Heute in den Feuilletons

Schnecken-Porridge, schwarzer Pudding

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.02.2008. Die Welt weiß, warum die Cinema for Peace-Gala bei der Berlinale eher eine Cinema for Peace with Putin-Gala war. Die FAZ findet: Borges war ein Internet, in das man sich versenken kann. Die taz fragt, ob es Künstler-Künstler heute überhaupt noch geben kann, wo das Leben so teuer ist. Die NZZ lernt Creative Writing mit Martin Amis - für 3.240 Pfund. Die SZ fand die Sammlung Bührle nicht ausreichend gesichert, teilt es aber jetzt erst mit.

Welt, 12.02.2008

Von einer vielsagenden Begebenheit am Rande der Berlinale berichtet Hanns-Georg Rodek. Der Dokumentarfilm "Letter to Anna" über die ermordete Journalistin Anna Politikowskaja wurde erst vom Festival abgelehnt und fand dann noch nicht einmal einen Ort, an dem er im Rahmen der Promi-Gala "Cinema for Peace" gezeigt werden konnte. Die Akademie der Künste lehnte ebenso ab wie die Schweizer Botschaft. Bei der Pressekonferenz vor der Aufführung im Berliner Ensemble fehlte dann Garri Kasparow, berichtet Rodek weiter: "Sehr wohl zu sehen war Hans-Reiner Schröder, Berliner Niederlassungsleiter von BMW. Recherchen ergaben, dass BMW offenbar nicht mit Kasparow öffentlich auftreten wollte; der Münchner Autobauer hat erhebliche Interessen im Putin-Staat und betreibt in Kaliningrad ein Montagewerk."

Besprochen werden zwei Wettbewerbsfilme der Berlinale: Jose Padilhas Polizeifilm "Tropa de Elite" und Doris Dörries Film "Kirschblüten", den Peter Zander als "großes, anrührendes Drama" bewundert. Hanns-Georg Rodek schreibt zur Hommage auf den italienischen Regisseur Francesco Rosi.

Der Schriftsteller Rolf Schneider erinnert sich an 1968, das sich von seiner Seite der Mauer etwas anders darstellte und eher von Dubcek als von Dutschke bestimmt war. Total auf die Nerven gingen ihm die aus Westberlin einfallenden Jung-Politologen: "Im klassischen Marxismus-Leninismus waren gewöhnlich wir die Beleseneren, auch deswegen schien uns das ideologische Omnipotenzgehabe der Gäste suspekt."

Weiteres: Peter Dittmar vermutet hinter dem Raub der vier Impressionisten-Gemälde aus der Zürcher Sammlung Bührle weniger den ominösen Privatsammler als vielmehr Lösegeldforderung der organisierten Kriminalität. Matthias Heine schreibt zum Tod von Schauspieler Roy Scheider.

Perlentaucher, 12.02.2008

Zweiter Teil des Vorabdrucks aus Götz Alys Buch über 1968 "Unser Kampf" - Die 68er agierten nicht in guter Gesellschaft: "Die Jugendlichen lebten in einem Land, in dem der Busen der Knef ebenso verboten war wie die Kommunistische Partei und in dem die DDR nicht DDR genannt werden durfte. Der bis Ende 1966 tätige Vizekanzler Erich Mende (FDP) stolzierte mit dem Ritterkreuz herum, das ihm Adolf Hitler verliehen hatte."
Stichwörter: 1966, Hitler, Adolf, FDP, Aly, Götz

TAZ, 12.02.2008

Isabelle Graw, Herausgeberin der Texte zur Kunst, fragt sich, ob es Künstler-Künstler, die vor allem unter Kollegen bekannt sind, heute überhaupt noch geben kann. "Eine solche Haltung, die auf Achtungserfolg setzt und sich mit diesem begnügt, scheint mittlerweile keine Option mehr zu sein. Schon die gestiegenen Lebenshaltungskosten und der in jeden Aspekt des Lebens hineinreichende Markt führen dazu, dass sich kaum jemand die Position des Künstler-Künstlers leisten kann. Es sei denn, er wird von zu Hause finanziert. Aber selbst dann fällt es schwer, die Position des Künstler-Künstlers auf Dauer durchzuhalten. Denn um einen herum manifestiert sich mit Wucht die Macht des Markterfolgs, der ja zunehmend symbolische Bedeutung generiert, mithin mit künstlerischer Relevanz gleichgesetzt und verwechselt wird. Wer wollte sich da schon mit einer rein symbolischen Anerkennung - etwa durch befreundete Künstler - begnügen?"

