Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.06.2006. Peter Sloterdijk vermisst in der taz linke Zornbankhäuser. Die SZ bewundert kickende Roboter beim Robocup. In der FAZ protestiert Monika Maron gegen die Herablassung, mit der die Schriftstellerin Emine Özdamar von den deutschen Feuilletons behandelt wird. Alle trauern um György Ligeti. Am schönsten die SZ.

TAZ, 13.06.2006

In einem Interview spricht der Philosoph Peter Sloterdijk über seine Zeit als Bhagwan-Jünger in Poona und die Gemeinsamkeit von Linken und Banken: Die klassische Linke hat noch als "Zornbank" funktioniert, "bei der all diejenigen ihren Zorn deponieren konnten, die wussten, dass ohnmächtige Wut nicht genügt. Es braucht Zornbankhäuser in Gestalt linker Parteien, um die Wut der Benachteiligten politisch operational zu machen. Und deswegen funktioniert das Prinzip Links heute nicht mehr, weil die Linke sich selber eher als Teil des Wohlfühlsystems verhält, nicht als Agentur für die Sammlung und Verwandlung von Zorn."

Jan-Hendrik Wulf resümiert die Tagung "Victims and Losers" im Potsdamer Einstein Forum, die wenig Sympathie für Opfer aufbrachte. Eine Beobachtung von Philipp Reemtsma dazu: "Opfer sind unerfreuliche Leute. Sie sind empfindlich, hören genauer hin, sind leicht kränkbar und aggressiv".

Weitere Artikel: Robert Habeck will den neuen Patriotismus als Energiequelle gegen die Lethargie benutzen, zu mehr aber auch nicht. Simone Kaempf berichtet über die Hamburger Autorentheatertage. Helmut Höge erzählt schließlich die Geschichte der Politisierung koreanischer Krankenschwestern in Deutschland.

Und hier Tom.

NZZ, 13.06.2006

In einem Nachruf nimmt Christian Wildhagen Abschied vom großen Komponisten György Ligeti und erklärt die Einzigartigkeit seiner Musik: "Darin werden wechselnde, immer gleich schnell ablaufende Bewegungsmuster derart übereinander geschichtet, dass der Einzelton für das Ohr kaum mehr erkennbar ist. Wie in der Geometrie entsteht somit aus vielen Einzelpunkten - den extrem komprimierten Tonfolgen - ein größeres Gebilde, ein Kontinuum im Wortsinne, das anstelle von Geschwindigkeit den genau gegenteiligen Eindruck von Statik suggeriert. Zu Recht brachte Ligeti diese Form von Illusionsmusik später mit den optischen Täuschungen eines Maurits C. Escher in Verbindung. Musikalische Vexierbilder, oftmals angesiedelt in den Grenzbereichen des technisch Machbaren, und eine Vorliebe für das Uneindeutige, Visionär-Utopische durchziehen Ligetis gesamtes späteres Schaffen."

Weiteres: Patricia Benecke begeht den fünfzigsten Geburtstag des avantgardistischen Londoner Royal Court Theatre. Martina Wohlthat hat sich bei den Berner Tanztagen von fernöstlicher Exotik mitreißen lassen.

Besprochen werden Kim Ki-duks neuer Film "The Bow", den Till Brockmann als "Poesie vom Reißbrett" schmäht, John Updikes bisher nur auf Englisch erschienener Roman "Terrorist", der leider, so Angela Schader, im letzten Akt die "Ebene des auch nur halbwegs Glaubwürdigen" verlässt, und Peter Esterhazys Band mit früher Prosa "Einführung in die schöne Literatur" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 13.06.2006

Hans-Klaus Jungheinrich würdigt den verstorbenen Komponisten György Ligeti als unverwechselbaren "Meister der Farce, sich absondernd von der allgegenwärtigen Tragödie". "Bruchloser als Kollegen wie Dieter Schnebel, Mauricio Kagel oder auch Stockhausen ging Ligeti den Weg aus der seriellen Strenge in die pluralistische Offenheit diversifizierter Komponierstrategien. Treu blieb er (und das unterscheidet ihn vom gleichaltrigen originären Neu-Expressionisten György Kurtag) einem Begriff von Rationalität, den er mit gleichsam dämonologischen Elementen anreicherte und ausstattete, die der offenbaren aktuellen Apokalyptik von einer anderen Seite Einlass verschaffen."

Harry Nutt kommentiert die Entscheidung, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in diesem Jahr dem Soziologen und "profiliertesten deutschen Wissenschaftsmanager" Wolf Lepenies zuzuerkennen: Lepenies sei ein "Vermittler und Ermöglicher, der es mit Ausdauer und Beharrungsvermögen wie kaum ein anderer verstanden hat, als eher gediegen und praxisfremd geltende wissenschaftliche Institutionen in packende gesellschaftsnahe Laboratorien zu verwandeln."

