Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.04.2007. In der FAZ kritisiert die junge Autorin Dorota Maslowska die bigotte Abtreibungspolitik in Polen. Außerdem erklärt Elfriede Jelinek, wie man etwas im Internet veröffentlicht und dabei ganz privat bleibt. In der SZ greift Margriet de Moor in die Multikulturalismus-Debatte und annonciert, dass die Reform des Islams von Europa ausgehen wird. Außerdem fordert der türkische Premier Erdogan Meinungsfreiheit für Orhan Pamuk in Frankreich. Im Tagesspiegel schreibt der ukrainische Autor Andrej Kurkow: "An Russland denkt in letzter Zeit niemand mehr", nicht einmal die ostukrainischen Oligarchen. In der FR schreibt Sonja Margolina über die Ausschreitungen der Polizei bei den Moskauer Demonstrationen. In der taz kritisiert Zafer Senocak nicht nur Günther Oettinger, sondern gleich auch seine Schriftstellerkollegen.

TAZ, 17.04.2007

Der Schriftsteller Zafer Senocak fasst die Äußerungen Günther Oettingers als Symptom eines vergangenheitspolitischen Roll-Backs auf und fordert mehr Engagement von seinesgleichen. "Meine Generation aber schweigt. Sie hat sich von Politik und Gesellschaft abgewandt. Der Schriftsteller von heute ist Kleinunternehmer, die erfolgreicheren können sich schon als Mittelständler fühlen. Und so verhalten sie sich auch. Nichts wagen, nicht anecken, immer schön dem Zeitgeist nacheifern, die Gunst des Publikums bedienen, egal wie regressiv, wie reaktionär, auf solche Adjektive kommt es ja nicht mehr an. Prämiert wird, was wohlfeil ankommt."

Weiteres: Cristina Nord weist auf die Protestnote hin, die sich gegen das Verbot des neuen Films von Apichatpong Weerasethakul in Thailand richtet. Wolfgang Ullrich staunt über die Idee, Kredite als Markenartikel zu verkaufen. In der zweiten taz informiert sich Hannes Koch in Ägypten über die Bloggerszene, die vorsichtig aber unnachgiebig an der Liberalisierung arbeitet.

Besprochen werden das Album "The Adventures of Ghosthorse and Stillborn" des Schwesternduos CocoRosie, die Uraufführung von Dimitre Dinevs Stück "Das Haus des Richters" im Wiener Burgtheater sowie ein Neudruck von Martin tom Diecks Comic "Der unschuldige Passagier".

Und Tom.

Tagesspiegel, 17.04.2007

Angesichts der politischen Lähmung in der Ukraine stellt der Schriftsteller Andrej Kurkow fest, dass immerhin selbst die prorussische Partei Viktor Janukowitschs keine prorussische Politik mehr betreiben will: "An Russland denkt in letzter Zeit niemand mehr. Am allerwenigsten wünschen sich die ostukrainischen Oligarchen, die Janukowitschs 'Partei der Regionen' finanzieren, eine Annäherung beider Länder. Russland ist ein reiches, starkes Land, das sich schon lange die Finger leckt nach den Gaspipelines der Ukraine, nach ihren Fabriken und Metallkombinaten. Würde man die Ukraine für die russische Wirtschaft öffnen, dann bliebe hier nichts Ukrainisches übrig, nicht einmal ukrainische Oligarchen. Das verstand sogar Ex-Präsident Leonid Kutschma, der im Zuge der Nachwendeprivatisierungen die ukrainische Wirtschaft nahezu kostenlos den ihm nahestehenden Oligarchen überließ, anstatt sie für viel Geld den Russen zu überantworten."

Welt, 17.04.2007

Ulli Kulke porträtiert den Generalsekretär der Antikenverwaltung in Kairo, Zahi Hawass, der gerne auch die Büste der Nofretete heim nach Ägypten holen würde: "Nun fängt er an zu drohen. Wenigstens für drei Monate solle die Pharaonengattin zu ihm kommen. Andernfalls wolle er 'nie mehr archäologische Ausstellungen in Deutschland organisieren', sagte er vor dem Parlament in Ägypten. Und jetzt meinte er auch noch beim Kongress arabischer Altertumsbehörden: Er werde die Kooperation einstellen mit ausländischen Institutionen, die mit Israel in der Archäologie zusammen arbeiten." Kulke interpretiert den Satz so: "Zu vermuten ist, dass Hawass ins Inland hinein sprach. Manche sagen in Kairo, Zahi Hawass wolle der nächste Präsident werden - und dass ihm, dem überaus populären Mann, die Zukunft des Landes gehöre." Schöne Innenpolitik!

