Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.03.2006. In der SZ sieht der Schriftsteller Jean Rouaud die französischen Studentenproteste als "nostalgisches und fantasmagorisches Remake" der 68-er Zeit. Der Soziologe Alain Touraine erklärt sie dagegen in der FAZ als Reaktion auf eine bonapartistische Politik. In der Berliner Zeitung fragt Richard Wagner: Wie europäisch ist die Ukraine? Die taz stellt den Musiker Qubais Reed Ghazala vor, der mit dem Schatten seiner Hand Platinen zum Singen bringt. Die NZZ hält gemeinsame Antarktis-Expeditionen von Israelis und Palästinensern für sinnlos. Die Welt bringt eines der letzten Interviews mit Stanislaw Lem, der vor zuviel Intelligenz warnt: "Im Grunde ihres Wesens ist sie ungesund."

Berliner Zeitung, 29.03.2006

In einem kurzen Kommentar widerspricht der Schriftsteller Richard Wagner seinem ukrainischen Kollegen Juri Andruchowytsch, der in seiner Leipziger Rede (mehr hier) schwere Vorwürfe gegen Europa erhoben hat: "Andruchowytsch betätigte sich als Sprachrohr seines Volkes. Dieses, sagte er uns, habe einen legitimen Anspruch auf den Zugang zur erfolgreichen EU, individuell und kollektiv, durch Einreisefreiheit und Mitgliedschaft. Die Forderungen sind bekannt, sie kommen auch aus anderen armen Ländern mit gescheiterten Staatsideen. Dass die EU ihnen ausgesetzt ist, hat sie nicht zuletzt sich selbst zu verdanken. Es war keine gute Strategie, die Union nach 1989 mit Europa gleichzusetzen. Dass weder die Ökonomie noch die Gesellschaft oder gar die Institutionen der Ukraine auch nur annähernd dem Instrumentarium der EU entsprechen, spielt für Andruchowytsch keine Rolle. Er beruft sich auf die plakative Aussage eines seiner Vorgänger, Iwan Franko. 'Auch wir sind Europa', habe jener gelehrte Mann gesagt. Hat er aber gesagt, wodurch?"

NZZ, 29.03.2006

Peter Schäter blickt kritisch auf die israelisch-palästinensische Dialogindustrie, die vor allem von Europa mit Millionenbeträgen am Laufen gehalten wird, inzwischen aber von immer mehr palästinensischen Künstlern abgelehnt wird: "Weil sich die Gesprächspartner in Israel oder den besetzten Gebieten nicht treffen dürfen, fliegt man sie ins Ausland. Eine gemeinsame Antarktis-Expedition, mit deren Etat ein ganzes Flüchtlingslager monatelang ausgekommen wäre, verursachte vor zwei Jahren Medienrummel. 'Während in ihrer Heimat der Konflikt brodelt', berichtete damals die deutsche Tagesschau, 'haben vier Israeli und Palästinenser im ewigen Eis ein Zeichen für Völkerverständigung gesetzt.' Dieselbe Wirkung wird erzeugt, wenn ein Kosovo-Albaner und ein Serbe in Zürich gemeinsam trinken gehen."

Weiteres: Samuel Herzog schreibt zum Tod des schottischen Künstlers Ian Hamilton Finlay. Gemeldet wird der Tod des Regisseur Tom Toelle.

Besprochen werden die Ausstellung zu Pierre Bonnard im Musee d'Art moderne de la Ville de Paris, eine Schau zum Werk des Architekten Konstantin Melnikow, Margriet de Moors Roman "Sturmflut", Shirley Hazzards Roman "Das große Feuer", Klaus Garbers Spurensuche "Das alte Buch im alten Europa" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 29.03.2006

Abgedruckt ist ein Auszug aus einem Interview mit Stanislaw Lem über das Altern, den Tod und Intelligenz: "Wissen Sie, Intelligenz ist ein Rasiermesser: Man kann sie sinnvoll nutzen, sich damit aber ebenso gut auch die Gurgel durchschneiden. Im Grunde ihres Wesens ist sie ungesund." Das ganze Interview, das Patrick Grossmann im November mit Lem führte, erscheint heute in der Zeitschrift Galore.

Weitere Artikel: Christoph Gröner erklärt, wie das neue Urheberrecht Kopien zum Privatgebrauch regelt: "Wenn man könnte, dürfte man kopieren. Da man nicht kopieren kann, darf man es auch nicht." Anlässlich der Ausstellung "Bayerns Krone 1806" porträtiert Berthold Seewald den Militär Karl Wilhelm von Heideck, der "maßgeblichen Anteil hatte an jenen Händeln und Jahren, in denen Bayern wurde, was es ist". Morgen wird in Paris Kaija Saariahos zweite Oper "Adriana Mater" von Peter Sellars und Esa-Pekka Salonen uraufgeführt. Im Interview erzählt die finnische Komponistin, warum sie in Paris lebt: "In Paris existiert alles nebeneinander, das entspannt mich total. In Finnland wollte man mich immer in eine Schublade stecken, im postseriellen Freiburg auch, das hat mich genervt." Die MaerzMusik war ein riesiger Publikumserfolg, resümiert Kai Luehrs-Kaiser, nur etwas richtungslos: Geboten wurde "alles was 'Plong' macht". Hannes Stein berichtet unangenehm berührt von einer Agenturmeldung, wonach Imre Kertesz den Stil von Jorge Sempruns Buchenwald-Roman "Die große Reise" kritisiert hat.

