Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.06.2006. Die taz versucht auf vier Seiten, die Macht des "Medienmachermenschen" Frank Schirrmacher zu verstehen. Die FAZ kommentiert den Abgang des Medienmachermenschen Sabine Christiansen. Die Welt spricht mit Ernst Nolte über Faschismus, Bolschewismus und Islamismus. Die SZ gibt Einblicke ins Paradies der Raubkopierer, das schwedische Pirate Bay. Der Tagesspiegel reist ins Padua des Nordens, nach Zamosc.

TAZ, 24.06.2006

Im taz mag porträtiert, und zwar mit großer Ausführlichkeit und im Grunde auch Ausgewogenheit, Susanne Lang den "intellektuellen Marktschreier" Frank Schirrmacher: "Heute also sieht es ganz so aus, als wäre dieser Frank Schirrmacher dort angekommen, wo er, wie sich Weggefährten aus Studienzeiten erinnern, immer schon ankommen wollte: an der Macht oder was so viele Mediemachermenschen für sie halten, der Meinungsführerschaft. Wer sie innehat, bestimmt, worüber die Gesellschaft debattiert. Was bei ihr zählt, ist auch die Performance, der Coup, der krachende Auftritt - nicht notwendig das Interesse an Erkenntnis."

Der Autor Stephan Wackwitz zieht, mit einem Blick zurück auf die Gruppe-47-Anfänge des Dichters, einen Schlussstrich unter die Handke-Heine-Debatte: "Denn Handke, was immer er im einzelnen gesagt haben mag, will damit in die Zeiten zurück, in denen Schriftstellerstellungnahmen zu politischen Sachverhalten die Aussagen von Politikern toppen konnten. Diese Zeiten sind vorbei. Er will eine Ausdifferenzierung rückgängig machen, ohne die wir inzwischen nicht mehr auskommen... Er will dahin, wo Grass und Böll waren und wo heute keiner mehr hinkommt. Hier liegt der literarische Grund dieses vorläufig letzten Einbruchs der hysterischen Rede in den politischen Raum."

Weitere Artikel: Claudia Koonz hat einen Spaziergang durch Fußball-Berlin unternommen und ist auf der Suche nach dem "Schwarz in Schwarzrotgold" kaum fündig geworden. Stefan Kaegi, Mitglied der Dokumentartheater-Gruppe "Rimini Protokoll", erklärt im Interview seine Ästhetik und die Hintergründe seines neuen Stücks "Cargo Sofia-Berlin". Abteilung Medien: Aus Christiansen wird Jauch, das ist der taz den Titel und ein Tagesthema wert.

Besprochen wird der Film "Lady Henderson präsentiert" und Bücher: Olaf Schmidts Inselfriesenroman "Friesenblut", Christian Schüles Generationenabrechnung "Deutschlandvermessung" und in der Crime Scene Bücher der Norweger Jo Nesbo und Frode Grytten. Die rezensierten politischen Bücher sind Thomas Hankes freundliche Diagnose "Der neue deutsche Kapitalismus", die Erinnerungen der Top-Spionin Ruth Werner und das Buch der Balkankenner Wolfgang Petritsch und Robert Pichler "Kosovo-Kosova" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages).

Und hier noch TOM.

Welt, 24.06.2006

Roger Köppel lässt den "Geschichtsdenker" Ernst Nolte in einem ausführlichen Interview noch einmal seine Position zum Nationalsozialismus, dessen Bezug zum Bolschewismus und zu Hitler bekräftigen sowie das zukünftige Leitthema der Zunft abstecken. "Wenn ich auch nur zehn Jahre vor mir hätte, würde ich mich intensiv mit dem Islamismus auseinandersetzen. Mit dem Islamismus als der Verneinung der amerikanischen, der liberistischen Gesellschaft. Das wäre der Abschluss eines Lebenswerks nach Kommunismus und Faschismus nun also das dritte, wenn auch schwächste, zugleich aber erstaunlichste Phänomen des Widerstandes gegen diese sich abzeichnende Entwicklung, gegen die individualistische Uniformität der Menschheit." Der Islam sei zwar kein neuer Faschismus, aber "ich würde doch sagen, der Islamismus, also der zu extremer Politisierung neigende Islam, legt die sehr starken Abwehrreaktionen an den Tag, die im deutschen Nationalsozialismus und im Bolschewismus gegen den eindringenden Kapitalismus vorhanden waren." Ob das die neue "Prise Nolte" ist, die Götz Aly vor Wochen gefordert hatte?

