Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.11.2005. Die Welt porträtiert den neuen Kulturbeauftragten der Bundesregierung Bernd Neumann. In der FR findet Ernst Piper, dass der Beck-Verlag Luciano Canforas Buch "Demokratie - Geschichte einer Ideologie" zurecht nicht verlegt. In der Berliner Zeitung diagnostiziert der Soziologe Andreas Willisch: Die Neonazis sind die Überflüssigen Deutschlands. In Le Monde wertet Andre Glucksmann die französischen Jugendrevolten als Zeichen einer gelungenen Integration. Zum heutigen historischen Tag der Inthronisierung Angela Merkels entwickeln viele Feuilletons zudem einen lauwarmen Humor.

TAZ, 22.11.2005

Michael Schindhelm, Generaldirektor der Opernstiftung Berlin, hat mit Angela Merkel einst das Zimmer in der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin geteilt. In der zweiten taz schreibt er einen Nachruf auf "eine Frau, die es nicht mehr gibt": "Es gab viele Gründe, warum ich damals nicht auf den Gedanken kam, in Angela Merkel die erste Bundeskanzlerin Deutschlands zu erkennen. Unter anderem, weil unweit von unserer Baracke die Mauer verlief. Vor allem war die Merkel einfach eine junge Dame. Eine Wonne der Gewöhnlichkeit, so hätte man die Atmosphäre in unserer Abteilung nennen können. Und die Beziehung zwischen Merkel und mir. Die Kaffeepausen gehörten zur glücklichsten und aufschlussreichsten Beschäftigung in den zweieinhalb Jahren, die ich es an der Akademie aushielt. Die Konzerte, das Kino, bulgarischer Cabernet, Wagner und Gorbatschow und die absurde DDR, an deren Ende doch nicht zu denken war."

Clemens Niedenthal sinniert über die musealen Qualitäten rot-grüner Artefakte. Adrienne Woltersdorf meldet, dass Michael Moore Aktien von Unternehmen wie Halliburton besitzen soll, die er ansonsten heftig kritisiert (siehe auch unsere Magazinrundschau). Jan Feddersen schildert Eindrücke vom Holocaust-Mahnmal im grauen November.

Im Feuilleton beschreibt Ansgar Werner den Memory Extender, mit dem der amerikanische Ingenieur Vannevar Bush in einem Artikel im Atlantic Monthly 1945 das World Wide Web vorwegnahm. Jochen Schmidt porträtiert den Schriftsteller Thomas Brasch, zu dem jetzt ein Arbeitsbuch mit Erinnerungen von Wegbegleitern und bisher unveröffentlichten Tagebuchauszügen veröffentlicht wurde. Christian Broecking stellt den britischen Saxofonisten und Altmeister des Free Jazz Evan Parker vor.

Besprochen werden Jossi Wielers "filigrane und erschreckend fatalistische" Version der "Bakchen" Euripides an den Münchner Kammerspielen und Ian McEwans Erzählband "Letzter Sommertag".

Die Fans von Angela Merkel unter den taz-Lesern wird es erfreuen, dass der neuen Kanzlerin nicht nur ein Großteil der Tagesthemenseiten, sondern auch wieder einmal ein strahlendes Cover gewidmet ist.

Und hier noch TOM.

NZZ, 22.11.2005

Dass die westliche Kultur den Tod verdrängt, ist ein Klischee, hat Sieglinde Geisel bei einer Tagung über "Die neue Sichtbarkeit des Todes" von Thomas Macho gelernt. "Die Tagung wurde vom Bestattungsunternehmen Ahorn-Grieneisen mitveranstaltet und fand auch in dessen Haus der Begegnung in Berlin statt. Im Zentrum standen Künstler, die eine neue Auseinandersetzung mit dem Tod suchen - oft arbeiten sie direkt im Leichenschauhaus, wie der Amerikaner Jeffrey Silverthorne. Man hält Silverthornes Schwarzweißbilder kaum aus, und doch kann man sich ihnen nicht entziehen. Aufgerissene Münder in verhärmten Gesichtern, der erstaunte letzte Blick aus den offenen Augen, in denen manchmal auch nur eine verstörende Leere bleibt. Die Bilder wurden in der Empfangshalle präsentiert, und so konnte man gleich im Selbstversuch testen, wie geübt im Tabubruch wir sind. Den meisten Tagungsteilnehmern schien es jedenfalls in der Kaffeepause keine Schwierigkeiten zu bereiten, die Toten an der Wand beim Smalltalk auszublenden."

