Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.08.2005. Nun ist Thomas Mann fünfzig Jahre tot. Die taz äußert sich misstrauisch über das inszenierte Gedenken. Aber die FAZ entscheidet: Thomas Mann ist der Referenzpunkt. Uwe Tellkamp findet Mann dagegen in der Welt recht merkwürdig, während er in der SZ "Glockenschall, Glockenschwall" anstimmen lässt. In der SZ enthüllt Irshad Manji den "verborgenen Unterleib" des Islam. Im Tagesspiegel wendet sich Orhan Pamuk gegen ein konservatives Europa, das die Türkei ausschließen will.

FAZ, 12.08.2005

Nun ist Thomas Mann fünfzig Jahre tot. Bei solchen Anlässen schreibt in der gedenkseligen FAZ der Chef selbst. Frank Schirrmacher wundert sich nicht, wenn Schriftsteller behaupten, sie seien von Mann nicht beeinflusst: "Auch das kleine Liechtenstein würde wahrscheinlich auf eine entsprechende Frage behaupten, nicht von den Vereinigten Staaten beeinflusst zu sein." Dafür aber seien praktisch alle Leser der Schirrmacher-Generation zutiefst von Mann geprägt: "Er ist der Referenzpunkt geworden; nicht nur, wie man zu Recht bemerkte, was den Grundkreis heutiger Bildung angeht, sondern auch, was überhaupt den Zutritt zu deutscher Geistesgeschichte betrifft. Thomas Mann hat sie zum Roman gemacht."

Auf der Medienseite schreibt Zhou Derong einen erhellenden Bericht über den Konkurrenzkampf der Suchmaschinen Google und Baidu in China. Der Konkurrent Baidu profitierte, weil er die Zensurauflagen der Regierung noch eilfertiger erfüllte. Auch Google folgte Auflagen der Regierung, so Zhou: "Google hat dafür viel Kritik einstecken müssen, zu Recht. Doch auch heute muss man der Suchmaschine zugute halten, dass sie, anders als Yahoo oder Microsoft, als einzige nicht vor den Kommunisten in die Knie gegangen ist. Nicht nur hat Google von Anfang an darauf bestanden, alle Links in einem konkreten Suchergebnis zu präsentieren. Inzwischen tauchen auf ihrer Nachrichtenseite auch vereinzelt wieder 'subversive und schädliche' Websites auf. Dies macht sie zwar bei den kommunistischen Machthabern unbeliebt." Aber seitdem mehrt sich auch wieder der wirtschaftliche Erfolg Googles in China. (Über Internetzensur in China und die Willfährigkeit prominenter westlicher Unternehmen lasen wir bereits vorgestern einen instruktiven Artikel auf den Wirtschaftsseiten der FAZ.)

Weitere Artikel: Leo Wieland freut sich, dass Fresken Goyas in der Madrider Kirche San Antonio de la Florida restauriert wurden. In der Leitglosse macht sich Jürgen Kaube launige Gedanken zum Weltjugendtag. Felicitas von Lovenberg gibt die Long List für den Booker Prize bekannt, auf der bekannte Namen wie Ian McEwan und Salman Rushdie stehen. Andreas Kilb schildert die Probleme eines bürgerlichen Vaters mit dem Berliner Schulwesen, die ihn veranlassen, sein Kind in eine Privatschule zu stecken. Joachim Latacz schreibt zum Tod des streitbaren Archäologen Manfred Korfmann. Eleonore Büning gratuliert Harry Kupfer zum Siebzigsten. Dieter Bartetzko gratuliert dem Architekten Jean Nouvel zum Sechzigsten. Ulf Sparre, einst Kommunemitglied beim durchgeknallten Künstler-Aktivisten Otto Muehl, fordert Sammler und Ausstellungsmacher auf, nicht zu übersehen, dass Muehl ein Sektenführer ist und wegen wiederholten Kindesmissbrauchs verurteilt wurde. Jordan Mejias freut sich, dass im Fall von Picassos "Femme en blanc" ein Vergleich zwischen einer Sammlerin und einem jüdischen Erben, dessen Familie das Bild geraubt worden war, gefunden wurde.

Auf der Medienseite stellt Nina Rehfeld die amerikanische Glamourzeitschrift OK vor, die Prominenten für voyeuristische Geschichten Honorare zahlt.

Auf der letzten Seite freut sich Andreas Rosenfelder über das Engagement der Jugendlichen, die den Weltjugendtag in Köln vorbereiten und dabei so fromm sind, dass sie "nicht zuletzt Respekt bei den muslimischen Bewohnern der Kölner Nordstadt finden, die den Westen als Reich der 'Ungläubigen' betrachteten". Richard Kämmerlings stellt Günter Grass' Wahlinitiative für Rotgrün vor, bei der so prominente Autoren wie Peter Rühmkorf und Juli Zeh mitmachen. Und Wolfgang Sandner schreibt eine kleine Hommage auf den Dirigenten Valerij Gergiew, der es unter widrigen Umständen schafft, in Petersburg einen erstklassigen Opernbetrieb aufrecht zu erhalten.

