Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.03.2006. Zum Tod Slobodan Milosevics schreiben Richard Swartz in der SZ, Beqe Cufaj in der FAZ, Bora Cosic in der NZZ und im Tagesspiegel. Der Standard bringt den zweiten Teil der Rede von Jürgen Habermas, der eine Menge Forderungen an Europa stellt. Die Berliner Zeitung verfolgte einen Dialog der Kulturen in Kopenhagen, der mehr ein Monolog war.

NZZ, 13.03.2006

"Sein plötzlicher Tod hat seine Verurteilung unmöglich gemacht, und es fällt einem schwer, den eigenen Zorn zu bändigen, wenn man an Milosevics Zynismus und seine Verhöhnung von Menschen und Fakten denkt", schreibt der serbische Schriftsteller Bora Cosic zum Tod des früheren serbischen Diktators: "Slobodan Milosevic ist unzweifelhaft der Urheber der Untaten von Vukovar, Zvornik und Srebrenica, die natürlich durch seine Entsandten, professionelle Henker und Mörder, vollstreckt wurden. Er hat aber Ähnliches selbst getan in der Belgrader Ucicka-Straße, wo er wohnte. Seine Taten kommen mir heute vor wie jene eines Irren, der im eigenen Haus das Geschirr zerschlägt, die Bücher und Familienfotos zerreißt und schließlich alles mit Benzin übergießt und in Brand steckt. Unter seiner Herrschaft verlor die Welt tatsächlich ihr Gleichgewicht, wie zu Hamlets Zeiten. Es ist kein Wunder, dass sich die Bewohner dieser Gegend wie Irre fühlen und manchmal auch wie solche agieren."

Weiteres: Anne Huffschmid hat in Buenos Aires den Ort besucht, der zu Junta-Zeiten den argentinischen Militärs als Geheimgefängnis gedient hat und nun zu einer Stätte der Erinnerung werden soll. Sieglinde Geisel liest das neue Merkur-Heft. Kurt Malisch meldet den Tod der Sopranistin Anna Moffo.

Besprochen werden drei Mozart-Ausstellungen in Salzburg, Andrew Niccols Film über einen Waffenhändler "Lord of War" und Michael Thalheimers Inszenierung von Gerhart Hauptmanns "Rose Bernd" in Hamburg.

Standard, 11.03.2006

Der Standard druckte am Samstag den zweiten Teil von Jürgen Habermas' Rede zur Verleihung des Bruno-Kreisky-Preises. Nachdem er im ersten Teil die Rolle des Intellektuellen definiert und ihnen einen "avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen" bescheinigt hatte, zeigt er im zweiten Teil, was genau das ist, indem er über die Zukunft Europas nachdenkt. Die Europäer sollten sich "zu einer Reform aufrappeln, die der Union nicht nur effektive Entscheidungsverfahren, sondern einen eigenen Außenminister, einen direkt gewählten Präsidenten und eine eigene Finanzbasis verschafft. Diese Forderungen könnten der Gegenstand eines Referendums sein, das sich mit der nächsten Wahl zum europäischen Parlament verbinden lässt. Die Vorlage gälte als angenommen, wenn sie die 'doppelte Mehrheit' der Staaten und der Stimmen der Bürger auf sich vereinigt. Gleichzeitig würde das Referendum nur die Mitgliedstaaten binden, innerhalb deren sich jeweils eine Mehrheit der Bürger für die Reform entschieden hat. Europa würde sich damit vom Modell des Geleitzuges verabschieden, worin der Langsamste das Tempo angibt."

