Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.11.2005. In der Welt erzählt Jorge Edwards, wie aus einem nützlichen Schatten ein unerbittlicher Erster Mann im Staat wird. Die FR feiert den letzten kotzenden Fiesling in der Popmusik. Die NZZ ärgert sich über die Berliner Akademie der Künste, die sich in selbstzufriedener Beschaulichkeit gefällt. Die FAZ trauert um die Paris Bar. In der SZ skizziert der schwedische Verleger Svante Weyler die politische Situation in Kongo-Brazzaville.

Welt, 25.11.2005

"Bis zu diesem Tag im Spätsommer 1973 war Pinochet der perfekte Zweite gewesen, ein gehorsamer und nützlicher Schatten. In wenigen Stunden wusste man, dass er ein harter, unerbittlicher Erster Mann im Staat sein würde", schreibt der chilenische Schriftsteller Jorge Edwards über den früheren Diktator Augusto Pinochet, der heute neunzig Jahre alt wird. Vor wenigen Tagen war Pinochet wegen Steuerhinterziehung unter Hausarrest gestellt worden, gestern folgte allerdings eine Anklage wegen der Menschenrechtsverletzungen unter seinem Regime: "Meine europäischen Freunde kritisieren, dass die Chilenen Pinochet nicht seine Verbrechen vorwerfen, sondern erst seit Bekanntwerden seiner Geheimkonten und der Unterschlagung öffentlicher Gelder auf die Barrikaden gingen. Die Erklärung dieses Phänomens ist nicht schwierig. Unter Pinochets Herrschaft wurden widerwärtige Taten begangen, die alle Chilenen kennen. Aber in den Nachbarländern tobten Guerillakriege, und die Härte Pinochets hat dieser Auffassung zufolge verhindert, dass sie auch auf Chile übergriffen. Zweifelsfrei ist das keine moralische Erklärung, aber im Lichte der jüngsten Geschichte Lateinamerikas ergibt sie durchaus Sinn."

Statt des von Zaha Hadid entworfenen Wissenschaftsmuseums Phaeno hätte sich Wolfsburg lieber ein paar Stadtreparaturen leisten sollen, meint Rainer Haubrich, der dem Museum zum Mitmachen recht wenig abgewinnen kann: "Im Inneren wundert man sich nach all dem PR-Getöse, wie wenig Inhalt geboten wird. In die Weiten des Obergeschosses sind 250 Experimentier-Stationen der allerneuesten Generation eingestreut, dazu gesellen sich ein Souvenirshop, ein Restaurant und ein Veranstaltungssaal. Hinter der magischen Formel vom Science Center' als Ort der Innovation und der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts verbirgt sich eine Halle, in der die Kids Knöpfe drücken können - Deutschlands teuerster Kinderspielplatz."

Berthold Seewald berichtet erwartungsvoll, dass der Leipziger Sinologe Manfred Taube eine neue Übersetzung der "Geheimen Geschichte der Mongolen" vorlegt. Kai Luehrs-Kaiser begleitet Peter Jonas und die Bayerische Staatsoper auf ihrer Tournee durch Japan. Besprochen wird die Schau "Hildegard Knef - Eine Künstlerin aus Deutschland" im Filmmuseum Berlin.

TAZ, 25.11.2005

Saskia Draxler sieht die 2. Triennale in Guanghzou im chinesischen Perlflussdelta an ihrem hehren Anspruch scheitern, die Situation von Modernisierungsverlierern wie Bauern und Wanderarbeitern mit kreativen Angeboten verbessern zu wollen. Katrin Bettina Müller betet Isabelle Huppert in Sarah Kanes Stück "4.48 Psychose" an, dessen Version von Claude Regy die Berliner Festspiele nach Berlin geholt haben (mehr).