Weiteres: Dem florierenden Kunstmarkt sind eine ganze Reihe von Artikeln gewidmet, von der jüngsten erfolgreichen Auktion im Kunsthaus Lempertz bis zu einem Interview mit den Machern der neuen Messe "dc - duesseldorf contemporary". Manuel Brug meldet sich fröhlich von Norwegens größtem Kunstfestival in Bergen, wo ihn bisher besonders Calixto Bieitos Modernisierung von Ibsens "Peer Gynt" überzeugte. "Die Pause verbringt Peer bei einer Kapitalismus-Talkshow im Foyer." In seiner Kolumne gesteht Thomas Brussig, wie er an seine zwei Karten für das deutsche Achtelfinale gekommen ist.

Besprochen wird das neue Album der Sportfreunde Stiller "You have to win Zweikampf".

In der Literarischen Welt versucht die Schriftstellerin Ulrike Draesner zur Kollegin Ingeborg Bachmann vorzudringen, die als eine der ersten zur Medienautorin wurde. "Ich spreche über Züchtung. Jenen Bereich, in dem Autorenfiguren aus dem Boden eines Lebens gezogen werden. Die einst oder noch immer lebendige Person kann man sich als Stück Zellstoff vorstellen, mit ein paar darin angelegten Samen. Erst der Blick der anderen, unser Blick, ist das Wasser, das darauf gegossen wird, bis Pflanzen hervorranken, wild wuchern, und schließlich den weißen Zellstoff ganz überwachsen."

Außerdem besucht Marko Martin den Krimi-Schriftsteller Gunnar Staalesen in Bergen, der sich dort einmal in der Woche als Stadtführer verdingt.

SZ, 24.06.2006

Kürzlich wurde in Schweden das weltweit vor allem für Raubkopien genutzte Filesharing-Angebot Pirate Bay vom Netz genommen. Gunnar Herrmann versucht zu erklären, warum ausgerechnet Schweden zum Hort der Raubkopierer geworden ist: "Rechner und schnelle Internetzugänge haben sich hier rascher verbreitet als anderswo... Es gab sogar Minister, die sich öffentlich dazu bekannten, dass sie Raubkopien aus dem Netz laden. Eine EU-Direktive zur Stärkung des Urheberrechtsschutzes im Internet wurde erst nach langen Diskussionen im vergangenen Jahr umgesetzt. In Schweden spricht man auch nicht vom Raubkopierer, sondern vom 'Fildelare', übersetzt 'Dateiteiler'." Pirate Bay ist übrigens vorläufig wieder online und wartet zuversichtlich auf ein Gerichtsurteil.

Weitere Artikel: Die ganze erste Seite ist dem scheidenden Münchner Opernchef Peter Jonas gewidmet. Reinhard J. Brembeck schreibt zum Ende einer Ära; dazu gibt es ein ausführliches Interview mit Jonas zum Start der Opernfestspiele. Vom wachsenden Einfluss der Katholischen Kirche in England berichtet Wolfgang Koydl. Gerhard Matzig stimmt auf den an diesem Wochenende stattfindenden "Tag der Architektur" ein. Ira Mazzoni erklärt, welche Verpflichtungen die begehrte Auszeichnung als UNESCO-Welterbe mit sich bringt. Gemeldet wird, dass sich der Düsseldorfer Stadtrat lieber mit einer Einkaufsmall als mit Peter Handke beschäftigte.

Besprochen werden die Erlanger Inszenierung von Marc Beckers Stück "Jung und unschuldig", John Appels Film "Rennen von Siena", eine Münchner Ausstellungen mit Bildern des Malers Rudi Tröger (pdf-Info) und ein Konzert der br-Symphoniker unter Leitung von Riccardo Muti.