Weiteres: Trotz der Bedenken eines Cousins von Anne Frank wird das spanische Musical über die von den Nationalsozialisten Ermordete Ende des Monats im Madrider Calderon-Theater uraufgeführt werden, bestätigt Reiner Wandler. In der zweiten taz berichtet Arno Frank, dass Barack Obama für die Hörbuchversion seiner Autobiografie mit einem Wahlhelfer-Grammy ausgezeichnet worden. Rezensiert und nicht für allzu gelungen befunden wird die von der Bundeszentrale für politische Bildung organisierte, für Wolfgang Gast inhaltlich "auffällig leere" Ausstellung "68 - Brennpunkt Berlin" im Berliner Amerikahaus.

Besprochen werden natürlich auch eine ganze Reihe Berlinale-Filme: Jacques Doillons "Le premier venu", die Retrospektive zum neapolitanischen Regisseur Francesco Rosi, Singing Chens "God Man Dog", Peter Geyers "Jesus Christus Erlöser", Brad Andersons "Transsiberian", Doris-Dörries "Kirschblüten - Hanami" sowie Laetitia Massons "Coupable".

Und Tom.

FR, 12.02.2008

Gerhard Midding würdigt den neapolitanischen Regisseur Francesco Rosi, dem auf der Berlinale mit einer Retrospektive und einer kleinen Ausstellung gehuldigt wird. Daniel Kothenschulte schreibt den Nachruf auf den amerikanischen Schauspieler Roy Scheider, der mit "French Connection" und dem "Weißen Hai" seine Erfolge feierte. Harry Nutt kann sich in einer Times mager kaum vorstellen, dass der Auftraggeber des Bilderraubs in Zürich ein stiller, kultivierter Connaisseur ist.

Besprechungen widmen sich der Ausstellung "Kopfkino" mit Werken junger Comic-Autoren im Kunsthaus Dresden, Sandra Leupolds Inszenierung von Paul Dukas' Oper "Ariane et Barbe-Bleue" in Frankfurt und Knud Romers Roman "Wer blinzelt, hat Angst vor dem Tod".

Tagesspiegel, 12.02.2008

Suroosh Alvi vom Vice-Magazine erzählt im Interview mit Sebastian Handke von den schwierigen Dreharbeiten für seinen Dokumentarfilm über "Acrassicauda", eine Heavy-Metal-Band in Bagdad, der kürzlich auf der Berlinale lief. Wie die Journalisten arbeiten, hat er auch mitbekommen. Auf die Frage, wer die Fernsehbilder dreht, antwortet er: "Die Iraker selbst. Das funktioniert so: für CNN beispielsweise gibt es einen Mann vor Ort. Der verlässt allerdings nie das sichere CNN-Gelände. Wenn etwas passiert, werden irakische Teams geschickt. Die bringen dann die Bilder zurück und der CNN-Mann spricht vor einem blue screen den Kommentar. Niemand traut sich in die Stadt."

NZZ, 12.02.2008

Georges Waser berichtet vom Boom der Creative-Writing-Kurse an britischen Universitäten, die allerdings recht teuer geworden sind, seit berühmte Schriftsteller dort unterrichten: "In Manchester, wo (Martin) Amis lehrt, kostet der CW-Kurs vorläufig noch 3240 Pfund; bald soll die Gebühr 'etwas erhöht' werden... Ende Januar enthüllte die Times, dass Amis von der Universität ein jährliches Gehalt von 80.000 Pfund empfängt - was für einen, der im Jahr nur 28 Stunden zu unterrichten habe, heiße: 3.000 Pfund pro Stunde."

Weiteres: Uwe Justus Wenzel berichtet vom Symposion "Kritik als Beruf" an der Carl-von-Ossietzky-Universität in Oldenburg. Besprochen werden Samuel und Frederic Guillaumes Puppentrickfilm "Max & Co.", Othmar Schoecks "packende, bedrängende" Aufführung der "Penthesilea" in Dresden und Bücher, darunter der Gedichtband "Gespräch im Winter" des Litauers Tomas Venclova und Sarah Shun-Lien Bynums Debüt "Madeleine schläft" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 12.02.2008

Paul Ingendaay betätigt sich im Aufmacher als Perlentaucher und resümiert einen Artikel der New York Times, der wiederum ein Buch der argentinischen Literaturwissenschaftlerin Perla Sasson-Henry resümiert, die Jorge Luis Borges als großen Vorausahner der Allverknüpfbarkeit und des uferlosen Wissens im Internet beschreibt. Aber Ingendaay wäre kein deutscher Qualitätsjournalist, wenn er Borges nicht gleich auch gegen die "kosmische Banalität des Internets" in Schutz nähme: "Er scherte sich nicht, während sich das Internet gefräßig um alles und jedes schert, auch das Blödeste und Niedrigste. Dafür brauchen wir es, gewiss, und offenbar wollen wir es sogar und sind also selbst schuld; aber zugleich entfernen wir uns von der Möglichkeit zur Versenkung, die vor der Ankunft dieses konzentrationstötenden Mediums einmal existierte." (Wir empfehlen: Einfach mal Computer herunterfahren und lesen!)

