Heute in den Feuilletons

"Krähenjagen"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.11.2007. In der NZZ erinnert der Schriftsteller Mircea Cartarescu an die ehemalige Versklavung der Roma durch die Rumänen. Die Zeit bringt zweimal Habermas, einmal zur religiösen, einmal zur europäischen Frage. In der FAZ fordert Esther Schapira die deutschen Politiker zur Klarsicht gegenüber dem Islamismus auf. In der FR meditiert Hans Christoph Buch über den Augenblick, in dem nicht nur die Darsteller, sondern auch die Besucher im dunklen Kinosaal vor Erregung zu stöhnen beginnen. In der SZ lernen wir über die Banlieue: Integration heißt erstmal Verkehrsanbindung.

NZZ, 29.11.2007

Der rumänische Schriftsteller Mircea Cartarescu erinnert daran, dass es die Rumänen selbst waren, die die Roma in Elend und Delinquenz gezwungen haben - durch ihre Versklavung: "Über einige Jahrhunderte hinweg konnten sie gekauft und verkauft werden, Familien wurden auseinandergerissen, die Kinder von den Müttern, die Frauen von ihren Männern getrennt, die jungen Frauen in aller Regel von den Besitzern vergewaltigt, das 'Krähengesocks' war Ziel allgemeiner Verachtung und Diskriminierung. Irgendeiner der Wojwoden ließ sie die Bäume hochklettern und holte sie dann mit Pfeilen von da runter: Er nannte das Krähenjagen. Ortsgebunden und wie die Tiere gehalten, vermehrten sich die Zigeuner in den rumänischen Fürstentümern stärker als irgendwo sonst in Europa. Wir sind es somit selbst, die sich das Zigeunerproblem geschaffen haben. Es ist unsere historische Schuld."

Judith Leister stellt Juri Andruchowytschs neue Essays "Engel und Dämonen der Peripherie" vor, in denen der Schriftsteller seiner Enttäuschung über die missglückte Revolution in der Ukraine Luft macht. Und über Europa, das dem Land noch immer die kalte Schulter zeige: "Er spart nicht an drastischen Worten: Die EU sei 'eine Vereinigung postimperialer Loser, von denen es keinem gelungen war, für sich allein eine Supermacht zu werden'."

Besprochen werden die Ausstellung "Japan und der Westen" in Wolfsburg und die "Beowulf"-Sage in neuer Prosaübersetzung (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr). Auf der Filmseite geht's um Julie Taymors "zu Herzen gehendes" Sixties-Musical "Across the Universe" und Ben Afflecks Regiedebüt "Gone, Baby, Gone".

FR, 29.11.2007

"Über hundert echte oder gespielte Orgasmen" hat Hans Christoph Buch beim PornFestival in Berlin gesehen und wenn wir das richtig verstehen, neigt er jetzt einer Freigabe des Pornofilms zu: "In diesem Augenblick, wenn nicht nur die Darsteller, sondern auch die Besucher im dunklen Kinosaal vor Erregung zu stöhnen beginnen, wird deutlich, dass wir einer schwarzen Messe beiwohnen, einem Geheimritual oder Mysterienspiel, das im Zentrum nicht nur der westlichen Gesellschaft, sondern jeder menschlichen Gemeinschaft steht und profanen Blicken entzogen bleibt, weil das Sakrale und das Obszöne, Blasphemie und Erhabenheit zwei Seiten ein- und derselben Sache sind."

Weitere Artikel: Jürgen Otten schreibt zum Tod Gudrun Wagners: Ob sie wirklich die heimliche Herrscherin in Bayreuth war, wie jetzt überall gemunkelt wird, weiß er auch nicht, aber eins ist für ihn klar: Die Chancen Katharinas auf die Nachfolge Wolfgang Wagners "dürften sich nach dem Tod der Mutter erhöht haben". In Times Mager singt Ina Hartwig ein Loblied auf eine unbekannte Frankfurter Bademeisterin.