Nachdem Angela Merkel es in Deutschland vorgemacht hat, könnten 2008 Condoleezza Rice und Hillary Clinton um das Präsidentenamt kämpfen, prognostiziert Adrienne Woltersdorf in der zweiten taz. Gekämpft wird mit harten Bandagen. Philipp Maushardt bewundert zudem Joachim "Merkel" Sauer für seine Medienabstinenz. Giuseppe Pitronaci entlarvt die Schonfrist von 100 Tagen für eine neue Regierung als aufmerksamkeitssteigernde Erfindung der Kollegen. Und im Medienteil spricht sich der designierte Leiter des Kultur- und Medienausschusses im Bundestag Hans-Joachim Otto gegen eine Ministerialerlaubnis für Springers Übernahmepläne von ProSieben Sat1 aus.

Schließlich Tom.

FR, 25.11.2005

Für den Guardian ist er eine "Kreuzung aus Sid Vicious und Oscar Wilde", für Thomas Winkler ist Pete Doherty ein begnadeter Songwriter, der mit den Babyshambles ein neues Album und sich eine Menge Feinde gemacht hat. "Immer wieder lässt er Auftritte platzen, was mitunter zu Sachschäden durch aufgebrachte Konzertbesucher führt; wenn er dann doch auftaucht, kotzt er gelegentlich von der Bühne ins Publikum; er verprügelt Freunde, die ihm kein Geld mehr leihen wollen; Dohertys Ex-Freundin Katie Lewis bezeichnet den Vater ihres Sohnes als 'das pure Böse'; Hotels stellen ihm Reinigungskosten in Rechnung, nachdem er an ihren Wänden mit Eigenblut geschriebene Botschaften zurück lässt; Kate Moss engagiert Bodyguards, die Doherty von ihr fern halten sollen; schließlich blamiert sich ein torkelnder Doherty bei seinem Live-8-Auftritt mit Elton John - ein Junkie eben. Allerdings immerhin ein belesener Junkie."

Weiteres: Alexander Schnackenburg brandmarkt die angeblichen Finanznöte des Theaters Bremen, die jetzt auf dem Rücken der Mitarbeiter ausgetragen werden sollen, als perfiden Erpressungsversuch des Kultursenators Jörg Kastendiek. Die Retrospektive der Fotografien Lee Friedlanders im Münchner Haus der Kunst hält Martin Zeyn für "eine der "eindrücklichsten Fotopräsentationen der letzten Jahre".

Auf der Medienseite porträtiert Antje Hildebrandt Hugo Egon Balder, der in seiner neuen Show Talk im Tudio Stimmenimitatoren Politiker spielen lässt.

NZZ, 25.11.2005

Claudia Schwartz wundert sich, wie sehr sich die Akademie der Künste in ihr (funktionsuntüchtiges) Schneckenhaus zurückzieht. "Hiobsbotschaften über ungenügende Klimatechnik und abgesagte Ausstellungen häufen sich... Der Einzug am Pariser Platz hätte eigentlich einen Neubeginn markieren sollen. Je mehr aber die Öffentlichkeit Forderungen an die Akademie heranträgt, umso mehr stilisiert diese ihr Rühr-mich-nicht-an-Dasein." Kürzlich, schreibt sie, ließ Adolf Muschg aufhorchen, "als er eine zweite Amtszeit von Reformen abhängig machte, die umzusetzen er im Frühjahr 2003 angetreten ist. Ist Muschg, der anfänglich wiederholt die Zweckfreiheit der Akademie betonte, die verschroben anmutende Selbstgenügsamkeit des renommierten, mit jährlich rund 15 Millionen Euro öffentlich bezuschussten Künstler-Biotops nun selbst zu viel?"

Weiteres: Gabriele Schor besichtigt die neuesten Installationen von Olafur Eliasson in Malmö, Rotterdam und Tokio. Rahel Marti berichtet von der sechsten Internationalen Architekturbiennale in Sao Paulo. Beatrice von Matt gratuliert dem österreichischen Schriftsteller Joseph Zoderer zum Siebzigsten. Besprochen wird eine Aufführung von Tschaikowskys Puschkin-Vertonung "Mazeppa" in Bern.

