Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.02.2005. In der taz polemisiert Michael Ignatieff gegen die europäische Linke, die nur auf die bourgeoise Gemütlichkeit der westlichen Metropole bedacht sei. Die NZZ gibt einen Überblick über Blawgs, Biz Blogs und War Blogs. Die FAZ geht als einzige Deutsche in Kreuzberger Eberhard-Klein-Schule. Im Tagesspiegel erklärt Lutz Hachmeister, warum er sein "Goebbels-Experiment" drehte. Die SZ staunt über den letzten Band von Walter Kempowskis "Echolot".

TAZ, 25.02.2005

Der Direktor des Carr Center of Human Rights Policy Michael Ignatieff erklärt im Interview auf der Meinungsseite, warum für ihn der Irak-Krieg ein kleineres Übel und der moralische Relativismus der europäischen Linken ein größeres ist: "Man kann sich in diesem moralischen Relativismus sicher einrichten: Wer sind wir schließlich, das wir zwischen Gut und Böse zu unterscheiden? Wer sind wir, im Irak zu intervenieren? Klingt gut, aber was man dafür kriegt, ist Wien 1994 - ein gutes, risikoloses Leben, während eine Flugstunde entfernt ein Genozid stattfindet. Ein unerträglich hoher Anteil der europäischen Linken vertritt genau solche Auffassungen. Da vermischt sich eine antikoloniale mit einer kulturrelativistischen Rhetorik und einem Generalverdacht gegen den Liberalismus, mit der Konsequenz, dass nur die hergebrachte, bourgeoise Gemütlichkeit in den westlichen Metropolen verteidigt wird. Dieser provinzielle, antiamerikanische Isolationismus muss sich fragen lassen, warum er nur andere der gefährlichen Welt aussetzen will."

Im Feuilleton weiht uns Daniel Schreiber in die ehrgeizigen Pläne New Yorks ein, rund um die Brooklyn Academy of Music einen neuen Kulturdistrikt zu entwickeln. Rene Martens schwärmt von dem aus Ebba Durstewitz und Jakobus Siebels bestehenden Duo JaKönigJa, das unter dem souveränen Titel "Ebba" nach fünf Jahren wieder ein Album herausgebracht hat. Boris Rosenkranz berichtet von einem bizarren Rechtsstreit um das einstige Wohnhaus des Architekten Egon Eiermann: Ein nicht weiter genannter Bundesrichter will das Haus, das er vor knapp fünf Jahren gekauft hat, nicht mehr haben: die Fußbodenheizung funktioniert nicht. Jürgen Kiontke hat nach Lektüre von Hartmut Brenneisens Polizei-Studie zu "Techno" die Lust am Rave verloren.

Schließlich Tom.

NZZ, 25.02.2005

Auf der Medienseite gibt "set" einen Überblick über die themenorientierten Weblogs, in denen immer häufiger Fachleute kostenlos ihr Wissen der Öffentlichkeit zugänglich machen. "So heißen etwa Weblogs mit juristischer Thematik im Szenenslang Blawgs, Unternehmens-Journale werden als Biz Blogs bezeichnet, politische Berichte nach dem 11. September als War Blogs... Professionell aufbereitet ist auch der Weblog medienmami.de, der Eltern helfen will, das Medienangebot von Büchern bis zu Computerspielen zu bewerten." Weiter nennt er lawgical.de, ein Projekt aus Saarbrücken über Rechtsinformatik und medienspiegel.ch, der die Entwicklung der schweizer Medienszene beobachtet. Einen Überblick über die (noch spärlichen) schweizer Weblogs gibt blog.ch.
"ras" bemerkt, dass Blogger Teil einer "immer geschwätzigeren Medienwelt" seien und ihre "Wühlarbeit" nicht nur aufklärend im positiven Sinne wirke, wie etwa der umstrittene Rücktritt des CNN-Nachrichtenchefs Eason Jordan zeige.

Außerdem wird gemeldet, dass es ab Anfang März eine englische Version des Perlentauchers geben wird.