Welt, 13.03.2006

Der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz hält eine Veröffentlichung der Akten über die Opfer des Nationalsozialismus für unangebracht, wie er im Gespräch mit Sven Felix Kellerhoff betont. Der leitende Historiker des Holocaust-Museums in Washington, Paul Shapiro, hatte den Internationalen Suchdienst in Arolsen aufgefordert, die 25 Kilometer Dokumente unverzüglich ins Netz zu stellen. "Ich kann kein öffentliches Interesse an den Leidensgeschichten und den oft genug konstruierten Haftgründen ganz konkreter NS-Opfer erkennen. Und was die Informationsfreiheit angeht: Da sind die US-Behörden durchaus nicht immer so offen. Als ich in den National Archives in Washington war, konnte ich Unterlagen über das Privatleben eines deutschen Ministerpräsidenten vollkommen frei benutzen - wenn ich aber etwas wissen wollte über einen GI, der im Vollrausch seinen Jeep in den Straßengraben gefahren hatte und dafür acht Tage Bau bekam, war die 'nationale Sicherheit' der USA betroffen: Ich durfte die Akte nicht sehen."

Michael Thalheimer hat dem Rezensenten Stefan Grund mit seiner Inszenierung der "Rose Bernd" am Hamburger Thalia Theater auf überwältigende Weise Glauben an den Humanismus ausgetrieben. "Als Gerhart Hauptmann vor gut hundert Jahren das Drama 'Rose Bernd' schrieb, hatte es fünf Akte, von denen jeder etwa 30 Minuten lang war. Nun hat es nur noch zwei, die wir ohne Umschweife als Geschlechtsakte von je 45 Minuten mit dramatischen Höhepunkten bezeichnen dürfen, denn Rose Bernd ist Michael Thalheimer in die Hände gefallen, dem Quentin Tarantino des deutschen Staatstheaterbetriebes ... In dieser gewaltigen Aufführung (auf schlichtem, gen Publikum geneigten Holzboden in Salamiform mit einsam aufragendem Vierkantholz als Marterpfahl) ist alles und jeder gewalttätig. Selbst der schlesische Dialekt kriegt auf die Fresse."

Weitere Artikel: Dass der spanische Künstler Santiago Serra Abgase in die ehemalige Stommelner Synagoge bei Köln leitet, hält Marion Leske für "anmaßend", der Zentralrat der Juden in Deutschland für "niveaulos" (Bilder der Aktion). Matthias Heine kritisiert das "vulgär-manichäische Weltbild" der Kritiker des Regietheaters. Eckhard Fuhr schlendert über die Waffenmesse in Nürnberg und sieht viel Tradition. Klaus Geitel schreibt zum Tod der Soparanistin Anna Moffo. Gerahrd Midding porträtiert die Stummfilmmimin Brigitte Helm. Und Hellmuth Karasek sinniert in seiner Kolumne über die derzeitige Schwäche des Kinos.

Besprochen werden die fünfte Staffel der Mafia-Serie "Die Sopranos" auf DVD und die DVD-Edition der sechsteiligen Samurai-Serie "Lone Wolf and Cub".

Berliner Zeitung, 13.03.2006

Arno Widmann hat in Dänemark einem "Dialog" zwischen Dänen und Muslimen über den Karikaturenstreit zugehört, der keiner war. "Ein junger Mann aus dem Publikum stellte die Frage, ob man nicht Toleranz vor allem als die Fähigkeit definieren müsse, Beleidigungen hinzunehmen, als die Fähigkeit, über die Beleidigung nachzudenken, statt zurückzuschlagen. Er bekam keinen Applaus. Auf der ganzen Tagung fragte niemand die Prediger, wie sie dazu kämen, immer vom Islam und von den zwei Milliarden Gläubigen und ihren Gefühlen zu sprechen als handele es sich um klar definierte Größen, als wüssten sie wirklich, was im Kopf eines jeden Moslems vorgehe."

FAZ, 13.03.2006

Der kosovarische Autor Beqe Cufaj schreibt zum Tod von Slobodan Milosevics (der nach neuesten Meldungen an einem Herzinfarkt starb): "Sein Ende war vorhersehbar. Milosevic hat sich selbst umgebracht. Wohl nicht mit Gift, wie die Autopsie vermutlich zeigen wird, aber mit dem Wissen, dass er seine Zelle nicht mehr lebend verlassen würde. Er musste aufgeben, und er wusste wieder einmal, wann es soweit war - genauso wie in Slowenien, Kroatien, Bosnien und im Kosovo. Nur so konnte er die Schlacht seines Lebens am Ende als Gewinn verkaufen. Was hat er diesmal gerettet, was war diesmal das letzte, was ihm geblieben war? Es ist die Genugtuung des Verbrechers, der seinem Urteil entgeht."

