Heute in den Feuilletons

"Von Ihnen habe ich nie gehört"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.11.2007. Die Regierung hat laut SZ niemandem vorzuschreiben, wie an die DDR erinnert werden soll. Wolfgang Sofsky reitet in der NZZ eine Attacke auf die Gleichgültigen. Die FAZ sieht sich in ihrer aufklärerischen Tätigkeit durch das Vorratsdatenspeicherungsgesetz erheblich eingeschränkt. Daniel Kehlmann entschuldigt sich in der Welt für seine Unbekanntheit. Und die taz stellt fest, dass die Berliner Volksbühne von beinahe allen guten Geistern verlassen ist.

NZZ, 10.11.2007

In der Beilage Literatur und Kunst knöpft sich der Soziologe Wolfgang Sofsky die Gleichgültigen vor, die Lauen und Indifferenten, die Sofsky am "Nullpunkt des Sozialen" verortet: "Die großen Affekte der Freude und Trauer, der Wut und Angst sind ihm fremd. Allenfalls verspürt er leise Anflüge von Erregung, ein Missbehagen, eine schale Unlust. Er vermag weder zu lieben noch zu hassen. Verwundert bemerkt er, wie andere sich plötzlich echauffieren oder sich einander hingeben. Um nicht aufzufallen, drapiert er seine Leere mit Sentimentalität und übertriebener Gestik. Die gespielte Begeisterung, die überschwängliche Freundlichkeit, das zutiefst empfundene Mitleid, alle diese Maskeraden kaschieren nur, dass das ursprüngliche Gefühl fehlt. Die Geste ersetzt die fehlende Gebärde, so dass oft nur schwer zu erkennen ist, ob ein Gefühl ausgedrückt oder lediglich dargestellt wurde. Die Übertreibung ist jedoch nur Heuchelei, mit welcher der Gleichgültige den sozialen Anschluss zu halten sucht."

Weiteres: Jeffrey Lieber besucht Philip Johnsons Glashaus in New Canaan, Connecticut. Sieglinde Geisel schreibt zum Hundertsten der unübertroffenen Astrid Lindgren. Und Ilma Rakusa macht sich Gedanken über Giorgio De Chiricos Bild "Die Freuden des Dichters".

Im Feuilleton: Franz Haas berichtet von neu aufgetauchten Texten Carlo Emilio Gadda mit gehörigen Invektiven gegen die Mailänder Bourgeoisie. Andrea Köhler kündigt das New Yorker Berlin-Festival an, denn wie sie berichtet halten New Yorker Berlin für eine seltsame Stadt, in der "echte Menschen leben, die versuchen, echte Dinge zu tun". Georg Sütterlin besichtigt die drei Museen, die in Chile zu Ehren Pablo Nerudas errichtet wurden. Peter Hagmann berichtet von den Tagen für neue Musik in Zürich.

Besprochen werden eine Ausstellungstrilogie im Fotozentrum Winterthur, die mit Schauen zum Neorealismo oder zu Postkarten den Durchbruch der Moderne in der Fotografie nachzeichnet, und Bücher, darunter Eric Hobsbawms Studie über Sozialrebellen "Die Banditen", Bruno Latours Untersuchung "Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft" und Luis Alberto Urreas Roman "Kolibris Tochter" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 10.11.2007

Daniel Kehlmann hat den "Welt-Literaturpreis" bekommen, was in der Literarischen Welt ausgiebig gefeiert wird. In seiner Dankesrede erinnert sich Kehlmann an die schwierigen Anfänge und Lesungen vor leerem Haus. "Einmal trat ich in einem neuen Literaturhaus auf, zwei Wochen vor der Eröffnung. Der Bau war noch nicht fertiggestellt, und der Saal nicht benutzbar, darum las ich, schließlich war es Sommer, unter einer Verdeckplane im Hof. Es regnete in Strömen, und gekommen waren vier Leute. Einer ging nach fünf Minuten, was man ihm nicht verübeln konnte, denn er hatte keinen Schirm. Ein anderer, ein dünner Mann mit Bart, baute sich nach der Veranstaltung vor mir auf und sah mit stechendem Blick auf mich herab. 'Sie haben drei Bücher verfasst?' - Ich schluckte und sagte ja. - 'Ich beschäftige mich mit deutscher Gegenwartsliteratur. Intensiv! Ich verfolge alles!' - 'So', sagte ich eingeschüchtert. - Er starrte mich vorwurfsvoll an. 'Von Ihnen habe ich nie gehört.' Ich entschuldigte mich, aber er ließ sich nicht besänftigen, zuckte die Achseln und ging mit großen Schritten davon."