Besprochen werden die deutsche Filmsatire "Weltverbesserungsmaßnahmen" und einige Sachbücher, darunter eine Monografie Wolfgang Burdes über Aribert Reimann.

NZZ, 12.08.2005

Elisabeth Wellershaus hat den tschechischen Theaterregisseur Dusan Parizek besucht, der gerade in Salzburg eine Inszenierung der "Verwirrungen des Zöglings Törless" probt. Parizek berichtet deprimierendes aus Prag: "Mittlerweile gibt es kein Kulturdezernat mehr in Prag, dafür werden wir seit einiger Zeit vom Denkmalschutz verwaltet. Absurd."

Der Literatur- und Religionswissenschafter Manuel Gogos denkt über den Trend zur Verschmelzung der religiösen Kulturen nach. Alexandra Stäheli schreibt zum Abschied der Direktorin des Filmfestivals von Locarno, Irene Bignardi. Georges Waser berichtet, dass die britische Geheimpolizei in den späten dreißiger Jahren George Orwell verdächtigte, ein Kommunist zu sein. Besprochen wird eine Ausstellung über den Architekten Enrique Norten im Museum of the City of New York.

Auf der Filmseite stellt Thomas Meder Peter Zanders Buch "Thomas Mann im Kino" vor. Besprochen werden Xavier Bermudez Film "Leon y Olvido", Tim Burtons Film "Charlie und die Schokoladenfabrik" und Peter Ramseiers Dokumentarfilm "Näkkälä".

Auf der Medien- und Informatikseite erzählt uns Nikola Wohllaib vom Büro der Zukunft. Gesehen hat sie es in Schweden, wo der Unternehmer Lars Evert Lindberg seit über zwanzig Jahren den ganzen Sommer über auf seiner Motorjacht "Enterprise" arbeitet. Isabelle Imhof berichtet über die englischsprachige Website Switzerland in Sound: Es ist ein Radio im Internet für Auslandsschweizer und Ausländer die sich für die Schweiz interessieren. Aufgebaut hat es der Radiojournalist Robert Zanotti, nachdem das Schweizer Radio International (SRI) abgeschaltet worden war. Und Stephan Russ-Mohl stellt eine Studie über die Erfolgsfaktoren im Zeitungsjournalismus vor.

Welt, 12.08.2005

Über die jüngste Heimreise der Nofretete schreibt Berthold Seewald: "Frauen und Propaganda - das Thema prägt derzeit die Straßen Berlins. Dafür sorgen die Omnipräsenz von Angela Merkel und die ägyptische Königin Nofretete, die von heute an auf der Museumsinsel zu sehen ist, erstmals wieder seit 66 Jahren."

Auch wurde eine Reihe jüngerer Autoren über ihr Verhältnis zu Thomas Mann befragt. Andreas Maier (mehr hier) sagt: "Ein Jahrtausendgenie, spielt in einer anderen Liga als wir alle." Uwe Tellkamp (mehr hier) dagegen findet: "Merkwürdiger Romancier, bei dem Zwischenmenschliches wie Eifersucht, Hass, Neid, Leidenschaft, Machtgier, Sex so gut wie nicht vorkommen."

TAZ, 12.08.2005

"Deutschland hat ab sofort einen Nationaldichter." Auf der Tagesthemenseite staunt Dirk Knipphals, mit welchem Enthusiasmus Politiker plötzlich Schriftsteller umarmen - nur tote, versteht sich. Zum morgigen Festakt für Thomas Mann anlässlich seines fünfzigsten Todestages haben sich zahlreiche Politiker angemeldet. "Horst Köhler, der Bundespräsident, hat kürzlich angeregt, ganze Theaterstücke von Klassikern auf die Bühnen zu bringen, ungeachtet von Aufführungsdauern von über fünf Stunden. Eine ähnliche Kulturbeflissenheit kann man auch bei seinem Einsatz für Thomas Mann annehmen. Die Verbindung einer modernen Wirtschaftspolitik mit einer traditionellen Sicht auf Kultur hat bei konservativen Politikern Tradition; die Kultur soll nach dieser Ansicht helfen, die Sinndefizite auszugleichen, die die moderne Wirtschaft hinterlässt."

Im Kulturteil sucht Ulrich Rüger nach Gründen für Thomas Manns radikale Kehrtwendung vom bekennenden deutschnationalen Ästhetizisten zum Streiter für die Republik. Besprochen werden die Choreografien "Quiet Dance" und "Two ones" bei der Tanzwerkstatt Europa in München und CDs von Art Brut, Hard-Fi und Go-Kart Mozart.

Schließlich Tom.