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr kam halb und halb überzeugt von einem Auftritt Wolf Biermanns mit dem Göteborger Kammerchor aus dem Berliner Ensemble. Im Gespräch mit Sven Felix Kellerhoff erklärt der Zeithistoriker Manfred Wilke, warum die Erinnerungen des SED-Manns Wolfgang Berghofer die einstigen Genossen so aufstören: "Es geht um die weithin unbekannte Geschichte, wie Modrow, Bisky und Gysi die Auflösung der SED verhinderten und mit der SED-PDS das Vermögen und die Partei retteten."

Besprochen werden eine Ausstellung des Barockmalers Christopher Paudiß in Freising, ein von Udo Samel inszenierter Abend mit Zemlinsky-Einaktern in Frankfurt, ein Konzert der Band Faithless in Berlin, das Stück "Das Haus des Richters" des bulgarischen Dramatikers Dimitre Dinev am Wiener Burgtheater , J.R.R. Tolkiens nachgelassenen "Kinder Hurins" und Ravel- und Puccini-Petitessen mit dem umwerfenden Bariton Bryn Terfel an Covent Garden.

FR, 17.04.2007

Sonja Margolina hält die gewaltsame Reaktion des Kremls auf Proteste der Opposition als Zeichen für die Angst der Machtelite vor einem Wechsel nach Putins Abgang. "Das Volk ist für die Kremlaufsteiger und ihre Polittechnologen 'Gemüse', das sie in den Medien mit den westlichen Spionen und Oppositionellen als Extremisten füttern. Das Volk, glauben sie, würde die Mär vom feindlichen Ausland ein weiteres Mal fressen. Zugleich bricht die Furcht vor dem unregierbaren Volk, das die dolce vita der Elite zu verderben trachtet, in 'präventiver Gewalt' aus. Als ein martialisch auftretender Polizist gefragt wurde, warum man auf einen ganz ruhig stehenden Demonstranten einprügele, es passiere ja nichts, antwortete er: 'Aber es könnte ja was passieren.'"

Weiteres: Arno Widmann kommentiert den Fall Oettinger und lobt Angela Merkel. In einer Times mager informiert sich Judith von Sternburg über die modernen Kriegstaktiken der Engländer vor Kopenhagen 1801 und 1807.

Eine Besprechung widmet sich Udo Samels Inszenierung von Alexander Zemlinskys Opern "Eine florentinische Tragödie" und "Der Zwerg" in Frankfurt.

NZZ, 17.04.2007

Kerstin Stremmel hat sich im Düsseldorfer K21 Gregor Schneiders von Guantanomo inspirierte Arbeit "Weiße Folter" angesehen, Schneiders zweites großes Projekt neben dem Kaaba-Kubus in Hamburg. Stremmel findet sie vor allem oberflächlich: "Stets kommt jemand zu Hilfe und erklärt, wie es weitergeht, und dass einem im Kühlraum ein bisschen kalt ist und die Dunkelheit und die Stille im schallisolierten Raum irritieren - solch existenzielle Erfahrungen ruinieren kein Vernissagengespräch."

Weitere Artikel: Roman Hollenstein hat in der Architekturakademie Mendrisio eine interessante Ausstellung über den Städtebau in Johannesburg besucht. Besprochen werden die Uraufführung des eher undramatischen Projekts "Angst. Variationen eines gefürchteten Gefühls" im Theater Basel und Bücher, darunter Peter Webers Roman "Die melodielosen Jahre", J. R. Moehringers Kneipenroman "Tender Bar" sowie Philip Longworth' bisher nur auf Englisch erschienene Geschichte "Russia" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 17.04.2007

Die junge polnische Schriftstellerin Dorota Maslowska findet die bigotte Abtreibungspolitik in Polen schwer erträglich - wie überhaupt ein gesamtpolitisches Klima, in dem "immer obskurere Figuren sich ans Mikrofon drängeln, die öffentliche politische Diskussion immer absurdere Formen annimmt, die Ehefrau des stellvertretenden Ministerpräsidenten 'lebenslänglich' für alle fordert, die abtreiben, und meint, jetzt sei sie die Königin der Herzen; mit einer Situation, in der der Abgeordnete Miroslaw Orzechowski ein Gesetz fordert, um Homosexuelle aus dem Schuldienst zu entfernen, und ein fanatischer Priester, der alten Leuten mit Höllenszenarien und der Vision eines von blutrünstigen Liberalen zerrissenen Vaterlandes Angst einjagt, darüber entscheiden will, ob eine Frau ihr Kind bekommt, auch wenn beide dabei sterben sollten, während alle sich ohne größere Hemmung die selbstverfassten Einschreiben vom lieben Gott ans Revers heften."

