Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.11.2005. In der taz untersucht Gabriele Goettle zusammen mit Barbara Duden die Verstocktheit im Bauch. In der Welt empfiehlt  Georg M. Oswald statt Houellebecq und Bret Easton Ellis lieber Martin Mosebach und Bernd Cailloux. Die NZZ reist mit dem Regisseur Andrij Zholdak durch die Ukraine. Und in der SZ meint Eric Posner, dass wir den Prozess gegen Saddam Hussein möglichst bald vergessen sollten.

TAZ, 28.11.2005

Im Feuilleton schreibt heute einzig und allein Gabriele Goettle. Sie hat die Körperhistorikerin Barbara Duden besucht, die Körper- und Krankheitserfahrungen früherer Epochen erforscht. Duden erzählt zum Beispiel, wie sie auf die "Observationes clinicae" gestoßen ist, auf ärztliche Krankengeschichten, die der Stadtarzt Johannes Pelargus Storch Mitte des 18. Jahrhunderts verfasst hat. "Anfangs war mir das, was ich da las, vollkommen unverständlich. Es schien unmöglich, das Körpererlebnis von Frauen im 18. Jahrhundert erforschbar und erfahrbar zu machen. Das war mir alles total fremd, worüber diese Frauen klagten, unklar, was sie meinten, wenn sie von Geblüt und Frucht, offenen Füßen und Kälte, von Fluss und Stockung gesprochen haben. Die Frauen klagten vor dem Medicus über ihre Herzenserschütterung, den Riss am Herzen, die Kälte der Gebärmutter, die Verstocktheit im Bauch."

In der tazzwei schreibt Jan Feddersen über das neue Interesse an den 50er Jahren, die ja viel freiheitlicher als bisher angenommen gewesen sein sollen. Helmut Höge liefert seine Betrachtungen über das gestörte Verhältnis von Bauer, Agrarindustrie und Endverbraucher. Stefan Kuzmany hofft, dass die neue Bild-Kampagne ("Entmachtet Bild") die Leute nicht auf dumme Gedanken bringt.

Und noch Tom.
Stichwörter: Goettle, Gabriele, Riss, Duden, 1950er

FR, 28.11.2005

Nikolaus Merck kann mit der unter Zuhilfenahme des GZSZ-Ensembles im Brandenburger Theater "aufgesagten" Version der "Familienbande" von Rolf Hochhuth herzlich wenig anfangen und gibt Regisseur Oliver Munk Nachhilfeunterricht in Sachen Edeltrash. "Der Gonzo-Dramatiker vermischt vorsätzlich und hemmungslos reale Erlebnisse, soziale und politische Analysen mit fiktiven Geschehnissen, Obsessionen und Polemiken. Seine Hemmungslosigkeit gleicht der des Stammtisches. Wie den Männern beim Bier schwant auch Hochhuth, dass Politik aus der Verschwörung Großer gegen die Kleinen besteht, in jedem Amtswalter sieht er den Betrüger, gegen den dem kleinen Mann bloß noch Tyrannenmord zum Recht verhilft. Es ist die doppelte Tragik des Rolf Hochhuth, dass die Matadoren des Trash ihn nicht als ihresgleichen erkennen und die kompakte Majorität, der er die Stimme verleiht, so selten ins Theater sich verirrt."

Peter Iden annonciert eine Ausstellung im Frankfurter Städel, "die an Attraktivität im gegenwärtigen Angebot deutscher Museen ihresgleichen nicht hat." Es geht um die wechselseitige Beeinflussung der Kunstszenen im antiken Ägypten, Griechenland und Rom. "Für die Anverwandlung ägyptischer Motive ein besonders anmutiges Beispiel ist ein in Etrurien gefundener Löffel, der geformt ist als schlanker Körper einer Schwimmerin, die mit flach ausgestreckten Armen im Wasser eine Schale vor sich her zu treiben scheint. In der frühen ägyptischen Fassung wirkt die schwimmende Frau noch relativ starr - tausend Jahre später wird sie von dem etruskischen Nachschöpfer so animiert, dass man meint urteilen zu können, wie technisch perfekt ihr Beinschlag ist."