Weitere Artikel: Michael Hanfeld reiste nach Kopenhagen und besuchte unter anderem den Imam, der die Karikaturenaffäre ins Rollen brachte, indem er das Karikaturen-Dossier, das er in der islamischen Welt herumreisen ließ, mit ein paar Schmähzeichnungen frisierte, die gar nicht in Jyllands Posten erschienen waren. Michael Althen kommentiert das jähe Ende des mit hochfliegenden Plänen gestarteten Diskoclubs "Goya" in Berlin. Jürgen Kesting schreibt zum Tod der Sopranistin Anna Moffo. Andreas Rossmann berichtet von der Eröffnung der lit.Cologne in Köln, wo Andreas Rosenfelder einen Auftritt Bret Easton Ellis' beobachtete.

Auf der Medienseite kritisiert Tilmann Lahme, dass der Mörder Frank Schmökel in einer ARD-Reihe über besonders abscheuliche Verbrechen schildern darf, welche Gefühle er beim Mordversuch an einer Elfjährigen hatte.

Auf der letzten Seite berichtet Gina Thomas vom Londoner Plagiatsprozess gegen den Bestsellerautor Dan Brown, bei dem die Kläger offensichtlich schlechte Figur machen. Andreas Rosenfelder verfolgte eine Bonner Diskussion zum Thema der Eliten, in der der fruchtbare Autor Herfried Münkler, allen, die dazu gehören wollen, eine asketische Lebensweise ans Herz legte. Und Irene Bazinger porträtiert die Kunsttherapeutin Gerlinde Altenmüller, die das Behindertentheater Thikwa gründete.

Besprochen werden Gerhart Hauptmanns "Rose Bernd" in der Regie Michael Thalheimers am Hamburger Thalia Theater (Gerhard Stadelmaier fühlte sich soweit nicht belästigt), eine durch die Lande ziehende Kunstaktion Bazon Brocks unter dem Titel "Lustmärsche Gewaltmärsche", ein Gastauftritt der Koreanischen Nationaloper in Frankfurt, George Balanchines Ballett "Mozartiana" in Salzburg und Sachbücher, darunter Neues aus der Diskussion zwischen Philosophen und Hirnforschern (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 13.03.2006

Zum Tod Slobodan Milosevics bringt die taz einen bösen Titel (hier als pdf). Auf der Kulturseite plädiert Uwe Rada für eine Kulturhauptstadt Görlitz und Christoph Schurian für eine Kulturhauptstadt Essen - die Entscheidung für das Jahr 2010 fällt übermorgen in Brüssel. Christian Semler hofft, dass die Archivbestände des im Zweiten Weltkrieg gegründeten Internationalen Suchdienstes (ITS) in Bad Arolsen der Forschung zugänglich gemacht werden. Und Esther Buss besuchte eine Ausstellung der kanadischen Künstlergruppe General Idea im Münchner Kunstverein. In tazzwei porträtiert Sandra Hofmeister den deutschen Designer Konstantin Grcic, der im Münchner Haus der Kunst seine eigene Retro kuratiert.

Und Tom.

Tagesspiegel, 13.03.2006

Bora Cosic erinnert sich an Slobodan Milosevic, "den großen Fisch unseres Unglücks", und fragt sich, warum die Serben ihn so geliebt haben. "Diese Menschen, die sich durch so viel Geist auszeichnen, die einfallsreich und agil und fähig sind, manchmal wunderbar lustig, wählen meistens den falschen Weg, die schlechteste Einbahnstraße, die an irgendeiner Wand endet. Deshalb war dieser Mann meinen Leuten so wichtig, weil er alle Kennzeichen ihrer Seele in sich vereinigte - auf zermalmende, unglückliche und selbstmörderische Art und Weise. Es kam mir an diesem Tag in den engen Sitzreihen der Haager Justizsäle vor, als würde ich meine gesamte Ethnie beobachten, wie sie in der ihr eigenen Art, schleimig, sich windend und zappelnd, unfassbar bleibt."