Besprochen werden Leander Haußmanns Filmkomödie "Warum Männer nicht zuhören können und Frauen schlecht einparken" ("Dieser Film ist wie Fliegenpapier, man bleibt daran kleben, ob man will oder nicht", prophezeit Daniel Kothenschulte, allerdings schon gestern, wie wir gerade feststellen), Ben Afflecks Regiedebüt "Gone Baby Gone", das Wiedervereinigungskonzert der Krautrock-Supergroup Harmonia in Berlin ("wirklich war Brian Eno damals von der Musik so begeistert, dass bösartige Stimmen behaupten, er habe sie kopiert", kolportiert Elke Buhr) und Wolfgang Englers Buch "Unerhörte Freiheit" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 29.11.2007

Noch nie hat Barbara Schweizerhof einen Mörder so sympathisch gefunden wie den serienmordenden Kontrollfreak Earl Brooks in Bruce Evans' Thriller "Mr. Brooks": "In seiner Sucht ist Earl Brooks ganz bei der Sache und bei sich. Er tötet mit wohligem Schauder; sein Wohlgefühl hat dabei nichts von der Häme gewöhnlicher Bösewichter, es ist ein durch und durch bürgerlicher Genuss, dem Verkosten edler Weine vergleichbar. Anders als sonst im Thriller steht nicht die Gewalt im Zentrum, das, was den Opfern angetan wird, sondern der Genuss des Täters - mit den genannten Folgen für den Zuschauer." Gespielt wird Mr. Brooks von Kevin Costner.

Weiteres: Tanja Dückers gratuliert der Literaturzeitschrift Am Erker, als deren Merkmal sie die "Vorliebe für kurze, lakonische, skurril akzentuierte, den Alltag mikroskopierende Prosa" nennt, zum dreißigjährigen Bestehen. Jürgen Vogt meldet, dass das Filmfestival Buenos Aires gefährdet ist. Frieder Reininghaus verabschiedet die gestern verstorbene Prinzipalin von Bayreuth, Gudrun Wagner.

Besprochen werden Rudolf Schweigers Spielfilm über Bundeswehrsoldaten im Kosovo "Mörderischer Frieden" und die Werkschau der schwedischen Videokünstlerin Johanna Billing im Kunstmuseum Basel.

Und Tom.

Welt, 29.11.2007

Eckhard Fuhr kämpfte sich durch 1100 Seiten Robert-Havemann- und Wolf-Biermann-Abrechnung von Florian Havemann: "Dieses Buch ist ein Monstrum, ein Dokument des Größenwahns, der Niedertracht und der üblen Nachrede. Aber es steckt auch voller Weisheit und genauer Selbst- und Weltbeobachtung. Und niemand würde sich durch seine 1100 Seiten kämpfen, wenn der Klatsch und Tratsch aus dem Dissidentenleben in deutschen Diktaturen nicht auch höchst unterhaltsam wäre."

Weitere Artikel: Manuel Brug macht sich nach dem überraschenden Tod Gudrun Wagners fällige (aber nicht unbedingt überraschende) Gedanken über die Nachfolgefrage. Antje Hildebrandt unterhält sich mit Hans-Dieter Schlosser, der der Jury für die Wahl des "Unworts des Jahres" vorsteht. Berthold Seewald zieht in der Leitglosse eine recht freundliche Bilanz des "Jahres der Geisteswissenschaften". Michael Stürmer bringt neue Details zum Streit zwischen dem Prinz von Baden und dem Land Baden-Württemberg. Marion Leske berichtet, dass in Köln ein Zentrum für Künstlernachlässe entsteht. Michael Pilz schreibt über die Exhumierung der einstigen Supergruppe Harmonia. Hendrik Werner meldet, dass ein Band der Rudolf-Steiner-Ausgabe wegen rassistischer Passagen zurückgezogen wird.

Auf der Filmseite werden Martin Gypkens Judith-Hermann-Verfilmung "Nichts als Gespenster" und Leander Haußmanns Verfilmung von "Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken" besprochen. Besprochen wird außerdem eine CD des Tenors Rolando Villazon.

FAZ, 29.11.2007

Die Filmemacherin Esther Schapira weiß, was sie gehört hat - nämlich hetzerische Äußerungen des Rappers Muhabbet gegen Theo van Gogh - und sie versteht die gelassenen Reaktionen nicht: "Es mangelt mir zunehmend an jener Gelassenheit, die der Außenminister einfordert, wenn er verlangt, 'unaufgeregt' damit umzugehen, dass sein Gesangspartner Muhabbet den brutalen Mord am niederländischen Filmemacher Theo van Gogh gebilligt hat. Ich rege mich auf. Ich werde die Bilder dieser hinterhältigen Schlachtung einfach nicht los. Theo van Gogh wurde am helllichten Tag auf offener Straße massakriert." Und an die Adresse Steinmeiers: "Politiker müssen sich der Realität stellen, nicht sie verleugnen."