Im Interview erklärt Elfriede Jelinek, warum sie ihren jüngsten Roman "Neid" nur als "Privatroman" im Internet veröffentlicht - Buchpublikation ausgeschlossen: "Wichtig ist, wie gesagt, schon dieses - vielleicht katholische - Element, dass ich etwas veröffentlichen kann und gleichzeitig davon losgesprochen werde, wie in der Beichte. Es ist geschrieben, und gleichzeitig bin ich nicht schuld daran." Rose-Maria Gropp stellt die bisher auf Jelineks Homepage nachzulesenden zwei Kapitel vor.

Weitere Artikel: Klaus Ungerer berichtet vom Gericht und heute geht es um das Asthmamittel Spiropent, an dem auch Bodybuilder Gefallen finden. In der Glosse erzählt Gerhard Stadelmaier etwas von katholischen Kerzen und CO2. Für die letzte Seite hat Dirk Schümer den Kunst-Rekonstruktions-Künstler Adam Lowe besucht. Dieter Bartetzko erinnert an Pharao Ramses II. Jürgen Kaube informiert über eine Studie, die ein dem amerikanischen MIT nacheiferndes "European Institute of Technology" für wenig aussichtsreich hält. Auf der Medienseite stellt Mark Siemons die in Diensten der chinesischen Internetpolizei tätigen Comicfiguren Jingjing und Chacha vor.

Auf der DVD-Seite werden unter anderem neue Editionen von Louis Feuillades Serien "Les Vampires" und "Fantomas" sowie Larry Clarks "Wassup Rockers" empfohlen.

Besprochen werden Udo Samels Inszenierung von Alexander Zemlinskys Opern-Einaktern "Eine Florentinische Tragödie" und "Der Zwerg", der Auftritt der Band Tokio Hotel in Köln, die Uraufführung von Dimitri Dinevs Stück "Haus des Richters" am Wiener Akademietheater, eine Ausstellung mit Werken aus der Sammlung Marzona im Berliner Kulturforum und ein Buch, Christopher Tolkiens Vollendung von seines Vaters Roman "Die Kinder Hurins" (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 17.04.2007

Das liberale Leben in Europa könnte zu einer Reform des Islam führen, meint die niederländische Schriftstellerin Margriet de Moor in einem ganzseitigen Beitrag zur Multikulturalismus-Debatte. So trage die Sexualisierung von Werbung und Medien zur Emanzipation der Frau bei, im Gegensatz zur Verhüllung im Islam. Denn "wie sexbesessen ist eine Kultur, die einer Frau einprägt, sie sei im Prinzip ein gehender, sitzender oder liegender Schoß? Wie übererregt eine Gesellschaft, in der von einem Mann erwartet wird, dass er sich hemmungslos auf jede zufällig vorbeigehende Frau stürzt, es sei denn, ein mächtiges Signal, eine göttliche Kleidungsvorschrift, verbietet ihm das? Die eine Obsession, die unsere, mag zwar anders aussehen als die andere, aber sie können sich die Hand reichen. Die Prognose scheint mir nicht unlogisch, dass sich gerade die islamischen Frauen als erste in unserem europäischen Wohlstand samt allen dazugehörigen Prinzipien auf wundersame Weise wohl fühlen werden."

Weitere Artikel: Der französische Schriftsteller Jean Rouaud baut auf die Literatur, um die "tote" Nation Frankreichs zu erneuern. Andrian Kreye unterhält sich mit dem britischen Künstler Damien Hirst, der die Krone des erfolgreichsten Kollegen an Thomas Kinkade weiter reicht. In Japan ist das elektronische Buch im Handy schon etabliert, verrät Florian Coulmas. Johan Schloemann findet die Ablehnung des Direktors des Berliner Ägyptischen Museums, Dietrich Wildung, die Nofretete nach Ägypten auszuleihen, zwar undiplomatisch, aber ehrlich. In einer "Zwischenzeit" mokiert sich Evelyn Roll über grauenhaft ins Deutsche übersetzte Filmtitel. Holger Liebs erfährt von Chris Dercon im Interview, dass er wegen der Flexibilität und des "seriösen" Budgets weitere fünf Jahre Direktor des Münchner Hauses der Kunst bleibt.

Besprochen werden die Ausstellung "Re-Object" mit Werken von Duchamp, Koons, Hirst und Merz in Bregenz und Bücher, darunter ein Band mit dem überraschenden Titel "Lernen macht intelligent" sowie Davide Longos Roman "Der Steingänger" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Denkwürdig ein Interview mit dem türkischen Premier Recep Tayyip Erdogan, das Kai Strittmatter für den politischen Teil führte. Auf den berühmten Paragraphen zur Verunglimpfung des Türkentums angesprochen sagt Erdogan: "Sie spielen auf Orhan Pamuk an? Er wurde nie vor Gericht gestellt, es gab nur eine Anhörung. Wenn er sagen würde, es gab keinen armenischen Völkermord, dann dürfte er nicht nach Frankreich reisen. Ist das Meinungsfreiheit?"