Im Feuilleton informiert Georges Waser über ein vom britischen Innenministerium herausgegebenes Handbuch, das sich als Anleitung für Immigranten versteht, wie man britischer Staatsbürger wird. Allerdings zweifelt Waser am Verstand der Verfasser, die nur lückenhaft Auskunft geben über die Geschichte des Landes geben, dafür aber mit der Auskunft aufwarten, "der britische Weihnachtsmann sei ein gutmütiger Alter mit Bart, der aus der Gegend des Nordpols angereist komme und dessen Schlitten von Rentieren gezogen werde... Immerhin, für ein fröhliches Weihnachtsfest auch angehender Briten sorgt das Handbuch, indem es die für den traditionellen 'Christmas pudding' notwendigen Ingredienzen aufzählt."

Weitere Artikel: Gabriele Detterer beschreibt Coop Himmelb(l)aus Pläne für das neue EZB-Hochhaus, das auf dem Areal der 1928 gebauten Großmarkthalle (auch "Gemüsekirche" genannt) im Frankfurter Ostend entstehen soll. Christine Wolter porträtiert den italienischen Schauspieler und Regisseur Toni Servillo. Gemeldet wird, dass die Mailänder Scala ihren Intendanten Carlo Fontana entlässt.

Besprochen werden Jules Massenets "Werther" an der Wiener Staatsoper, Offenbachs Oper "Rheinnixen" in Winterthur sowie zwei Bücher über den Medienriesen Bertelsmann (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Auf der Filmseite berichtet Andrea Köhler, dass zwei Oscar-Anwärter unter Beschuss geraten sind: "Sideways" und "Million Dollar Baby". Ersterer, weil er angeblich den Alkoholismus verharmlose, letzterer, weil er angeblich Euthanasie befürworte. Besprochen werden Werner Herzogs "Fitzcarraldo"-Tagebücher, Clint Eastwoods Boxerdrama "Million Dollar Baby" und der Film "Machuca" des Chilenen Andres Wood.

FAZ, 25.02.2005

Am Montag noch beklagte Frank Schirrmacher (Bild aus der gestrigen Harald-Schmidt-Show), dass 99 Prozent der Schüler an der Kreuzberger Eberhard-Klein-Schule "keine Deutschen" (er meinte wohl keine Deutschen deutscher Herkunft) seien und malte dies als Bild der in Deutschland demografisch drohenden Zukunft an die Wand. Heute besucht Regina Mönch die Schule und singt vor allem ein Hohelied auf die Arbeit der Lehrer dort: "Wie an anderen Migrantenschulen (und an nur wenigen Gymnasien) besitzt die Klein-Oberschule eine eigene Bibliothek, selbst zusammengetragen und gern benutzt. Von Schülern, in deren elterlicher Wohnung kaum Bücher stehen. Der Stundenplan ist eine komplizierte Konstruktion, die nur Fachleute zu entschlüsseln vermögen. Die Schule hat mehr Lehrer als andere; die Klassen werden oft geteilt in kleinere Gruppen, um die Defizite der Schüler besser beheben zu können, aber auch, um die, die leichter lernen, entsprechend zu fördern. Das alles macht unendlich viel Mühe, verlangt enorm viel Geduld und Selbstvertrauen, das nur selten von draußen, aus der Gesellschaft gestärkt wird. Vielmehr wird es als selbstverständlich erachtet, dass Schulen all das ausgleichen und auffangen, was eine verfehlte Einwanderungspolitik und sozialer Niedergang mit sich bringen."

Weitere Artikel: Im Aufmacher erkundet Martina-Lenzen-Schulte "Fluch und Segen der Reproduktionsmedizin". In der Leitglosse erklärt Jürgen Kaube, warum die Meldung, dass fast die Hälfte der Deutschen auf den Religionsunterricht an den Schulen verzichten würde, irrelevant ist (weil nämlich die Mehrheit daran festhält). Herwig Birg setzt seinen "Grundkurs Demografie" fort. Uwe Walter gratuliert dem Althistoriker Frank Kolb zum Sechzigsten. Dirk Schümer schildert neueste Episoden aus dem erbitterten Krieg zwischen GMD Riccardo Muti und dem Intendanten Carlo Fontana an der Mailänder Scala. Edo Reents berichtet, dass die Fame-Studios in Muscle Shoals, eine der Urquellen des Soul, für immer schließen werden. Caroline Neubaur resümiert eine Tagung über Vordenker der Psychoanalyse wie Wilfried R. Bion und Edith Jacobson am Berliner Karl-Abraham-Institut. Verena Lueken lässt Kriegsfilme, die mit Oscars prämiert wurden, auf einer Bilderseite Revue passieren.