Weitere Artikel: In der Glosse befasst sich Dirk Schümer mit der Filz- beziehungsweise Schamlaus, die so rar geworden ist, dass ein Rotterdamer Museum zur Sammlung der letzten Exemplare aufrief. Mark Siemons unternimmt einen kulinarischen Kulturvergleich und besucht Restaurants in Peking. Gina Thomas porträtiert den Kunstgelehrten Nicholas Penny, der aller Voraussicht nach die Leitung der National Gallery übernehmen wird. Dieter Bartetzko vermeldet, dass nach einer 20-Millionen-Euro-Spende des SAP-Gründers Hasso Plattner die barocke Potsdamer Schlossfassade wohl wirklich gebaut werden kann. Zum Tod Gudrun Wagners schreibt - mit dem Untertitel "Cosima III" - Julia Spinola. Den Nachruf auf den Verleger Albrecht Knaus hat Hannes Hintermeier verfasst.

Auf der Kinoseite stellt Rüdiger Suchsland den von der Kritik verachteten deutschen Videospielvielverfilmer Dr. Uwe Boll vor - ab dieser Woche mit "Schwerter des Königs - Dungeon Siege" im Kino. Andreas Platthaus berichtet vom Berliner Pictoplasma-Kurzfilmfestival. Auf der Medienseite klärt ein Interview mit einer ehemaligen GEZ-Drückerin über die Methoden dieser Anstalt auf. Und Harald Staun stellt ein Gutachten vor, dass Gratiszeitungen eine höhere Qualität bescheinigt als bisher angenommen.

Besprochen werden zwei Parmigianino-Ausstellungen in München, Dito Tsintzadzes Film "Der Mann von der Botschaft", Michael Simons Kölner Inszenierung "Ich, Moby Dick", ein Kölner Konzert von "The National" und Bücher, darunter die von Richard Swartz herausgegeben Südosteuropa-Anthologie "Der andere nebenan" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 29.11.2007

Ein wichtiger Grund für das Scheitern der französischen Integrationspolitik ist, dass man seit 20 Jahren eine "regelrechte Gettoisierung betreibt", erklärt die französische Migrationsforscherin Catherine Withol de Wenden (mehr hier und hier) im Interview mit Blick auf die Krawalle in den Banlieues. "Bei unseren Untersuchungen haben wir festgestellt, dass gerade die Immigranten aus Bezirken mit guter Verkehrsanbindung schneller Anschluss an die Gesellschaft finden. Soziale Mobilität hat heute viel mit physischer Mobilität zu tun. Viele der Vororte wurden in den sechziger Jahren hochgezogen, als das Auto noch das wichtigste Fortbewegungsmittel war. Es gab dort so gut wie keine öffentlichen Verkehrsmittel. Heute sieht das ähnlich aus."

Weitere Artikel: 20 Millionen Euro will der Milliardär Hasso Plattner für die Wiedererrichtung des Potsdamer Stadtschlosses spenden, verbunden ist dies mit der Auflage, das Geld für eine "größtmögliche Wiederannäherung" an die ursprüngliche Knobelsdorffsche Fassade zu verwenden, was Andreas Zielcke für genau die richtige Mitte "zwischen Nötigung und Wohltat" hält. Gudrun Wagner ist gestorben, Michael Struck-Schloen hofft nun, dass "Gudruns Andenken" einen Neubeginn in Bayreuth nicht verhindert. Holger Liebs berichtet über die russische Zensur küssender Polizisten (mehr hier). Wenigstens einen wunderbaren Film hat Hans Schifferle beim Kurzfilmfestival in Regensburg gesehen: "Home" von Morag McKinnon. Fritz Göttler resümiert beschwingt das Münchner Festival der Filmhochschulen. Jens Bisky stellt die neue Lounge in Hans Poelzigs Berliner Haus des Rundfunks vor. Henning Klüver meldet das Ende der Streiks an italienischen Opernhäusern.

Auf der Medienseite empfiehlt Wolfgang Schreiber - trotz einiger Mängel - Enrique Sanchez Lanschs gekürzten Dokumentarfilm über das Berliner "Reichsorchester", der um 23 Uhr gezeigt wird. Simon Feldmer skizziert die Folgen der neuen EU-Fernsehrichtlinie für das Werbeverhalten der Sender.