Weiteres: In Times mager schwärmt Peter Michalzik vom Wiesbadener Theaterfestival "Neue Stücke aus Europa", auf dem man sehen könne, dass Europa "keineswegs so erschöpft" sei, wie man meinen möchte. Besprochen werden Jürgen Goschs Inszenierung von Roland Schimmelpfennigs Stück "Die Frau von früher" in Köln und Bücher, darunter eine Studie über Gianlorenzo Bernini, den umtriebigen "Michelangelo des 17. Jahrhunderts", eine dekonstruktivistische Mozart-Biografie von Martin Geck und William T. Vollmanns Roman "Huren für Gloria" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 13.06.2006

Konrad Adam zeigt sich mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für den Soziologen Wolf Lepenies (mehr) einverstanden. Der Preisträger selbst stellt die Zeitschrift The New Leader vor, die sich zum Sprachrohr der Ostblock-Dissidenten entwickelte und nun nach 82 Jahren ihr Erscheinen einstellte. "Die Zeit des Kalten Krieges scheint weit zurückzuliegen. Im New Leader kann man nachlesen, wie gefährlich diese Zeit war. Auch lohnt sich die Lektüre, um beispielsweise romantische Vorstellungen über das Jugoslawien Titos zu korrigieren, die heute wieder aktuell zu werden scheinen."

Weiteres: Klaus Geitel schreibt zum Tod des "unbeirrbaren" Komponisten György Ligeti. Eine Meldung besagt, dass die Bundeskulturstiftung zusammen mit der Kulturstiftung der Länder Kulturgüter in Ostdeutschland retten will. Elmar Krekeler staunt über die neueste Volte in der Debatte um Feridun Zaimoglus "Leyla": Der hatte kürzlich überlegt, dass die Ähnlichkeiten seines Romans mit Semine Özdamars "Karawanserei" daher rührt, dass sich seine und Özdamars Tante möglicherweise in den Sechzigern in einem Siemensgastarbeiterinnenwohnheim in Berlin ihre Familiengeschichten erzählt haben.

Der Pulitzerpreisträger, Evolutionsforscher und Autor Edward O. Wilson erklärt Diogo Schelp im Magazin, wie er Kreationisten und Darwinisten versöhnen will.

SZ, 13.06.2006

Reinhard J. Brembeck ruft dem Komponisten und Magier György Ligeti nach: "Seine kommunikative Energie war überwältigend, in den Bann schlagend, visionär, verzaubernd... In dieser drahtigen Gestalt mit der knarzenden Stimme, unverkennbar ungarisch gefärbt, schien Musikgeschichte wie Lava zu brodeln. Ligeti konnte als Redner wie Musiker sein Publikum mitreißen wie kein anderer der großen Komponisten der vergangenen 50 Jahre - aber er konnte auch schweigen: 1961 hielt er einen berühmt gewordenen Vortrag zum Thema 'Die Zukunft der Musik' - und sagte kein einziges Wort."

Hans-Arthur Marsiske begeistert sich für Fußball spielende Roboter beim RoboCup in Bremen: "Wir wollen bis zum Jahr 2050 mit einer Robotermannschaft Fußballweltmeister werden, rief Mitte der neunziger Jahre ein Häuflein Verwegener - ein Ziel, so nutzlos wie die Landung von Menschen auf dem Mond und weder betriebswirtschaftlich noch militärstrategisch auch nur annäherungsweise kalkulierbar. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen antworteten Forscher rund um den Erdball umgehend: Klasse, da machen wir mit! Inzwischen ist die internationale RoboCup-Gemeinde auf etwa 4000 Forscher und bis zu zehnmal so viele Kinder und Jugendliche angewachsen, die sehr viel Energie investieren."

Weiteres: Ijoma Mangold kommentiert die Zuerkennung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den Soziologen und "Mittler" Wolf Lepenies. Johan Schloeman resümiert die Tagung "Victims and Losers" im Potsdamer Einstein Forum. Und erkennt in der Metapher die größte Gefahr von Opfer-Diskussionen. "Geht es denn um Denkfiguren oder um Leute, die sich die Köpfe einschlagen? Diese Letzteren jedenfalls schienen in Potsdam sehr weit weg zu sein." Andrian Kreye gibt einen Überblick darüber, mit welchen Argumenten die Wissenschaft in Amerika derzeit über Glauben und "Intelligent Design" diskutiert.

In der Kolumne "Zwischenzeit" sinniert Hermann Unterstöger über Aspekte der dpa-Prosa und des Adjektivs "belastbar". Jörg Königsdorf berichtet von den Händel-Festspielen in Halle und Göttingen, die seiner Meinung nach "dringend eine Neuorientierung bräuchten". Peter Bäldle freut sich für den japanischen Designer Issey Miyake über den Kyoto-Preis (hier ein Link zu Miyakes Label). Und Martin Reischke erzählt, wie sich Bollywood-Schauspieler Aamir Khan mit seiner Rolle in einem Film über ein umstrittenes Staudammprojekt derzeit bei Politikern unbeliebt macht.