In Times mager genießt Hilal Sezgin asynchrone S-Bahn-Musik. Auf der Medienseite berichtet Daland Segler vom Fernsehfilm-Festival Baden-Baden. Besprochen wird außerdem William Forsythes neues Tanzstück "Clouds After Cranach", das im Bockenheimer Depot in Frankfurt Premiere hatte.

Welt, 28.11.2005

Der Autor Georg M. Oswald polemisiert gegen neueste Tendenzen in der Literatur, die er in Autoren wie Houellebecq und Bret Easton Ellis verkörpert sieht: "Neu ist die Tendenz, dass Autoren, die eigentlich der ernsthaften Literatur zugerechnet werden, ihre Romane tunen, um sie gegen die aufgemotzten Spitzenprodukte der Trivialliteratur besser aussehen zu lassen. Lange Zeit war es verpönt, sich in der E-Literatur mit Science Fiction oder dem Übersinnlichen abzugeben, doch seit Pop ein literarisches Thema wurde, gilt es plötzlich als tres chic, diese Formen aufzunehmen, was jedoch, und hier liegt das Problem, keineswegs gelungene Ergebnisse garantiert." Als Gegen- und Heilmittel empfiehlt Oswald die Autoren Martin Mosebach und Bernd Cailloux.

Weitere Artikel: Jörg Taszman berichtet, dass junge russische Filmregisseure - meist Abkömmlige der einstigen Kultur-Nomenklatura - mit patriotischen Historienfilmen, die russische Seele erobern. Matthias Heine resümiert eine Tagung der Akademie der Wissenschaften Berlin-Brandenburg zur Frage "Welche Religion braucht die Gesellschaft?" Wieland Freund kommentiert die Übernahme des frommen und erfolgreichen Gerth-Verlags durch Bertelsmann. Uta Baier schreibt zur Wiedereröffnung des renovierten Bode-Museums. Sven Felix Kellerhoff meldet die Veröffentlichung der Verhörprotokolle Galileos durch den Braunschweiger Archiv-Verlag.

Besprochen werden Rolf Hochhuths "Familienbande" in Brandenburg und Claus Peymanns Inszenierung der "Courage" in Berlin und die Ausstellung " Rückkehr ins All" in der Hamburger Kunsthalle.

Im Forum porträtiert Mariam Lau einen neuen Typus des "konstruktiven Konservativen", der sich in Figuren wie Udo di Fabio in Deutschland und dem Autoren Theodore Dalyrymple in Großbritannien verkörpere - und sie zitiert Dalyrymple, der die Intellektuellen für die gesellschaftliche Misere der Unterschichten mit verantwortlich macht: "Sie weigern sich zu sehen, was sie mit ihrem ganzen Quatsch von der 'Entfremdung' und Selbstverwirklichung angerichtet haben. Insgeheim halten sie ihre Mitbürger nicht wirklich für Menschen, sondern eher für Wilde, von denen man nichts erwarten kann. Eine gute Gesellschaft bestimmt sich nicht über Entfremdung, sondern über die Fähigkeit zur Teilhabe. Sie haben das Ideal der Aufklärung längst aufgegeben. Ich nenne das Verrat."

NZZ, 28.11.2005

Barbara Lehmann ist mit dem Regisseur Andrij Zholdak in die Ukraine gereist, nach Kiew und Charkiw, um zu ergründen, warum seine existenzielle Wut in der Ukraine zündet, aber nicht im Westen, wie sie meint. "'Der Erdball ist eine nicht steuerbare Pest, ein schwarzes Chaos', sagte Zholdak im Zug nach Charkiw. 'Viele Künstler der Welt schlagen Alarm. Ich würde gerne eine Aufführung über den ganzen Menschen machen. Doch meine Antennen, die Signale, die ich erhalte, erlauben mir das nicht.' Vor den Zugfenstern tauchten ausgelaugte Felder, veraltete Fabrikanlagen und zerfallende Häuser auf. Es war, als sei ein böser Gott mit einem giftigen Pflug über die fruchtbare schwarze Erde gefahren."