Auf der Medienseite unterhält sich Dietmar Dath fast ganzseitig mit der Schauspielerin Sarah Michelle Gellar aus der Serie "Buffy". Reiner Burger verweist auf einen NPD-Antrag im sächsischen Landtag (mehr hier), mit dem die Partei heute wieder für Wind sorgen wird, zitiert aber auch auf die "vornehm-ruhige" Antwort der Wissenschaftsministerin Barbara Ludwig (SPD), die dem geplanten Aufruhr den Boden entzieht. Und Tilman Spreckelsen erinnert an Heinrich Hart, Theaterkritiker der Kaiserzeit, dessen Kolumnen gerade neu in Buchform erschienen.

Besprochen werden eine Ausstellung über "Holländische Malerei von Adriaen Brouwer bis Johannes Vermeer" im Frankfurter Städel, ein Konzert mit Wolfgang Niedecken und der WDR Big Band in Bonn und Konzerte und eine Ausstellung, die an den großen Mäzen Sergej Diaghilew erinnerten im niederländischen Groningen.

FR, 25.02.2005

Christine Keck hat sich mit Elisabeth Hartnagel, einer Schwester von Hans und Sophie Scholl, über Marc Rothemunds Film unterhalten: "Nach Besichtigung des Filmes ist Elisabeth Hartnagel nicht unzufrieden. 'Es war in Wirklichkeit so viel schrecklicher, als es im Film gezeigt wird', gesteht die 84-Jährige mit den weißen Haaren und vergräbt eine Hand zwischen den Knien."

Weiteres: Hans-Jürgen Linke stellt die 2. Klaviersonate von Karl Amadeus Hartmann vor, der in diesem Jahr 100 geworden wäre. In einem unsäglichen Times Mager über die Fememorde an türkischen Frauen meint Frank Keil: "Zuallererst gehören zu einer Tragödie zwei. Und wer kann denn auch punktgenau bestimmen und damit entscheiden, wo alles - die Tragödie eben - ihren Anfang nahm, wer ihren Verlauf steuerte und wer welchen Anteil an der ihr eigenen Zuspitzung hat, bevor es böse endet?" Besprochen wird die Ausstellung "Exit - Ausstieg aus dem Bild" im Museum für Neue Kunst im Karlsruher ZKM.

Tagesspiegel, 25.02.2005

"Goebbels-Experiment"-Regisseur Lutz Hachmeister erklärt im Interview, was ihn an Goebbels interessiert hat: "Goebbels hat mich als moderne Figur interessiert, als Medienpolitiker. Er gilt ja als das abstrakte Böse, das wir, die nachgeborenen Guten, von uns abspalten können. Ich wollte schon diese Trennung aufheben. Nach der Berlinale-Premiere sagte eine Zuschauerin: 'Der ist ja mitunter sympathisch und sieht auch noch in einigen Szenen gut aus, das finde ich schrecklich.' Die unangenehme Nähe ist beabsichtigt. Manche Zuschauer und Kritiker wollen Teufelsaustreibung, Purifikation, durch einen Kommentar oder eine besonders strenge Form. Das wollte ich gerade nicht."

Abgedruckt ist außerdem in einer gekürzten Fassung das Vorwort von Anna Politkovskaja zu ihrem neuen Buch "In Putins Russland" (hier noch eine Leseprobe). Sie wirft Bundeskanzler Gerhard Schröder vor, mit seinem Schmusekurs gegenüber Putin die Demokratie in Russland zu untergraben.