Besprochen werden ein Konzert von Adam Green in Hamburg, der Sharon-Stone-Film "Basic Instinct 2", eine Ausstellung der unbekannten Zeichnungen von Thomas Schütte in der Kunsthalle Baden-Baden, die Ausstellung "Geld oder Leben" im Frankfurter Museum für Kommunikation und eine Aufnahme von Brahms 1. Klavierkonzert d-moll mit Chrystian Zimerman.

SZ, 29.03.2006

Dem französischen Schriftsteller Jean Rouaud ist das "generationenübergreifende Einverständnis", das sich bei den Pariser Protesten zeigt, unheimlich. "Die argumentative Armut im theoretischen Diskurs der Jungen verhält sich umgekehrt proportional zu ihrem Markenbewusstsein und ihrer Kenntnis in Sachen technischer Innovationen. Bei dem, was ihnen wie ein Mangel an Streitkultur erscheint, kommen ihnen ihre gütigen Eltern einmal mehr zu Hilfe, bieten ihren geliebten Kindern ihren Dienst an und reden an ihrer Stelle." Dies zu akzeptieren, ist ein Fehler, glaubt Rouaud, denn in Wahrheit sind die Alten der Feind, der "auf seinen Pfründen" hockt.

Weitere Artikel: Georg Klein würdigt in seinem Nachruf den Schriftsteller Stanislaw Lem als "großes futurologisches Mammut". Ingo Petz findet den weißrussischen Widerstand "viel flexibler, selbstironischer und progressiver" als die meisten Westeuropäer denken. Alexander Kissler beschreibt, wie Bioethik-Experten Kant instrumentalisieren. Dirk Peitz stellt das britische Musikprojekt Underworld vor, das sich "ins Überall des Internet verflüssigt" hat. Kristina Maidt-Zinke berichtet von den Aktivitäten anlässlich des 200. Geburtstags der Liedsammlung "Des Knaben Wunderhorn" in Heidelberg. Andrian Kreye weiß, dass die Neuauflage des "epochalen" Albums "My Life in the Bush of Ghosts" von Brian Eno und David Byrne ohne den Koran-Titel "Qu'ran" erscheint. Zu lesen ist schließlich eine Gratulation an den britischen Komponisten Sir Richard Rodney Bennett zum siebzigsten Geburtstag und die Meldung vom Tod des Punkrockers Nikki Sudden.

Besprochen werden "Basic Instinct 2" unter besonderer Berücksichtigung des "unwiderruflichen Siegs" von Catherine Tramell alias Sharon Stone, Jan Tättes "intelligente Ehebruchanbahnungskomödie" "Fasten Seat Belts" am Bochumer Schauspielhaus, das Disney-Winterabenteuer "Antarctica - Gefangen im Eis", Hans Pfitzners Oper "Das Herz" am Würzburger Mainfranken-Theater, eine Ausstellung über Melchior Lechner, den "Design-Diener Stefan Georges", im Westfälischen Landesmuseum Münster und Bücher, darunter Patrick Modianos neuer Roman "Unfall in der Nacht" und eine Studie über die "Kleine Eiszeit" und die kulturellen Folgen des Klimawandels (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 29.03.2006

In der zweiten taz stellt Ariel Magnus den Musiker Qubais Reed Ghazala vor, der nach eigener Auskunft "mit der Melodie des Eiswagens in der Kulturleere des Mittleren Westens aufgewachsen" ist und vor 40 Jahren zufällig das "circuit bending" (hier ein paar Stücke von Bill T. Miller) entdeckte. "40 Jahre ist es nun her, seitdem der Amerikaner einen kleinen Akkuverstärker ohne Hinterklappe in einer Schublade liegen ließ, dieser mit irgendeiner Metallfläche einen Kurzschluss verursachte und plötzlich synthesizerähnliche Klänge von sich gab. Damals waren Synthesizer seltsame und teure Dinge, die der mittellose Teenager nur aus dem Radio kannte." Mittlerweile hat Ghazala Hunderte von Kurzschlussinstrumenten gebaut, darunter Klassiker wie die Photonen-Klarinette oder das Aleotron. "Manche seiner Instrumente werden mit bloßen Händen gespielt, bei anderen genügt der Schatten der Hand, um die Platinen zum Singen zu bringen."

Robert Misik glossiert eine Entscheidung des Nationalrats, in Österreich künftig international gängige akademische Titel einzuführen, was den Kommerzialrat an den Rand des Aussterbens bringen wird. Stefan Wirner schreibt den Nachruf auf den polnischen Autor Stanislaw Lem, "Wissenschaftler, Aufklärer und Skeptiker in einer Person".