"Inmitten architektonischer Banalität und urbanistischer Verfehlungen wirkt das am vergangenen Donnerstag eröffnete Wissenschaftsmuseum 'Phaeno' von Zaha Hadid wie die Botschaft aus einer anderen Welt", schwärmt Hubertus Adam über die neue Wolfsburger Architektur-Attraktion: "Schlicht grandios ist das leicht aufgefächerte Vierendeel-Stahltragwerk, das die Decke zwischen den fünf tragenden Gebäudekernen des Ausstellungsgeschosses stützenfrei überspannt. Realisiert werden konnte die aufwendige Bauskulptur nur dank dem neu im Hochbau verwendeten 'selbst verdichtenden Beton'. In den Nischen und Kratern zwischen den Ebenen, aber auch bei den Kegelfüßen des höhlenartigen Erdgeschosses ist es gelungen, den Beton in jede denkbare Form zu zwingen, auch wenn Risse bezeugen, dass dabei die Grenzen des heute Machbaren erreicht wurden."

Weiteres: Paul Jandl berichtet vom Erich-Fried-Symposium über "Literatur und Politik" in Wien. Thomas Schacher war beim Luzerner Klavierfestival. Manfred Papst gratuliert dem Historiker Urs Bitterli zum Siebzigsten. Besprochen werden William Forsythes neue Performance "Clouds after Cranach" in Frankfurt und das Geburtstagskonzert des Zürcher Kammerorchesters.

FAZ, 28.11.2005

Heinrich Wefing findet im Aufmacher feierliche Worte für die Wiedereröffnung des Bode-Museums auf der Berliner Museumsinsel. Malte Herwig stellt die Frage, ob der in Österreich als Revisionist inhaftierte Historiker David Irving überhaupt noch ein Revisionist ist. Elke Heidenreich stellt in einer dementsprechenden Weihnachtsserie ihr Lieblingsmärchen vor - "Die Nachtigall" von Hans Christian Andersen. Lucius Grisebach schreibt zum Tod des Amsterdamer Museumsdirektors Edy de Wilde. Andreas Platthaus meldet, dass der Historiker Jürgen Kocka den Bochumer Historikerpreis erhalten hat. Oliver Jungen gratuliert dem Mediävisten Heinz Thomas zum Siebzigsten. Martin Otto schreibt zum Tod des dänischen Filmemachers Erik Balling, der als Antieuropäer und Kopf der Olsen-Bande hervorgetreten ist.

Auf der Medienseite führt Michael Hanfeld in die Wirrnisse der ARD-Personalpolitik ein. Gemeldet wird auch, dass ARD und ZDF überlegen, in den Nachrichtenkanal Euronews einzusteigen. Und Judith Lembke berichtet vom Bundespresseball.

Auf der letzten Seite besucht Manfred Lindinger das neue Phaeno-Museum in Wolfsburg, das die Menschen zu spielerischem Umgang mit naturwissenschaftlichen Phänomenen einlädt. Gina Thomas schreibt zum Tod der britischen Fußballikone George Best, der es auch vor der Aufhebung der Schließungszeiten für Pubs schaffte, sich zu Tode zu saufen. Und Heinrich Clarke porträtiert den ehemaligen Sicherheitsberater der amerikanischen Regierung Richard Clarke, der seine außenpolitischen Ansichten nun im Thriller "The Socrpion's Gate" mitteilt.

Besprochen werden der dritte Teil von William Forsythes neuer Tanzperformance "Atmospheric Studies" in Frankfurt (die Julia Spinola als eine "bestechend stringente und in allen Proportionen bewundernswert ausbalancierte autonom-tänzerische Form" feiert), Hochhuth- und Brecht-Inszenierungen in Berlin und Brandenburg und Sachbücher, darunter eine Biografie über Frank Zappa.