Weiteres: Matthias Messmer hat den Schriftsteller Bo Yang in Taipeh besucht. Besprochen werden die Uraufführung von Edward Rusthons "Harley" im Opernhaus Zürich, ein Klavierabend mit Alfred Brendel in Zürich und Bücher, darunter Antonio Machados "Juan de Mairena. Sprüche, Scherze, Randbemerkungen und Erinnerungen eines zweifelhaften Schulmeisters" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 22.11.2005

Hanns-Georg Rodek porträtiert den neuen Staatsminister für Kultur Bernd Neumann, der vor allem einen film- und medienpolitischen Hintergrund hat: "Neumann hat in 18 Jahren Bundestag, in 15 Jahren Vorsitz des CDU-Bundesfachausschusses Medienpolitik und in sieben Jahren als Parlamentarischer Staatssekretär im Bildungsministerium eine Menge Strippen in den Händen gehalten und gelernt, wie man sie zieht. Als Bremer hat er zwar keinen starken Landesverband im Rücken, aber das macht er durch seine Medienerfahrung wett."

Ines Geipel guckt eine DVD, auf der Prominente Märchen lesen - Angela Merkel hat sich "Rumpelstilzchen" ausgewählt. Elmar Krekeler und Hans-Jörg Schmidt interviewen Hanna Schygulla, die sich auch über Merkel äußert (" wenn ich mir die Frau angucke - sie gefällt mir nicht"). Peter Dittmar schreibt über die (inzwischen wieder aufgehobene) Konfiszierung einiger in die Schweiz verliehener russischer Gemälde durch einen Geschäftsmann, der Entschädigungsforderungen an Russland hat. Und Berthold Seewald gratuliert dem ehemaligen Welt-Feuilletonchef Dittmar zum Siebzigsten. Rainer Haubrich weist anlässlich der Klage des Architektenbüros Gerkan, Marg und Partner gegen die Verhunzung ihres Entwurfs für den Lehrter Bahnhof, auf weitere noch schlimmere Bausünden im künftigen Bahnhofsviertel hin.

Besprochen werden Hermann Nitschs neuestes Blut- und Weih-Festspiel am Wiener Burgtheater und Peter Konwitschnys "Cosi fan tutte"-Inszenierung an der Komischen Oper Berlin.

Auf der Medienseite stellt Christiane Buck eine Studie des Transatlantischen Instituts in Brüssel vor, die die Aktivitäten islamistischer Sender in Europa untersucht.

Auf der Magazinseite porträtiert Thomas Kielinger die 94-jährige deutsch-britische Schriftstellerin Sibylle Bedford, die sich bis heute wenig respektvoll über Thomas Mann äußert: "Thomas hatte ein solches Ego, er brauchte gar keine Hofschranzen um sich, er war sein eigener Hofstaat."

Berliner Zeitung, 22.11.2005

In Deutschland gibt es ebenso wie in Frankreich Ausgegrenzte, die wie eine "tickende Drohung" gegen die Gesellschaft aufgestellt sind, behauptet der Soziologe Andreas Willisch (Netzwerk Ostdeutschlandforschung). Nur sind sie hierzulande nicht unter den Migranten, sondern den Skinheads zu suchen. "Die versprengten Teile eines nationalsozialistischen Geistes ersetzen den Deutschen den radikalen Islamismus der arabischen oder türkischen Jugendlichen. Es handelt sich um eine Art säkulare, sozialstaatsfixierte Quasi-Religion. Gerade darum sind die Rechtsradikalen besonders in Ostdeutschland zur erfolgreichsten sozialen Bewegung seit der Wende geworden. Der Integrationsnotstand in Deutschland ist keiner der unmittelbaren Armut wie in den USA oder der republikanischer Verwahrlosung wie in Frankreichs Vorstädten, sondern der einer nicht mehr nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Das Überflüssig-Sein ist über das Land verteilt. Es versteckt sich hinter properen Aufschwungfassaden, die mit Steuersubventionen aufgehübscht wurden."

FR, 22.11.2005

Auch Ernst Piper sieht in Luciano Canforas Geschichte der Demokratie für die Reihe "Europa bauen" nichts als "hanebüchene Geschichtsklitterungen", die der Beck Verlag zu Recht nicht veröffentlichen wolle. "In der FAZ, die bisher nicht als Hort der Stalinverehrung aufgefallen ist, insinuiert der Feuilleton-Korrespondent in Italien, Dirk Schümer, der Beck Verlag wolle 'aus kruden Gründen die deutsche Demokratie vom Faschismus reinwaschen und damit den deutschen Lesern die verfälschte Sicht einer Historie bieten, die im europäischen Ausland allgemein anerkannt ist.' Dieser Vorwurf ist doch ungewöhnlich abwegig. Das Standardwerk über das Wirken alter Nazis in der jungen Bundesrepublik, 'Vergangenheitspolitik' von Norbert Frei, ist wie viele andere bedeutende Geschichtswerke im Beck Verlag erschienen. Und die Geschichtswissenschaft ist im europäischen Ausland auf keinem schlechteren Stand als in Deutschland. Dass Canforas Zerrbild über Stalin 'allgemein anerkannt' sei, ist eine absurde Behauptung. Auch der Zensurvorwurf, der nun erhoben wird, greift nicht. Beck blockiert das Buch nicht. Der Verlag hat dem Autor die deutschen Rechte zurückgegeben."