Besprochen werden Grillparzers "Medea" in einer Inszenierung von Karin Henkel am Hamburger Schauspielhaus, die vier Kurzfilme "Jung, frech, verliebt", eine seltene Aufführung von Bellinis Oper "Zaira" in Gelsenkirchen und Bücher, darunter der Erzählungsband "Berliner Stille" von Ralf Bönt und zwei neue Bücher über Kunst und Tugend der Freundschaft (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 13.06.2006

Sind die deutschen Feuilletons verrückt geworden? Das fragt sich die Schriftstellerin Monika Maron. Sie kann nicht glauben, wie im Streit um die Ähnlichkeiten zwischen Emine Sevgi Özdamars Roman "Das Leben ist eine Karawanserei ..." und Feridun Zaimoglus "Leyla" Özdamars individuelle Erfahrungen zu einer türkischen Allerweltsgeschichte herabgesetzt werden. "Niemand wird Zaimoglu einen Plagiatsvorwurf machen. Der juristische Begriff des Plagiats ist streng begrenzt und trifft auf Zaimoglus 'Leyla' nicht zu. Aber den Verdacht, er könnte Emine Sevgi Özdamars 'Karawanserei' geradezu ausgeschlachtet haben, wird ein unbefangener Leser beider Bücher vermutlich nur schwer unterdrücken können. Und das bezieht sich gerade nicht auf das Allerweltshaltige der Bücher, auf die junge Türkin im Zug nach Berlin, die es tatsächlich tausendfach gegeben hat, sondern auf das Ureigenste, auf die Poesie, die Metaphorik, die Bilderwelt der Emine Sevgi Özdamar. Aber das, so lese ich es in den Zeitungen, sei gar nicht Özdamars eigene literarische Schöpfung, sondern das allgemeine türkische Kulturgut der fünfziger und sechziger Jahre, in denen alle türkischen Mädchen offenbar das gleiche erlebten, was jeglichen Anspruch auf geistiges Eigentum demzufolge ausschließt."

Mark Siemons sieht vor allem Mao-Pop beim dritten Dashanzi International Art Festival in Peking. Genau das richtige für westliche Galeristen, die in Scharen angereist sind. "In einer der geräumigsten Werkhallen, die heute '798 Space' heißt, lässt sich noch die Schrift an der Wand entziffern: 'Der Vorsitzende Mao ist die rote Sonne in unserem Herzen.' Die Besucherhaltung, auf die hier spekuliert wird, ist die eines unentwegten Blinzelns: Auf der einen Seite soll er sich des wohligen Schauers angesichts der 'Authentizität' des Ortes nicht erwehren können, auf der anderen darf er sich seiner ironischen Überlegenheit sicher sein."

Weitere Artikel: Wolfgang Sandner schreibt den Nachruf auf György Ligeti. Edo Reents war bei einer Tagung der Zürcher Thomas-Mann-Gesellschaft und fand, dass Archiv-Leiter Thomas Sprecher sich etwas zu oft selbst zitiert. Jürgen Kaube porträtiert Wolf Lepenies, der in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, als "Mann ohne kontroverse Eigenschaften". In der Leitglosse erzählt hie. von hübschen Japanerinnen und galanten deutschen Fahrgästen im Eurocity. Andreas Kilb war bei einer Tagung über Opfer und Verlierer in Potsdam. Kerstin Holm erzählt, wie die Russen für ihre Neubauten in Moskau die europäische Architekturgeschichte plündern. Iris Hanika mokiert sich über Werbesprüche. Klaus Ungerer berichtet von einem Prozess wegen gefährlicher Körperverletzung.

Auf der DVD-Seite geht's um das Regiedebüt von Hayao Miyazaki ("Das Schloss des Cagliostro"), einen Arsene-Lupin-Film von Jean-Paul Salome, "Hoffmanns Erzählungen" von Michael Powell und Emeric Pressburger, Kazushi Watanabes "19" und eine DVD mit Interviews zum britischen "Free Cinema". Auf der letzten Seite porträtiert Christian Schwägerl den Mediziner und Nobelpreisträger Harold Varmus, der sich "an die Spitze der 'Open access'-Bewegung gesetzt und mit der Public Library of Science eine Alternative zum klassischen Veröffentlichungsbetrieb" für wissenschaftliche Publikationen geschaffen hat. Katja Gelinsky stellt einen Bericht über die unmenschlichen Zustände in amerikanischen Gefängnissen vor.

Besprochen werden die Ausstellung "Jean Prouve - Die Poetik des technischen Objekts" im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt, Helmut Zapfs multimediales Ballett "Das goldene Kalb" in Rheinsberg, die Aufführung von Polle Wilberts neuem Stück "Am Tag der jungen Talente" im Werkraum der Münchner Kammerspiele und eine Choreografie von Bronislav Rozno in Zwickau.