Auf der Medienseite fürchtet "ras" eine "problematische Machtkonzentration nicht nur in kommerzieller, sondern auch in journalistischer Hinsicht", sollte Springer tatsächlich ProSiebenSat1 übernehmen - eine Konzentration übrigens, "die in den USA undenkbar wäre. Dort dürfte nicht dasselbe Unternehmen mehr als einen der vier großen Fernsehsender kontrollieren." Und Heribert Seifert erklärt, was deutsche Zeitschriftenmacher von amerikanischen Luxus-Magazinen noch lernen müssen: "Verglichen mit Vanity Fair ist Park Avenue bis jetzt viel zu glatt und versteht Nähe als Verpflichtung zur Harmlosigkeit."

Ralph Fiennes spielt die Hauptrolle in der Verfilmung von John Le Carres Pharmathriller "The Constant Gardener". Regie führte der brasilianische Regisseur Fernando Meirelles. Auf der Filmseite verteidigt Fiennes im Interview die vielen Streichungen im Drehbuch: Es "war einfach zu wortreich; er hat es gekürzt und Szenen gestrichen. So gibt er dem Schauspieler überhaupt erst den Raum, sich vor der Kamera zu entfalten. Wenn es zu viele Wörter gibt, wenn es zum Schauspiel wird, dann fühlt man sich als Schauspieler aufgefordert, alle Kräfte zu mobilisieren, um mittels seiner Wortmacht zu überleben - schlimmstenfalls wird es theatralisch. Je einfacher, desto besser. So mag es Fernando und bleibt stets locker. Wir haben immer gelacht, wenn er dazwischenfunkte: 'Langweilig! Langweilig! Zu viele Wörter! Weg damit!'"

Besprochen werden "The Constant Gardener" und Leander Haussmanns Film "NVA".

FAZ, 25.11.2005

In Westberlin gehen langsam die Lichter aus, jetzt ist auch die Paris Bar in der Kantstraße pleite. Michael Althen schreibt den Nachruf. Dieter Bartetzko schwärmt von dem Wissenschaftsmuseum Phaeno, das Zaha Hadid in Wolfsburg gebaut hat. Hd. stellt das Programm der Salzburger Festspiele für 2006 vor: Alle 22 Mozart-Opern sollen aufgeführt werden. Matthias Weller freut sich über die aufgehobene Beschlagnahmung russischer Kunstwerke durch den Schweizer Zoll. Die Schweizer Regierung habe mit ihrer Entscheidung "einen wegweisenden Akzent für das Recht der völkerrechtlichen Vollstreckungsimmunität in Bezug auf internationale Leihgaben ausländischer Staaten" gesetzt. Der von den Russen betrogene sudanesische Geschäftsmann Noga, der die Beschlagnahmung veranlasst hatte, sieht das wohl anders. Andreas Rossmann fürchtet um die Villa Zanders in Bergisch Gladbach, der die staatlichen Zuschüsse gestrichen werden sollen. Heinz Ludwig Arnold gratuliert dem Schriftsteller Joseph Zoderer zum Siebzigsten und Andreas Eckert der Historikerin Catherine Coquery-Vidrovitch ebenfalls zum Siebzigsten.

Auf der Medienseite berichtet Sebastian Esser von einer Anhörung der FDP-Bundestagsfraktion, die wissen wollte, wie es um die Pressefreiheit in Deutschland steht. Schlecht, wenn man den Experten glauben darf: Schon der Verdacht auf ein Bagatelldelikt wie "Beleidigung" reiche oft für eine Durchsuchung. Michael Hanfeld berichtet über den neuen Mitarbeiter des Schweizer Medienkonzerns Ringier, Gerhard Schröder.