FR, 12.08.2005

Zum fünfzigsten Todestag von Thomas Mann betrachtet Andreas Kuhlmann den politischen Intellektuellen und seine seltene Kombination aus nationalkultureller und humaner Gesinnung: "Thomas Mann wird sich Zeit seines Lebens nicht aus dem logischen Zirkel befreien, der besagt, dass human sei, was deutsch ist, und dass 'das Deutsche' eine besondere Form der Humanität verkörpere. Selbst angesichts der deutschen Barbarei hat Mann deshalb - mit der großen Ausnahme der Josephs-Romane - nicht aufgehört, sich fast ausschließlich aus dem deutschen kulturellen Fundus zu bedienen."

Christoph Schröder berichtet in Times Mager von einer denkwürdigen Begegnung mit einem Angler Sattelschwein im Streichelzoo. Hans-Klaus Jungheinrich feiert Willy Deckers "grandiose" Inszenierung der "Traviata" mit Anna Netrebko bei den Salzburger Festspielen.

Tagesspiegel, 12.08.2005

Jörg Plath unterhält sich mit dem Schriftsteller Orhan Pamuk, der nochmals für den EU-Beitritt der Türkei plädiert: "Ich bin natürlich für die Aufnahme der Türkei in die EU. Aber es ist nicht so einfach, dass wir dann wohlhabend werden und alle Probleme gelöst sind. Europa ist nach den Referenden in Frankreich und Holland mit sich selbst beschäftigt. Es ringen verschiedene Ideen über den Charakter der Union miteinander. Definiert sich Europa ausschließlich über die Vergangenheit? Das ist eine konservative Ansicht, und sie lässt letztlich alles auf Diskussionen über die Agrarpolitik und die Verteilung von Geldern zusammenschrumpfen. So ist es immer bei kurzatmiger Politik. Aber langfristig braucht Europa eine umfassende Vision von sich, und daher empfehle ich die Aufnahme der Türkei."

SZ, 12.08.2005

Die kanadische Journalistin und "Muslim Refusenik" Irshad Manji spricht im Interview mit Werner Bloch über die Rolle der Frau im Islam und darüber, was sie seinen "verborgenen Unterleib" nennt: "Der verborgene Unterleib des Islam ist der arabische Kulturimperialismus. Es gilt ja heute als schick, den amerikanischen Kulturimperialismus zu verdammen. Doch es gibt auch eine arabische Variante. Die arabische Kultur hat sich im Lauf der Jahrhunderte so mit der Praxis des Islam vermischt, dass beide Begriffe häufig gleichgesetzt werden. Dabei sind der Islam und die arabische Kultur keineswegs identisch."

Zum fünfzigsten Todestag von Thomas Mann druckt die SZ auf der ersten Seite ein neu entdecktes Handschriftenfaksimile der Erzählung "Unordnung und frühes Leid", dazu schreibt Reinhard Pabst über seinen Fund. Auch die Literaturseite widmet sich dem Großereignis: Der Schriftsteller Uwe Tellkamp verneigt sich vor Thomas Manns "Schneiderkunst, die doch, da sie Unordnung und frühes Leid erfuhr, mehr verschweigt als verspricht, und Glockenschall, Glockenschwall anstimmen lässt supra urbem, dass es den Vätern und S. Fischer und uns, den Amüsablen, eine Freude ist". Friedrich Dieckmann spürt nach, wie Thomas Mann im "Felix Krull" ein Selbstporträt zeichnete. Dirk Heißerer schreibt über einen Brief Manns an einen seiner Leser.

Weiteres: Jonathan Fischer erzählt, wie sich die HipHopper in den Kampf um Reparationen für die Nachfahren der Sklaverei einschalten. Rap-Mogul Russell Simmons etwa verkauft Turnschuhe mit politisch korrekten Slogans. Und Nelly reimt: "40 acres and a mule / Fuck that . . . 40 acres and a pool / six bedrooms, full bath with a jacuzzi". Fritz Göttler nimmt Abschied vom klassischen 2D-Zeichentrickfilm, dem Disney-Chef Michael Eisner den "Todesstoß" gab zugunsten computergenerierter 3D-Technik. Der Politologe Franz Walter verteidigt den Populismus gegen das politische Establishment. Johan Schloemann schreibt zum Tod des Archäologen Manfred Kortmann, Susan Vahabzadeh zum Tod von "Miss Ellie" Barbara Bel Geddes. Wolfgang Schreiber gratuliert Opernregisseur Harry Kupfer zum siebzigsten Geburtstag, und Willi Winkler seufzt zu Heintjes Fünfzigstem: "Wer keine Träne für ihn vergießt, hat kein Herz."

Besprochen werden Jossi Wielers Inszenierung des Kabuki-Klassikers "Yotsuya Ghost Story" in Tokio (die bei Renate Klett "Gänsehaut im Hirn" auslöste) und die Ausstellung "Crossart" in der Bonner Bundeskunsthalle.