Auf der Literaturseite berichtet Volker Breidecker von einer literarischen Reise nach und durch Estland. Rezensionen gibt es zu zwei Büchern über Goethe, Max Ophüls' nun auf CD erhältliche Hörspiel-Version von Arthur Schnitzlers "Berta Garlan" und Peter Schünemanns Georg-Büchner-Erzählungen mit Essay "Dunkles Bild" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende plädiert New-York-Korrespondent Andrian Kreye für einen "Patriotismus mit Herz, Hand und Verstand". Thomas Steinfeld hat Prato, die Stadt des Dichters Curzio Malaparte, besucht. Holger Liebs erinnert an die lang vergessenen Münchner "Kulturrevoluzzer" der Künstlergruppe "Spur". Zum Wimbledon-Auftakt widmet sich Christine Brinck der Geschichte der Tennismode. Vorabgedruckt wird die Erzählung "Rehe am Meer" des Autors Ralf Rothmann. Im Interview spricht der Altersforscher Aubrey de Grey über das Altern und sein bescheidenes Ziel: "Außerdem (...) will ich nicht den Tod abschaffen, sondern das Altern."

Tagesspiegel, 24.06.2006

Als Padua des Nordens an der Grenze zur Ukraine wurde die polnische Stadt Zamosc entworfen. Nun ist ein deutsches Kunstprojekt über die von der neuen Zeit unberührte Stadt gekommen und sorgt für Aufregung, berichtet Christina Tilmann. "Sabrina van der Ley, künstlerische Leiterin der Berliner Kunstmesse Art Forum, und ihr Mann Markus Richter, bis 2005 Galerist in Berlin, kennen in der Szene Gott und die Welt. Kunst-Stars von Francis Alys bis Tacita Dean, von Pedro Cabrita Reis bis Lawrence Weiner folgten dem Ruf, und die lokale Bevölkerung steht derweil dabei und staunt. Misstrauisch, ja aggressiv seien die Bewohner von Zamosc zunächst gewesen, als die Künstler ihre Installationen vor Ort vorstellten, berichtet Richter bei der Eröffnung. Später am Abend, man feiert in den ehemaligen Kasematten, es gibt Freibier für alle, kommt der Bürgermeister - und die Polizei."

NZZ, 24.06.2006

In der Beilage Literatur und Kunst schreibt Martin Meyer zum hundertsten Geburtstag Wolfgang Koeppens und zitiert auch aus einem kurzen Brief, in dem Koeppen einen versprochenen Text für die NZZ wieder absagt: "Es ging mir in München nicht gut, ich konnte nichts schaffen, es wollte mir nichts gelingen, ich bin nach Venedig geflogen und kann Ihnen das versprochene Manuskript nicht schicken." Joachim Güntner besucht das Wolfgang-Koeppen-Archiv in Greifswald. Roman Bucheli entnimmt Koeppens Korrespondenz mit Siegfried Unseld, wie der seinen Autor für die Frankfurter Poetikvorlesungen "gebrieft" hat. Karlheinz Stierle schreibt über den Nominalismus bei Francesco Petrarca und Jan van Eyck. Hubertus Adam widmet sich der Rekonstruktion von Bauten Frank Lloyd Wrights in den USA.

Im Feuilleton sucht Sieglinde Geisel nach weiteren Belegen dafür, dass sich Feridun Zaimoglu für seinen Roman "Leyla" bei Emine Sevgi Özdamars "Das Leben ist eine Karawanserei" bedient habe. "hmn" informiert über die Pläne des zukünftigen Direktor Georges Delnon für das Basler Theater.

Besprochen werden die Ausstellung "Cezanne en Provence" im Musee Granet in Aix-en-Provence und Armin Holz' Lorca-Inszenierung "Dona Rosita" am Bochumer Schauspiel und Bücher, darunter Regina Göckedes Monografie des Architekten Adolf Rading sowie Francesco Petrarcas "Familiaria" in einer ersten deutschen Edition (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 24.06.2006

Zum 80. Geburtstag Ingeborg Bachmanns erinnert Ina Hartwig an die Dichterin und bespricht die Neuauflage ihres Romans "Malina": "Dieses in vielerlei Hinsicht außergewöhnliche Buch, 1971 zuerst erschienen, hat der Suhrkamp Verlag jetzt aus Anlass des achtzigsten Geburstags der Autorin neu aufgelegt, versehen mit einem exzentrischen Nachwort Elfriede Jelineks, die mit Ingeborg Bachmann wahrlich mehr verbindet als die literarisch so produktive österreichische Herkunft. Jelinek, die auch das Drehbuch für Michael Hanekes 'Malina'-Verfilmung verfasste, schreibt über Bachmann, die 'in ihrem Bett brennende Dichterin' sei 'alle Frauen und gleichzeitig keine Frau, weil die Frau nichts ist." ('Malina' hat allerdings nicht Haneke, sondern Werner Schroeter verfilmt.)