In der Sonntags-FAZ analysiert die Publizistin Ulrike Ackermann die Seelenlage der Deutsche unter der neuen Regierung: "Allmählich gerät der Mythos vom permanent wachstumsfähigen Versorgungsstaat ins Wanken - wie auch der Wahlausgang gezeigt hat. Die große Koalition spiegelt zumindest die Ambivalenz der deutschen Seele wider: Sie steht für die Einsicht in die Notwendigkeit grundlegender Veränderungen und zugleich für die Angst davor."

SZ, 28.11.2005

Der Prozess gegen Saddam Hussein bringt alle politischen Lager in den USA in Verlegenheit, notiert der Rechtswissenschaftler Eric Posner in einem Artikel, der ursprünglich im Online-Magazin openDemocracy erschienen ist. Die Rechten fürchten, dass nun alle Staatschefs dem Völkerrecht unterliegen, die Linken schmerzt, dass er nur durch einen Bruch des Völkerrechts möglich wurde. "Das Problem ist also, dass man den Prozess gegen Saddam nicht verurteilen, ihn aber auch nicht vorbehaltlos unterstützen kann, ohne das Herzstück des Völkerrechts, die UN-Charta, zu entwerten. Was tun? Auch hier kann der Eichmann-Prozess als Vorbild dienen: Einen Prozess, der mit sich widersprechenden Normen nicht vereinbar ist, sollte wir am besten bald vergessen, und wahrscheinlich werden wir das auch." (Wer war noch mal Eric Posner?)

Holger Liebs unterhält sich mit dem fröhlichen aber geheimniskrämerischen Kuratorentrio der Berliner Biennale, Massimiliano Gioni, Ali Subotnick und Maurizio Cattelan (der die Zunge wie eine Eidechese herausschnellen lassen kann), und erfährt immerhin das: "Viele der Künstler sind aus Berlin; von der Idee des kuratorischen Globetrottertums wollten wir Abstand nehmen. Wir haben lieber an bestimmten Orten genauer nachgeschaut."

Weitere Artikel: Tobias Kniebe sieht für die Zukunft des durch schlechte Filme und die DVD bedrohten Kinos dunkelgrau bis schwarz. Fritz Göttler registriert im Anschluss zumindest in den USA einen Trend zur Veredelung der Abspielstätten. Johannes Willms zitiert den französischen Philosophen Alain Finkielkraut ("Die Undankbarkeit"), der sich in der der israelischen Zeitung Haaretz (hier die französische Übertragung) zur ethnischen Komponente der Unruhen in den Banlieues geäußert hatte. Susan Vahabzadeh resümiert das das Internationale Festival der Filmhochschulen in München, auf dem Studenten aus aller Welt eine Woche lang ihre Kurzfilme gezeigt haben. Adolph von Menzels "Nachmittag im Tuileriengarten", dass im Sommer den Nachfahren der jüdischen Eigentümer zurückgegeben wurde, bleibt in London und wird nur vorübergehend nach Dresden zurückkehren, berichtet Christiane Kohl. "lüb." weiß, dass die Italiener die internationale Heizpilzproduktion dominieren und nun einen Kühlpilz entwickelt haben.

Im Medienteil porträtiert Uta Gruenberger die Kollegin Frances Schoenberger, die sich seit mehr als 30 Jahren in Hollywood als Journalistin und Beraterin etabliert hat.

Besprochen werden die Uraufführung des Tanzstücks "Clouds after Cranach" durch die Forsythe Company im Bockenheimer Depot in Frankfurt, Xavier Le Roys Inszenierung von "Mouvements für Lachenmann - Inszenierung eines Konzertabends" beim Festival Wien Modern, Arnd Uhles Habilitationsschrift "Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität" über die kulturellen Wurzeln des Grundgesetzes, Gerd Mankowitz' Fotoband über die "The Rolling Stones" aus den Jahren 1965 bis 1967, Stefan Fingers "blutleeres" Buch über "Franz Josef Strauß" sowie Remco Camperts Roman (hier eine Leseprobe) "Eine Liebe in Paris" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).