Besprochen werden ein Haydn-Konzert mit Andras Schiff in München, Martin Gypkens' Verfilmung von Judith Hermanns Buch "Nichts als Gespenster", Ben Afflecks Regiedebüt "Gone Baby Gone" ("Affleck setzt der Finsternis Kampfgeist entgegen, Rebellion", freut sich Susan Vahabzadeh), Richard Shepards Film "The Hunting Party" mit Richard Gere und Terrence Howard, eine Ausstellung über Richard Wagners Wirkung auf die Bildkunst im Pariser Musee de la Musique ("Viel gemalte Glorie, viel Geniekult und Hagiografie, dazu per Kopfhörer die geheiligte Wagner-Hitliste - seltsamerweise aber kaum Parodie", stellt Claudio Gutteck fest), eine Retrospektive von Frank Scheffers musikalischen Dokumentarfilmen beim Festival Wien Modern und Bücher, nämlich Laurent Julliers Analyse von "Star Wars", Durs Grünbeins "Strophen für übermorgen" und Jacques Tardis Paris-Comic "Das Geheimnis des Würgers" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Zeit, 29.11.2007

Jean-Luc Godard, der für sein Lebenswerk mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet wird, beantwortet müde, resigniert und dann doch wieder sehr neugierig Fragen zum Tennis und zum Kino. "Ich will mich gar nicht über das Gegenwartskino beklagen. Ich sage nur, dass die meisten Regisseure und Dreiviertel der Leute, die jetzt in Berlin Preise bekommen, die Kamera nur benutzen, um selbst zu existieren. Sie benutzen sie nicht, um etwas zu sehen, was man ohne Kamera nicht sieht."

Zweimal Jürgen Habermas in der heutigen Zeit. Im Feuilleton entgegnet er auf die Thesen von Paolo Flores d'Arcais, er sei "zwar alt, aber nicht fromm" geworden und zitiert aus seinem Aufsatz in den Dezember-Blättern für deutsche und internationale Politik, wo er dafür plädierte, die demokratische Öffentlichkeit auch für religiöse Beiträge offenzuhalten, solange die politischen Institutionen säkular bleiben: "Warum sollten säkulare Bürger im potentiellen Wahrheitsgehalt von Glaubensäußerungen nicht eigene, seien es verborgene oder unterdrückte Intuitionen wiedererkennen können?"

Im vorderen Teil ist eine gekürzte Fassung von Habermas' Rede beim SPD-Kulturforum abgedruckt. Sie ist vor allem ein Plädoyer für ein stärkeres Europa, das nicht nur von einer Elite, sondern allen Bürgern geprägt wird. "Solange sich nicht im Rahmen der nationalen Öffentlichkeiten das übliche Spektrum der Meinungsbildung um einschlägige Themen erweitert und solange sich die nationalen Öffentlichkeiten bei europäischen Themen nicht füreinander öffnen, können die Bürger von einer formal gestärkten Stellung des Parlaments selber keinen Gebrauch machen."

Weitere Artikel: Hanno Rauterberg vergleicht anlässlich der Cranach-Ausstellung im Frankfurter Städel die Bilder des vor fast 500 Jahren gestorbenen Malers mit Bildern von Norbert Bisky. John Neumeier schreibt zum Tod seines Kollegen Maurice Bejart. Volker Hagedorn nimmt Abschied vom Beaux Arts Trio, das sich 2008 auflösen wird. Wenig amüsiert hat sich Mirko Weber bei der Verleihung des Theaterpreises Faust in München.

Besprochen werden Martin Gypkens Judith-Hermann-Verfilmung "Nichts als Gespenster" ("ein anmutiges, dem Auge schmeichelndes Bilderbuch aus dem Leben einer ganzen Generation", schreibt Iris Radisch), Pop-CDs von Bum Khun Cha Youth und Mattafix und Rudolf Schweigers Film "Mörderischer Frieden".

Im Aufmacher des Literaturteils stellt Konrad Heidkamp die Erinnerungen der Jazz-Mäzenatin Baronesse de Koenigswarter vor (mehr in unserer Bücherschau des Tages). Das Dossier widmet sich chinesischen Investoren in Europa.