Weitere Artikel: Christian Thomas schreibt zum "Tag der Architektur". In Karin Ceballos Betancurs "Bonanza"-Kolumne geht es heute ums Tanzen in Hongkong und Buenos Aires; und auch um Fußball. Auf der Medienseite wird der angekündigte Rücktritt von Sabine Christiansen kommentiert.

Besprochen werden die Kollektivregiearbeit an "Peer Gynt" in den Berliner Sophiensälen, Christof Loys Frankfurter Inszenierung von Mozarts "La finta semplice", eine "Othello"-Inszenierung in Bad Vilbel und "Der Widerspenstigen Zähmung" in Hersfeld.

FAZ, 24.06.2006

Patrick Bahners kommentiert das Ende des Polittalks "Sabine Christiansen": "Bei 'Sabine Christiansen' wurde jede Institution mit dem Fragezeichen der Illegitimität versehen. Können wir uns die Rente, die Kirche, die Ehe noch leisten? Nur die Ewigkeit des Gerichtshofs, der diese Ermittlungen anstellte, wurde bei alledem stillschweigend vorausgesetzt." Auf der Medienseite vermutet Michael Hanfeld hinter Sabine Christiansens Abgang den tiefen Graben, der zwischen ihr und der der restlichen Welt aufgetan hat: "Neben ihr gab es scheinbar gleichrangig nur noch Staatsoberhäupter und Medienmogule; die Intendanten, Chefredakeure, ihre Branche und das Publikum saßen auf den Rängen und bekamen die Kluft zu spüren." So recht belegen kann er seine These, Christiansens Abgang sei nicht ganz freiwillig, allerdings nicht.

Weiteres: Zum morgigen "Tag der Architektur" hätte sich Dieter Bartetzko gewünscht, dass sich die Zunft mit ihren Problemen befasst - dem Schrumpfen der Städte, dem "gnadenlosen" Wettbewerb der Standorte und den "immer kopfloseren Abriss- , Neu- und Umbauorgien". "eeb." meldet, dass Peter Jonas am Ende dieser Spielzeit die Münchner Oper verlassen wird, um Europa zu Fuß zu durchwandern. In der Glosse instruiert "fxk" über den ordnungsgemäßen Umgang mit der deutschen Flagge. Jürgen Dollase testet die Freistil-Küche der Brüder Karl und Rudi Obauer im österreichischen Werfen. Vincenzo Velella beleuchtet die "literarische Wiedergeburt des Pilgerberichts", derer wir gerade mit Hape Kerkelings Bestseller "Ich bin dann mal weg" anschauig werden. Erna Lackner hat beim österreichischen "6 festival for fashion music and photography" beobachtet, wie sich eine hedonistische Härte zusammenballte. Lisa Zeitz liefert einen Lagebericht aus dem Fußball-abstinenten New York.

Auf den Seiten der ehemaligen Tiefdruckbeilage erklärt Werner Berger den Menschrechtsuniversalismus ohne Gottesbezug für unglaubwürdig. Heinrich Detering schreibt zum hundertsten Geburtstag des "modernen Romantikers und romantischen Modernen" Wolfgang Koeppen.

Besprochen werden die Ausstellung "Adel im Wandel" in Sigmaringen, eine Schau des Zeichners Jürgen Partenheimer in der Kunsthalle Karlsruhe, ein Konzert der Band Brian Jonestown Massacre in Köln, Richard Thompsons Album "1000 Years of Popular Music", das Solodebüt von Ohmega Watts, eine aus dem Nachlass produzierte Platte des Gitarristen Chris Whitley, Rameau-Aufnahmen des Pianisten Tzimon Barto sowie Konzertaufnahmen der Cellisten Andre Previn und Daniel Müller-Schott. Und Bücher, darunter David Lodges Roman "Autor, Autor", Paul Bourgets "Ein Frauenherz", Arthur Japins "Die Verführung" und Leuw von Katzensteins "Der Schrecken der Ozeane" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und in der Frankfurter Anthologie empfiehlt Kurt Oesterle Carl Zuckmayers Gedicht "Lob der Spatzen":

"Grau mit viel Braun und wenig weißen Federn,
Das Männchen auf der Brust mit schwarzem Fleck..."