Weitere Artikel: Ursula März macht Angela Merkel klar, dass auch als Kanzlerin der Versuch vollkommen zwecklos ist, sich der weiblichen Rolle zu entziehen: "Sie kann, wird und muss regieren als die Mutter des Kompromisses. Sie kann, wird und muss ihre Macht mit der weiblichen Handschrift austarierender, entpolarisierender Verbindlichkeit ausüben." In Times Mager reagiert Hans-Jürgen Linke auf den Ekelfleisch-Skandal. Gemeldet wird außerdem, dass es einen neuen Deutschen Theaterpreis geben wird. Das erste Mal soll er am 24. November 2006 im Essener Aalto-Theater verliehen werden.

Besprochen werden eine Ausstellung zu Friedensreich Hundertwasser im Deutschen Architektur Museum, die neue Choreografie von Sasha Waltz an der Berliner Schaubühne und Lars-Ole Walburgs Inszenierung von Grillparzers Trilogie "Das goldene Vlies" am Theater Basel.

FAZ, 22.11.2005

Gerhard Stadelmaier hat zum heutigen historischen Tag ein Dramolett für das führende politische Personal geschrieben. Angela Merkel schwört: "Ich schwöre, dass ich meine Handtasche dem Wohl der Geigen widmen, dem Druck der Hände und Verbände weichen und die Gesetze des Grundes wahren und verteidigen und Gott helfe, so wahr ich mich üben werde..."

Weitere Artikel: Kerstin Holm schreibt über ein russisch-deutsches Buch, das die Verhörprotokolle des Weiße-Rose-Mitglieds Alexander Schmorell publiziert. Jordan Mejias würdigt den Mut des Museum of Natural History in New York, das frecherweise eine Darwin-Ausstellung ohne den Schatten religiöser Rücksichten präsentiert. Gina Thomas berichtet, dass der Historiker Luciano Canfora, dessen Buch "Demokratie - Geschichte einer Ideologie" der Beck-Verlag nicht verlegen will, auch in Großbritannien sehr kritisch gesehen wird. Tilmann Lahme resümiert eine Münchner Tagung über Thomas Mann. Michael Gassmann freut sich über die Restaurierung des Kleinen Zittauer Fastentuchs. Wolfgang Sandner gratuliert dem Jazzmusiker und -vermittler Gunther Schuller zum Achtzigsten.

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld, dass sich die Frankfurter Rundschau unter ihrem neuen Geschäftsführer Karl-Heinz Kroke wieder dem wirtschaftlichen Erfolg nähert. Gina Thomas meldet einen Chefredakteurswechsel beim Daily Telegraph in London. Der ehemalige FAZ-Afrikakorrespondent Günther Krabbe wirft dem ZDF-Dreiteiler "Deutsche Kolonien" historische Ungenauigkeiten vor. Und Kerstin Holm berichtet über Gängelung der letzten freien Zeitungen in Weißrussland.

Auf der letzten Seite berichtet Kerstin Holm über eine Tagung zu Beute- und Raubkunst in Moskau. Martin Kämpchen erzählt, wie die südindische Schauspielerin Khushboo durch die Bemerkung, indische Männer sollten künftig bei der Heirat nicht mehr mit Jungfrauen rechnen, eine Welle des Volkszorns und Gerichtsklagen auslöste. Und Andreas Rossmann stellt die neue Intendantin des Kölner Schauspiels Karin Beier vor.

Besprochen werden eine Ausstellung über Pasolini und den Tod in München, Peter Konwitschnys "Cosi"-Inszenierung an der Komischen Oper Berlin, eine Ausstellung mit historischen Wien-Fotos ebendort, ein Konzert des Mahler Chamber Orchestras unter Daniel Harding mit dem Pianisten Pierre-Laurent Aimard in Frankfurt und eine George-Brecht-Ausstellung in Köln.