Weiteres: Die Laudatio auf Kehlmann hielt Hellmuth Karasek, der die "objektive Rücksichtslosigkeit" des Preisträgers würdigte. Rachel Salamander würdigt schließlich beide, Kehlmann und Karasek.

In einem Essay wirbt der Moralphilosoph Otfried Höffe für eine dreidimensionale Toleranz in politischer, sozialer und personaler Hinsicht: "Entscheidend ist, dass ein toleranter Staat auf religiöse Wahrheitsansprüche, die Religionsgemeinschaft dagegen auf jede Befugnis zu weltlicher Herrschaft verzichtet."

Heute wird das Denkmal vor dem Posener Schloss enthüllt, das an die drei polnischen Mathematiker erinnert, die als erste den noch auf drei Walzen beruhenden frühen Enigma-Code der Deutschen Wehrmacht entziffert hatten, wie Monika Piotrowska im Feuilleton berichtet. Regisseur Oliver Stone erklärt Rüdiger Sturm im Kurzinterview, dass die Forderungen der streikenden Drehbuchschreiber nachvollziehen kann, er selbst Mitglied der Gewerkschaft und der Dreh seines Vietnam-Dramas "Pinkville" nicht gefährdet ist. Franz Solms-Lauterbach drückt sein Mitleid aus für die kanadische Sängerin Celine Dion, die nach fünf Jahren Las Vegas nun auf Welttournee geht. Günter Agde blickt zurück auf 50 Jahre Leipziger Dokumentarfilmfestival. Manuel Brug bespricht den vom Musiktheater inspirierten "Spektakelauftakt" der Saison an der Berliner Volksbühne.

Auf den vorderen Seiten ist eine gekürzte Fassung von Astrid Lindgrens Märchen von "Pomperipossa in Monosmanien" abgedruckt, das die Autorin 1976 aus Protest gegen ihren Steuersatz von 102 Prozent geschrieben hatte.

TAZ, 10.11.2007

Auf der Meinungsseite plädiert Sonja Eismann für einen Feminismus, der die alten radikalen Ziele wie in den USA mit Popbewusstsein verbindet. "Die Amerikanerinnen sind da eben mal wieder weiter als wir. Nicht nur, dass es dort eine ganze Palette frauenspezifischer Magazine gibt, die sich ihre feministische genauso wie ihre popkulturelle Expertise stolz ans Revers heften und nach denen man sich hier nur die Finger lecken kann. Nein, in diesen Zeitschriften, die klingende Namen wie Bitch, Bust oder Venus Zine tragen, ist man sich auch einig, dass der vermeintliche Grabenkampf zwischen den 'ernsthaften' Feministinnen der Zweiten Welle und den 'Lifestyle'-Feministinnen der Dritten Welle vornehmlich eine Inszenierung der Medien ist. Denn die lieben bekanntlich nichts so sehr, als einmal mehr den Tod - oder zumindest die heillose Zerrüttung - des Feminismus zu verkünden."

Die Berliner Volksbühne hat mit Gabriele Gysi eine neue Chefdramaturgin, die gemeinsam mit dem Intendanten Frank Castorf Suchbewegungen in Richtung Musiktheater und gerade auch Richtung zwanziger Jahre unternimmt. Eva Behrend fasst auf den Kulturseiten in ihrer Besprechung eines nur bedingt geglückten Kurzopernabends die noch immer aktuellen Volksbühnen-Krisensymptome zusammen: "Sicher, irgendeine Ausfahrt muss die Volksbühne nehmen. Denn im 17. Jahr seiner Intendanz droht es leer zu werden um den 56-jährigen Autokraten, den man so langsam getrost als Altmeister bezeichnen kann. Schlingensief inszeniert nicht mehr, kein Marthaler steht auf dem Programm. Publikumslieblinge wie die Schauspieler Herbert Fritsch, Martin Wuttke oder Henry Hübchen haben das Ensemble verlassen oder wollen nicht besetzt werden. Jüngere Regisseure fehlen. Die Dramaturgin Stefanie Carp wechselte zurück zu den Wiener Festwochen, und der langjährige Hausintellektuelle Carl Hegemann nahm den Hut."