Besprochen werden der Thriller "Basic Instinct 2", der auf "schlimme Weise Unglaubwürdigkeit mit Vorhersehbarkeit" kombiniert und der Briefwechsel zwischen Wolfgang Koeppen und Siegfried Unseld. (siehe unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Und hier Tom.

FR, 29.03.2006

In seinem Nachruf würdigt Manfred Geier die "produktive Einbildungskraft" des großen Stanislaw Lem, der die Quelle seiner Einfälle nach eigenem Bekunden nicht gekannt habe. "In der Literaturwissenschaft selbst seines Heimatlandes taucht der erfolgreichste polnische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts kaum auf, weil seine wissenschaftlichen Kenntnisse sich einer literarischen Würdigung entziehen; für viele Science-Fiction-Fans, die nur am Plot oder an technischen Erfindungen interessiert sind, wirken Lems philosophische Reflexionen störend; und für die meisten Naturwissenschaftler ist das Ganze vor allem ein literarisches Spiel, das nur parasitär am Wissenschaftsprozess teilnimmt."

In Times mager glossiert Christian Thomas die "Frankfurter Traktatgeneration", die man daran erkenne, "dass sie Mutter Natur anruft, um aus der demografischen Situation einen Ausweg zu finden", und die 68er-und 78er-Ethnie dafür geißelt, "vorm Bauzaun von Brokdorf demonstriert" zu haben "anstatt Kinder zu zeugen".

Besprochen werden eine Ausstellung des Gesamtwerks von Antonello da Messina, dem bedeutendsten Renaissance-Maler Siziliens, in der Scuderie del Quirinale in Rom, Benjamin Brittens Shakespeare-Oper "Sommernachtstraum" an der Hamburgischen Staatsoper, die beiden "Iphigenie"-Opern von Christoph Willibald Gluck in Darmstadt und Bücher, darunter der Briefwechsel zwischen Wolfgang Koeppen und Siegfried Unseld, der Roman "Venezuela" von Jochen Jung, das neue Buch von Frank Schirrmacher "Minimum", der Band "West-östlicher Seiltanz" über deutsch-arabischen Kulturaustausch im Schnittpunkt Kairo (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 29.03.2006

Im Politikteil erklärt der Soziologe Alain Touraine im Interview mit Michaele Wiegel die französischen Proteste als Reaktion auf eine bonapartistische Politik: "Frankreich ist für die Herausforderungen im globalisierten Wettbewerb schlechter gewappnet als andere Gesellschaften. Das Primat des Staates führt bei uns dazu, dass wir nie gelernt haben, Reformen im gesellschaftlichen Konsens auszuhandeln. Einen ernstzunehmenden sozialen Dialog gibt es bei uns nicht. Alle großen Sozialreformen sind von oben, von der Regierung oder per Gesetz, oktroyiert worden." Im Feuilleton analysiert auch Joseph Hanimann "die irrational gewordene Konfrontation zwischen Regierung und Demonstranten in Frankreich".

Weitere Artikel: In der Leitglosse skizziert Andreas Rossmann die Atmosphäre bei einer Jubiläumsfeier des Dumont-Verlags, der zur Zeit durch den Weggang seiner wichtigsten Mitarbeiter von sich reden macht. Diemar Dath schreibt zum Tod des polnischen Science-Fiction-Autors Stanislaw Lem. Andreas Rosenfelder verfolgte eine Kölner Tagung über Computerspiele. Gemeldet wird, dass das Deutsche Historische Museum die "Langemarckhalle" am Berliner Olympiastadion übernimmt, um dort eine Ausstellung über die Geschiche des Stadions zu organisieren. Der Juraprofessor Christoph Möllers kommentiert ein Urteil des Bundesvefassungsgerichts, das die Krankenkassen verpflichtet, einem Todkranken auch eine umstrittene Behandlung zukommen zu lassen. Gina Thomas schreibt zum Tod des Künstlers Ian Hamilton Finlay.

Auf der Medienseite fragt sich Peer Schader, warum die Show "Germany's Next Topmodel" so erfolgreich ist. Für die letzte Seite besucht Christian Schwägerl die "Schwundregion" Oberpfalz, "aus der Jugend, Eltern und Kapital fliehen", und fand dort unter anderem eine "Asphaltkapelle" des Künstlers Wilhelm Koch: "Was könnte in der tiefkatholischen Region Offenheit besser symbolisieren als eine avantgardistische Kapelle, die den Segen der Kirche hat? Das schwarze Ding ist aus klebrigem Asphalt gebaut, der Innenraum leer, das Kreuz leuchtet den Besucher in Ampelfarben an." Christian Geyer porträtiert den Nachrichten-Moderator Claus Kleber. Und Joseph Croitoru zeichnet arabische Diskussionen um den Begriff der Zivilgesellschaft nach.

Besprochen werden der Film "Basic Instinct 2" mit Sharon Stone, Benjamin Brittens Oper "A Midsummer Night's Dream" in Hamburg, dirigiert von der neuen Intendantin und Generalmusikdirektorin Simone Young, und zwei Fotoausstellungen in Halle mit Fotografien von Barbara Klemm (mehr hier) und von Helga Paris (mehr hier).