Weitere Medien, 22.11.2005

Andre Glucksmann schreibt in Le Monde über die französischen Jugendrevolten: "Überall wird jetzt die Diagnose gestellt: Die Integration ist gescheitert. Und wenn genau das Gegenteil zuträfe?", fragt er, und sieht den Nihilismus der Jugendlichen als Zerrbild des übrigen Frankreich: "Stark sein, heißt zu schaden, haben die Brandstifter in Frankreich gelernt... Denn wer will Europa ganz allein regieren und rät den Ländern, die sich gerade von ihrem russischen Herren befreit haben, zu schweigen? Wer stimmt zu 55 Prozent gegen Europa und macht sich gemein mit Extremisten und Rassisten? Wer nimmt das Risiko in Kauf, 50 Jahre der Anstrengungen zu vernichten? Wer mokiert sich im Namen unserer 2 Prozent Bauern über das afrikanische Elend? Die französische Diplomatie... stellte sich gestern prächtig mit Saddam und heute mit Putin. Und bei Gelegenheit behandelt sie die Schlächter von Bagdad als Resistants."

SZ, 22.11.2005

Im Vorfeld des "Simdi"-Festivals in Stuttgart lernt Sonja Zekri die dort auftretenden türkischen Musiker kennen. Ihre künstlerische Heimat ist das neue Istanbul. "Vor fünfzehn, zwanzig Jahren waren Beyoglu und Taksim heruntergekommen, aber heute leuchtet die Gegend, mit bunten Perücken-Läden für die Transvestiten und dem legendären Grand Hotel de Londres; mit Jazz-Clubs wie den Nardis und Wohnzimmerclubs wie dem 'Geheimen Garten' Gizli Bahce, mit dem Techno-Paradies Indigo, das demnächst Sven Väth empfängt, und dem Cambaz, wo Männer zur Hiphop-Version von 'California Dreaming' mit den Hüften wackeln. In Beyoglu ist die Türkei selbst jenen nah, die sich nie nach Kreuzberg wagen würden."

Weiteres: Ob die jährlich notwendigen 180.000 Besucher in das Wolfsburger Mitmach-Museum "Phaeno" kommen werden, ist noch unklar. Zumindest hat die Stadt nun ein von Zaha Hadid (Homepage) erbautes, "architektonisch geglücktes Bauwerk lehrreicher Eigenständigkeit", meint Gerhard Matzig. Ralf Wiegand meldet kurz die Ernennung des "leidenschaftlichen Kinogängers" und CDU-Politikers Bernd Neumann (so sieht er aus) zum Kulturstaatsminister. Dominique de Villepins Vorschlag, dass französische Jugendliche in Zukunft schon mit 14 Jahren die Schule verlassen können, kommt in dem an "Diplomitis" leidenden Land einem Paradigmenwechsel gleich, informiert Jeanne Rubner.

Stefan Koldehoff erzählt, wie mit Hilfe des Art Loss Registers nach 21 Jahren ein Cezanne wieder aufgetaucht ist. Joachim Kaiser erinnert sich in der Zwischenzeit an den Theaterregisseur Fritz Kortner (mehr), den er nach einigen Verrissen "verstohlen" lieben lernte. Nach der Sterbedebatte wird nun auch eine Diskussion um das Recht auf Verstümmelung kommen, etwa bei Patienten mit "Body Integrity Identity Disorder" (mehr), prognostiziert Alexander Kissler. Karl Bruckmaier schreibt zum Tod des Punk- und Grunge-Wegbereiters Link Wray.

Im Zusammenhang mit Springers geplanter Übernahme von ProSieben Sat 1 eröffnet Klaus Ott auf der Medienseite die nächste Runde: denkbar wäre auch eine direkte Ministerialerlaubnis, die angeblich schon beantragt ist, oder der Abbau der Springerschen Zeitungsmacht in Hamburg und Berlin.

Besprochen werden Hermann Nitschs blutiges "Orgien-Mysterien-Theater" an der Wiener Hofburg ("Österreich macht seinen Frieden mit seinen Aktionisten", beobachtet Helmut Schödel), Peter Konwitschnys als "besonders lange Schulstunde" inszenierte Aufführung von Mozarts "Cosi fan tutte" an der Komischen Oper in Berlin, ein Konzert der New Yorker Philharmoniker mit Gustav Mahlers Fünfter Symphonie unter Lorin Maazel in München, und Bücher, darunter Jan Eckels intellektuelle Biografie des Historikers "Hans Rothfels", Eduard Mühles Darstellung des Historikers Hermann Aubin und seiner Ostforschung sowie Ludovic Roubaudis Roman "Die Feuerwehrfrau" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Die heutige Literaturbeilage werden wir wie immer so schnell wie möglich auswerten.