Weitere Artikel: Dorothea Marcus berichtet von Giorgio Agambens Antrittsvorlesung auf die Albertus-Magnus-Gastprofessur in Köln, in der es um "Ökonomie und Ruhm" ging. In Dirk Knipphals' Spreebogenkolumne wird zur Tagesschau-Zeit im Regierungsviertel vornehmlich gewartet und gesucht. In der zweiten taz schreiben Philip Mattheis pro und Arno Frank contra Einheits-Denkmal. Jan Feddersen denkt über unsere E-Mail-Gesellschaft nach und begrüßt Howard Carpendale zurück auf deutschen Bühnen.

Besprochen werden ein Arcade-Fire-Konzert in Berlin, Anna Ditges' Film "Ich will dich - Begegnungen mit Hilde Domin" und Bücher, darunter Wassili Grossmans Stalingrad-Epos "Leben und Schicksal" (Leseprobe hier) mit Bildern von "dantesker Kraft", Cornelia Funkes Trilogie-Abschluss "Tintentod" und Hartmut Zwahrs Tagebuch des Prager Frühlings "Die Flügel der Schwalbe" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Das taz mag druckt Johann Trupps "Open Mike"-Siegertext "Parallelgestalten", der so beginnt: "Jemand lag ausgebreitet auf dem Asphalt, der leicht nach Regen roch, in einer Menschenmenge, deren pochende rosa Herzen und grüne Gedanken jemand glaubte hören zu können, irgendwo, nicht fern von mir." Im Dossier schreibt Philipp Gessler über das Leben der Kinder von Holocaust-Überlebenden. Gabriele Sohl spricht mit Antonia Grunenberg und Christina Thürmer-Rohr über Leben und Werk Hannah Arendts.

Und Tom.

FR, 10.11.2007

Ulrike Krickau stellt das von der Schriftstellerin Lenka Reinerova vorangetriebene Projekt des Prager Literaturhauses für deutschsprachige Autoren vor. Marcia Pally erklärt in ihrer Amerika-Kolumne den Zusammenhang von illegaler Einwanderung und Getreide-Freihandel. In einem Times Mager denkt Maximilian Kuball über Inzest und Vetternwirtschaft nach.

Besprochen werden Stefan Puchers Münchner "Sturm"-Inszenierung, eine "My Fair Lady"-Inszenierung in der Frankfurter Komödie, ein Mainzer Ballettabend mit Choreografien von Christopher Bruce und Martin Schläpfer, Hans-Eckhard Wenzels neue CD "Glaubt nicht, was ich singe" und der letzte Tatort mit Peter Sodann als Kommissar Ehrlicher.

FAZ, 10.11.2007

Die Pressefreiheit wird mit der gestern beschlossenen Vorratsdatenspeicherung von Telefon- und Internetspuren "deutlich eingeschränkt", warnt Michael Hanfeld. "Es hat schon seinen Grund, dass sich unsere Branche zu Wort meldet, nicht um der eigenen Bequemlichkeit wegen, sondern weil es darum geht, die Zeugen zu schützen, ohne deren Hinweise Skandale nie aufgeklärt würden, schon gar nicht solche, die den Missbrauch staatlicher Macht betreffen. Das ist ein nicht unerheblicher Kollateralschaden im Kampf gegen den Terrorismus und die organisierte Kriminalität. Die massenhafte Vorratshaltung zum Zwecke der Überwachung zerstört, was sie zu bewahren vorgibt, indem sie die Aufklärung verhindert, die der Staat mit seinen Organen selbst nicht leistet." Hier der Text des Gesetzentwurfs, der gestern im Bundestag angenommen wurde.

Weiteres: Dieter Bartetzko schwärmt von David Chipperfields "sublimen" Klassizistik-Zitaten bei seiner Galerie für Heiner Bastian am Berliner Kupfergraben (mehr auf Chipperfields Homepage). 1847 wurde das erste Literaturmuseum Deutschlands in Friedrich Schillers Haus in Weimar eingerichtet, weiß Paul Kahl. Auf der letzten Seite druckt die FAZ einige Seiten aus den Notizbüchern von Robert Gernhardt, die derzeit im Literaturarchiv in Marbach zu sehen sind.

Rose Maria-Gropp erfährt von Gunter Sachs in Bilder und Zeiten, dass seine Vorliebe für blonde Frauen wahrscheinlich von der Märchenlektüre im Kindesalter herrührt. Felicitas von Lovenberg erklärt die Anonymität zum Luxus der Zukunft und hofft auf Suchmaschinen ohne Gedächtnis und nicht zurückverfolgbare E-Mail-Adressen. Lovenbergs Artikel selbst ist im Internet jedenfalls schon mal erfolgreich unauffindbar. Tilman Spreckelsen gedenkt der Autorin Astrid Lindgren, die am 14. November 1907 geboren wurde. Lars Jensen fragt sich mit dem FBI, wie Rufino Tamayos Bild "Tres Personajes" 2003 im New Yorker Müll landen konnte.