FR, 13.03.2006

Peter Michalzik feiert enthusiastisch Schirin Khodadadians "Räuber"-Inszenierung in Kassel, die ihm eine ganz neue Lesart des Stückes darbot: "Die 'Räuber', so wie Schirin Khodadadian sie sieht, sind ein Schlüsselwerk nicht des deutschen Sturm und Drang und schon gar nicht des deutschen Idealismus, sondern eines furchtbaren, ausweglosen, bitteren Nihilismus. Tod und Endzeit stecken von Anfang an in der deutschen Seele. Und was alles in diesem Schiller steckt! Khodadadian stülpt ihm nichts über, sondern liest mit heutigen Augen."

Weiteres: Sebastian Moll berichtet vom "chaotischen und planlosen" Wiederaufbau des zerstörten New Orleans: "Umgestürzte Bäume liegen noch immer so auf Dächern, wie sie am 28. August 2005 darauf gefallen sind. Daneben wühlen Anwohner in den Ruinen ihrer einstigen Existenz und suchen nach einem Anknüpfungspunkt für einen Neubeginn." Hans-Klaus Jungheinrich schreibt einen Nachruf auf die Primadonna Anna Moffo. In Times mager bewundert Christian Thomas Schönheit und Nutzen von Brückenpfeilern an der ICE-Trasse Frankfurt-Kassel. Besprochen wird das Gastspiel "The Wedding" der Nationaloper Korea an der Frankfurter Oper.

SZ, 13.03.2006

Der Autor Richard Swartz hält die symbiotische Beziehung des Ehepaars Milosevic für eine Spezialität des Balkans. "Dem serbischen Paar Slobodan Milosevic und Mira Markovic entsprechen in Rumänien das Paar Nicolae und Elena Ceausescu, in Albanien Enver und Nadschmije Hodscha, in Bulgarien Todor Schiwkow und seine Tochter Ludmilla. Wir sehen einen Mann an der Macht, doch im Hintergrund befindet sich eine Frau, und eigentlich ist sie es, die regiert. Blutsbande sind wichtiger als alle anderen Loyalitäten, sowohl gegenüber Menschen wie gegenüber Ideen. Diese innige Gemeinschaft der Macht ist geprägt von einer Art leichtem Wahnsinn, von Nepotismus, allerhand bizarren und phantastischen Projekten, von Astrologie, Okkultismus und, falls notwendig, von einem Fanatismus, der die Gewalt nicht scheut."

Weitere Artikel: Ijoma Mangold widmet Karl Heinz Bohrer, Herausgeber der Monatszeitschrift Merkur, ein empathisches Porträt, nachdem er ihn in seiner Londoner Wohnung besucht hat. Jonathan Fischer erfährt von Oliver Hardt, Regisseur der Fernsehdokumentation "Black Deutschland", wie man als Schwarzer im Deutschland der Sechziger aufwuchs: "Den einzigen medialen Anknüpfungspunkt bot damals Roberto Blanco." Helmut Mauro schreibt zum Tod der amerikanischen Sopranistin Anna Moffo. Im Literaturteil sendet Jürgen Busche der Historikerin Ruth Altheim-Stiehl Glückwünsche zum Achtzigsten.

Besprochen werden die "sinnlich-opulente" Ausstellung "UN Studio" mit Projekten von Ben van Berkel und Caroline Bos im Frankfurter Architekturmuseum, die "klug gegliederte" Werkschau des klasssizistischen Malers Jean Auguste Dominique Ingres im Louvre, das Auftaktkonzert der Europatournee von Pink-Floyd-Gitarrist David Gilmour, die ersten beiden Jahrgänge der Westernserie "Bonanza" auf DVD und Bücher, darunter Elke Schmitters Gedichtsammlung "Kein Spaniel", Peter von Matts Gedanken zu Theorie und Praxis der "Intrige" sowie Dirk van Laaks Studie zum deutschen Imperialismus "Über alles in der Welt" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).