eines einzelnen. Christian Semler versucht herauszufinden, was einen wirklichen Nationalfeiertag ausmacht. Auf der Medienseite gratuliert Jan Freitag "3 nach 9", der dienstältesten deutschen Talkshow, zum Dreißigsten. Im Magazin erinnert sich Anja Maier an ihren eigenen 9. November 1989 - und seine symbolischen Vorboten: "Wenn ich nachts ausging, musste ich meine Tochter immer mitnehmen. Den 7. Oktober etwa, den vierzigsten Republikgeburtstag, feierten wir bei einem Maler um die Ecke. Jeder hatte schwarz-rot-gelbes Essen mitgebracht - das Emblem fehlte." Und Jan Feddersen porträtiert den Journalisten Jens Bisky ("Geboren am 13. August").

Besprochen werden die Ausstellung "Der Fotograf Willy Römer 1887-1979", eine Perle im Megaprogramm des ersten Berliner Monats der Fotografie, Thomas Riedelsheimers "Touch the Sound", das Filmporträt der gehörlosen Perkussionistin Evelyn Glennie, der Film "Darf ich bitten?", ein müdes Remake des japanischen Erfolgsfilms "Shall we dance?" und politische Bücher.

Und schließlich Tom.

Berliner Zeitung, 06.11.2004

Stephan Speicher führt im Magazin der Zeitung ein ernstes und ausführliches Gespräch mit Imre Kertesz, das zum Glück einen heiteren und für Berlin günstigen Ausklang hat: "Meine Frau, die amerikanische Staatsbürgerin ist, und ich finden, Berlin ist von Budapest aus das nächstliegende New York. Ich mag die liberale Tradition, die Offenheit, die Toleranz. Wenigstens hier in Charlottenburg."

Welt, 06.11.2004

Freuen kann nsich auch Hans-Ulrich Gumbrecht nicht über Bushs Wahlsieg. Aber er versucht damit zu leben: "Sieht man einmal von jenen Bürgern anderer Nato-Staaten ab, die insgeheim auf Bushs Wiederwahl gehofft hatten, weil sie sich wohlfühlen in den Perspektiven eines Kulturkampfs, der es ihnen erlaubt, das (zumindest militärisch und intellektuell weiterhin) stärkste Land der Welt als einen weltgeschichtlichen Krüppel anzusehen, dann muß man feststellen, daß eigentlich niemand dem fundamentalistischen Amerika von George W. Bush die Macht wünschte - außer eben diesem Amerika selbst. Die Frage des Donnerstagmorgens, beginnt man zu ahnen, heißt also, wie jene, welche sich diese Macht-Erteilung nicht gewünscht haben, noch einmal vier Jahre mit ihr leben können."

Auch der Schriftsteller Jonathan Franzen leistet im Gespräch mit Wieland Freund wahlbezogene Trauerarbeit: "Ich fühle mich, als wäre ein geliebtes Familienmitglied nach langer Krankheit gestorben. Der einzige Trost ist, dass ich nun nicht mehr jeden Tag im Krankenhaus verbringen muss." Ans Auswandern denkt er aber nicht: "Meine eigenen Fantasien gehen mehr in Richtung einer massenhaften Sezession. Vielleicht würde Kanada die Kerry-Staaten willkommen heißen?"

SZ, 06.11.2004

Warum verleiht man gerade diesem Mann den Jacob-Grimm-Preis Deutsche Sprache?, fragt Robert Gernhardt mit gespieltem Unverständnis in seiner Laudatio auf den Preisträger Loriot. Schließlich habe Loriot sein Leben lang die deutsche Sprache für bankrott erklärt: "Loriots so disparat erscheinende Mitteilungsformen nämlich transportieren seit Anbeginn ein und dieselbe Botschaft, ein Verdikt, welches sich in einem einzigen Satz zusammenfassen lässt: 'Die ihr den Mund aufmacht, lasset alle Hoffnung fahren' -- darauf nämlich, dass ihr euch verständlich machen könnt. Und die heikle Frage muss lauten: Wie verträgt sich eine Auszeichnung, die sich 'Kulturpreis Deutsche Sprache' nennt, mit der Person eines Ausgezeichneten, der sein Leben dem Nachweis geweiht hat, dass von einer deutschen Sprachkultur nicht die Rede sein kann, jedenfalls nicht unter deutsch sprechenden Gesprächspartnern?"

Weitere Artikel: Wenn Idole zu Fall kommen - Wie Johannes Willms nicht ohne Genugtuung berichtet, rütteln Jade Lindgaard und Xavier de la Porte in ihrem Buch "Enquete sur le plus grand Intellectuel francais" mächtig am Sockel des französischen Vorzeige-Intellektuellen Bernard-Henri Levy, kurz: BHL. Stephan Maus stellt Band 34 der SZ-Bibliothek vor: W. Somerset Maughams Roman "Der Magier". Laut Kerstin Kullmann erlebt die Ständegesellschaft in der Mode eine Renaissance - und alle lechzen wieder nach den Insignien des Adels. Lothar Müller freut sich weniger über das "schönste deutsche Wort" als über den Ärger der Linguisten an der dafür angeführten - falschen! - Begründung. Auf der Medienseite berichten Christiane Langrock-Kögel und Hans-Jürgen Jakobs über die Entstehung von Fatih Akins Musik-Dokumentation "Crossing the Bridge -- The Sound of Istanbul".

Weiterhin wird gemeldet, dass der bisherige Leiter der "Kunst-Werke" in Berlin Klaus Biesenbach ab sofort als Kurator an das MoMA in New York wechselt, und dass im Rahmen des 20. Internationalen Kurzfilmfestivals "Interfilm" in Berlin erstmals der "MicroMovie-Award" für Handy-Filme ausgeschrieben wurde.

Die SZ am Wochenende veröffentlicht den ersten Teil eines Berichts, den ein von Diktator Kim Jong Il nach Deutschland gesandter nordkoreanischer Beobachter verfasste, und für den er bei seiner Rückkehr nach Nordkorea verhaftet wurde. Benjamin Henrichs begibt sich auf seine eigene Winterreise und fährt die ganze Strecke der Berliner S-Bahn-Linie 1 ab. Und schließlich ist ein ganzes Dossier dem Besuch der Queen gewidmet - von Protokollfragen zum Accessoire du jour.

Besprochen werden das Konzert der Einstürzenden Neubauten im Palast der Republik (Eines haben Band und Ort gemeinsam: Sie sind alt und eingestürzt), das 7. Jazztival in Elmau, der Münchner Arienabend des Tenors Juan Diego Florez, der "musikalische Dialog" zwischen Stockhausen und Bach auf Schloss Neuhardenberg, Armin Petras' "Käthchen von Heilbronn" in Frankfurt , Lars Norens "Kälte" im Werkraum des Deutschen Theaters Berlin und "Seductive Visions", eine pralinenschachtelige Schau über Francois Boucher in London.