Auf der Schallplatten- und Phonoseite staunt Patrick Bahners über die "alterslose Energie" der Ärzte, die mit "Jazz" ein neues Album vorgelegt haben. Außerdem wird eine CD mit späten Werken von Valentin Silvestrov und die neue Platte der Eagles vorgestellt, "Long Road Out Of Eden".

Besprochen werden die Dauerausstellung zur Geschichte des Sklavenhandels in einem ehemaligen Zuckerlager in London, Choreografien von Martin Schläpfer und Christopher Bruce in Mainz, ein Auftritt des Musikers Vic Chesnutt in Heidelberg, Stefan Puchers Inszenierung von Shakespeares letztem Drama "Der Sturm" in den Münchner Kammerspielen, eine Ausstellung zur Geschichte des Frankfurter Städel-Museums ebendort, und Bücher, darunter eine deutsche Ausgabe von Astrid Lindgrens "Ur-Pippi" und die neue Werkausgabe von Karl Philipp Moritz.

SZ, 10.11.2007

Für hoch problematisch hält Franziska Augstein das von Kulturstaatsminister Bernd Neumann vorgelegte Gedenkstättenkonzept (hier als pdf): "In Gestalt Herrn Neumanns will die Bundesregierung dekretieren, wie die DDR-Alltagskultur im Museum präsentiert werden soll: 'Darstellungswürdig sind nicht die vermeintlichen Bindungskräfte der DDR, sondern das 'Angst-Anpassungssyndrom des Alltags'. Wer damals keine Angst hatte, so liest sich das, soll jetzt lernen, dass er sich geirrt hat. Diktaturen oktroyieren ihre Auffassung der Geschichte. In einer pluralistisch verfassten Gesellschaft steht das einer Regierung nicht an: Sie hat nur die Rahmenbedingungen für eine kritisch-aufgeklärte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu schaffen. Der Rest muss der Gesellschaft überlassen bleiben."

Weitere Artikel: Das Münchner Haus der Kunst veranstaltete ein Symposion über gebaute Ideologie - peinlicherweise schienen sich, so Andreas Zielcke, die teils im Dienste von Diktaturen tätigen versammelten Größen (etwa Rem Kohlhaas) ein "gespenstisches Schweigegelübde" auferlegt zu haben und sprachen kein kritisches Wort. Über die Krise des französischen Weinanbaus in Zeiten der Globalisierung informiert Alex Rühle. Lothar Müller hat eine Tagung an der Humboldt-Universität besucht, bei der es um die Gips-Abgüsse antiker Skulpturen ging und ihr Verhältnis zu den Originalen. Maike Albath gratuliert dem Schriftsteller Luigi Malerba zum Achtzigsten. Den Nachruf auf den Schauspieler Romuald Pekny schreibt "midt".

Im Zentrum der Literaturseite steht der Briefwechsel zwischen Hans Blumenberg und Carl Schmitt. Daneben geht es um Helmut Kraussers Poetik-Vorlesungen über das Pathos und Peter Reichels Biografie des Vormärz-Revolutionärs Robert Blum (dazu mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Besprochen werden Stefan Puchers "Sturm"-Inszenierung an den Münchner Kammerspielen, eine Ausstellung in Barcelona, die zeigt, wie sich einst Paris und New York um die Kunst Jackson Pollocks stritten, Menno Meyjes Film "Mein Kind vom Mars" und eine ruandische Inszenierung von Peter Weiss' "Ermittlung" am Young Vic in London.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende denkt Holger Gertz über echte (Cathy Freeman) und falsche (Marion Jones) Heldinnen und Helden nach. Hans Hoff hat Robert Plant und John Paul Jones von Led Zeppelin in London getroffen. Christoph Neidhart bedauert, dass die klassische japanische Ästhetik aus dem Alltag verschwunden scheint. Auf der Historien-Seite geht es um den gerade seinen 100. Geburtstag feiernden norwegischen Ruderklub in Berlin. Alex Capus erzählt "aus dem Leben des heimatmüden Landvermessers Ferdinand Rudolf Hassler". Im Interview spricht Patrick de Funes über seinen Vater Louis und dessen in Frankreich nach wie vor immens beliebten Filme.