Auf der letzten Seite porträtiert Gina Thomas den neuen Erzbischof von York, John Sentamu. Dirk Schümer stellt die Villa Romana in Florenz vor. Und Joachim Müller-Jung meldet den Rücktritt des koreanischen Klonpioniers Hwang von allen seinen Ämtern, weil er über die Herkunft der von ihm benutzten Eizellen gelogen hat.

Besprochen werden Isabelle Hupperts Gastspiel mit Sarah Kanes "4.48 Psychose" in Berlin ("eine Eiskönigin, die sogar aus Kanes schockgefrorenem Psychodrama Musik zaubert", schreibt Irene Bazinger), Till Franzens Film "Die blaue Grenze", eine Aufführung der Mozartoper "La Clemenza di Tito" in Aachen, eine Ausstellung von Antonello da Messinas frisch restauriertem "Heiligen Sebastian" in der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister und Bücher, darunter Germaine Krulls Fotoband "Metal" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 25.11.2005

Der schwedische Verleger Svante Weyler ist nach Kongo-Brazzaville gereist und skizziert in einer Reportage die politische Situation eines Landes, das seit Ende der Neunziger in einen Bürgerkrieg versunken ist. "Von allen Staatschefs, die der Kongo seit der Loslösung von Frankreich hatte, ist nur einer nicht ermordet worden. Er lebt im zwangsweisen Exil und wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Erschossenen Staatsoberhäuptern baut man gewöhnlich kein Mausoleum; warum brennt dann eine ewige Flamme für N'Gouabi? 'Weil er ein einfacher Mann war, mit schlichten Gewohnheiten', erklärt der Guide, der durch den ehemaligen Präsidentenpalast führt. Heutzutage reicht es schon, schlichte Gewohnheiten zu haben, um in Kongo-Brazzaville als Held verehrt zu werden."

Die erste Seite des SZ-Feuilletons ist der Berichterstattung aus dem Irakkrieg gewidmet: Sonja Zekri entdeckt in den Büchern von eingebetteten Journalisten mehr Zynismus als früher. Und Petra Steinberger entdeckt Soldatenblogs als unmittelbare Erlebnisberichte.

Weitere Artikel: Die anglikanische Kirche steht laut Alexander Menden kurz vor einem Schisma, weil sich die Bischöfe nicht über den Umgang mit Homosexuellen einigen können. Gregor Schiegl stellt die Nachfolger der Jackenbuttons und Stoßstangenaufkleber vor: Über die wikipediaartige Mitmachseite Riot.tones wollen amerikanische Bürgerrechtler bald politische Klingeltöne fürs Handy vertreiben. Jürgen Berger berichtet über das internationale Antikenfestival, das BASF dem "bewohnbaren großindustriellen Komplex" Ludwigshafen gestiftet hat.

Im Medienteil melden Hans-Jürgen Jakobs und Hans Leyendecker, dass Gerhard Schröder den Schweizer Verlag Ringier in Zukunft außenpolitisch beraten wird. Auf der Literaturseite gratuliert "tost" dem Südtiroler Lyriker Joseph Zoderer zum Siebzigsten. Jörg Magenau schreibt zum Tod des Schriftstellers und sogenannten "Konsalik des Ostens" Harry Thürk (Bücher).

Besprochen werden die Retrospektive mit Arbeiten des Magnum-Fotografen Thomas Hoepker im Münchner Fotomuseum, eine Ausstellung zu Charles Darwin im New Yorker Museum of Natural History, Joachim Schlömers "witzarme" Inszenierung von Johann Strauß' Operette "Die Fledermaus" in Bonn, Till Franzens Film "Die blaue Grenze", ein Auftritt des Countertenors Andreas Scholl in München, und Bücher, darunter Jan Philipp Reemtsmas Reden über Literatur und Kunst "Das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit" sowie ein Lesebuch zum Werk von Sophie von La Roche (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).