SZ, 25.02.2005

"Das soll ihm erst mal einer nachmachen!" Gustav Seibt ist schier überwältigt von Walter Kempowskis "Abgesang '45", dem abschließenden Band seines kollektiven Tagebuchs "Echolot": "Das letzte Gesülze von Goebbels, der ölige Schlussbericht der Wehrmacht, die Wahnsinnsstammelei von Hitler - alles wird zu Farbe im Bild. Natürlich gibt es reine und unreine Töne, die Masken der Selbstgerechtigkeit und das bare Entsetzen: Denn neben der Not von Bomben und Vergewaltigungen, also den Leiden der Deutschen, bleibt ja auch ihr Verbrechen gegenwärtig, ja es bricht erst hervor und wird für jedermann sichtbar in diesem Moment: In Bergen-Belsen kann ein britischer Offizier nicht unterscheiden, ob Pritschen belegt sind oder nicht, weil die abgemagerten Menschen so dünn sind, dass sie unter den Decken fast unerkennbar bleiben; letzte KZ-Züge mit verdurstenden brüllenden Menschen werden durch die Flüchtlingsmassen auf deutschen Bahnhöfen geschleust."

Der Kulturanthropologe Werner Schiffauer sieht die Ursache für die gestiegene Zahl von so genannten Ehrenmorden nicht im Islam, sondern "sozialer Diskriminierung und kulturellem Anpassungsdruck". "Hier bildet sich eine ethnische Unterklasse. In diesem Zusammenhang ist der Rückgriff auf die Ehre nicht nur deshalb problematisch, weil er sich vorzüglich zur Markierung von Grenzen zur Mehrheitsgesellschaft eignet, sondern auch, weil er den Zugriff auf die Frauen nahe legt, um Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Gruppen zu markieren. Wir besitzen Ehre, die andern nicht - und dies lässt sich an 'unseren' Frauen ablesen. Die Wut auf die deutsche Gesellschaft insgesamt richtet sich dann schnell gegen die Frauen, die sich den damit einhergehenden Erwartungen entziehen - indem sie aufsteigen und aussteigen. Der relative Erfolg dieser jungen Frauen in Schule und Beruf konfrontiert ihre Brüder mit der Tatsache, dass die Randlage unter Umständen doch nicht so aussichtslos ist, wie es heißt. Wenn sie dann noch 'wie Deutsche' werden, ist das fast Verrat."

Der Publizist Richard Chaim Schneider appelliert an die "liebe Bundesregierung", Nazis bitte marschieren zu lassen, wo sie nur wollen: "Lasst die Antisemiten doch bitte weiter in aller Öffentlichkeit aktiv sein! Dann können wir sie sehen." Christiane Schlötzer berichtet von einem Mega-Bestseller in der Türkei, der offenbar genau die gegenwärtige Stimmung im Land trifft: "Metal Firtina" (Metallsturm) heißt der Polit-Thriller und handelt von einem Krieg der USA gegen die Türkei. Christine Dössel gratuliert dem Schauspieler Wolfgang Hinze zum siebzigsten Geburtstag. Jens Malte Fischer schreibt zum Tod des Baritons Josef Metternich. Klaus Englert beobachtet rege Bautätigkeiten in Barcelona, am Werke sind neben anderen die Architekten Zaha Hadid, Oriol Bohigas, Jean Nouvel und Herzog & de Meuron. Arnd Wesemann erzählt beeindruckt von Tanzfestival Context am Berliner HAU, das sich in seiner zweiten Folge "Traumatisierten Körpern" widmet. Willibald Sauerländer sieht das Deutsche Forum für Kunstgeschichte in Paris durch Etatkürzungen in seiner Unabhängigkeit und Einzigartigkeit bedroht.

Besprochen werden die Ausstellung "Im Rausch der Kunst" zu Jean Dubuffet und seiner Art Brut im Museum Kunst-Palast Düsseldorf, die Schau "Parfum - Ästhetik und Verführung" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe und Bücher, darunter Heinz Ludwig Arnolds Monografie der Gruppe 47 (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).