Weitere Artikel: Julia Voss kommentiert den Schweizer Kunstraub. Stefanie Peter meldet, dass die Feldpostmarkensammlung aus dem Warschauer Aufstand inzwischen versteigert wurde und ans Museum des Warschauer Aufstands geht. Michael Althen schreibt zum Tod von Roy Scheider. Jordan Mejias gratuliert dem Zukunftsforscher Ray Kurzweil zum Sechzigsten. Gemeldet wird, dass Brockhaus seine nächste große Edition nur noch ins Netz stellen und sich künftig von Werbung finanzieren will.

Auf der Berlinaleseite geht's um den allerletzten Teil der säkularen "Kinder von Golzow"-Reihe. Und Verena Lueken meint, dass der Wettbewerb bisher - wie im letzten Jahr - die schwächste Reihe des Festivals sei. Auf der Leserbriefseite findet sich eine Intervention des Widerstandskämpfererben Levin von Trott zu Solz, der sich trotz aller Debatten um Stauffenberg-Darsteller Tom Cruise und Scientology hoffnungsfroh gibt: "Der Film des hochbegabten, jungen jüdisch-amerikanischen Regissuers Bryan Singer wird eine Wirkung auch in Deutschland haben."

Auf der Forschung-und-Lehre-Seite schildert Kilian Trotier die Tücken eines Bachelor-Studiengangs am Beispiel einer kanadischen Universität. Für die letzte Seite besucht Dirk Schümer die römische Filmstadt Cinecitta. Thomas Thiel schreibt ein Profil der Grammy-Preisträgerin Amy Winehouse. Und Stephan Sahm annonciert eine dreistündige Generaldebatte über Stammzellforschung im Bundestag.

Besprochen werden Peter Handkes "Stunde da wir nichts voneinander wussten" im Londoner National Theatre, Recital-CDs der Sopranistinnen Diana Damrau (mehr hier) und Kate Royal (Hörproben) und Paul Dukas' "Barbe bleue"-Oper in Frankfurt.

SZ, 12.02.2008

Aus dem Kunstmuseum der Stiftung Bührle in Zürich sind bei einem Raubüberfall Meisterwerke von Degas, Monet, Cezanne und van Gogh gestohlen worden. Die Täter kamen durch den Haupteingang, die Bilder hätten bei der fahrlässigen Sicherung allerdings auf viele Arten geklaut werden können, weiß Stefan Koldehoff und macht einen Vorschlag. "Besonders gut gesichert schien die Sammlung Bührle nie. Wer das Haus im Sommer besuchte und über die knarrenden Dielen im Erdgeschoss den Hauptsaal betrat, fand die Tür zur Terrasse oft weit geöffnet. Dort saß ein freundlicher älterer Herr auf einem Stuhl und las in der Zeitung. Mehr Wachpersonal war nicht sichtbar. Kameras, die Diebe abschrecken könnten, waren nicht zu sehen. Von der Terrasse führte ein Weg um das Haus herum direkt zum Parkplatz. Weit wäre auch dieser Weg für Kunsträuber nie gewesen."

Maren Preiss fordert die deutschen Köche auf, nicht nur mediterran zu zaubern, sondern innerhalb einer deutschen Autorenküche Eisbein und Sauerkraut neu zu interpretieren. So wie Heston Blumenthal es in England macht. "Anders als viele deutsche Spitzenköche verleugnet Blumenthal das kulinarische Erbe seiner Landesküche nicht. In seinem 3-Sterne-Restaurant 'The Fat Duck' serviert er die Puddings, Pies und Porridges der britischen Hausmannskost, die er mit Hilfe der Molekulargastronomie veredelt. Ob Schnecken-Porridge, schwarzer Pudding oder das Nationalgericht Rührei mit Speck - mit 180 Grad kaltem Stickstoff zubereitet, wird schnödes Frühstücksrührei zum Dessert, dazu der zu einer Kugel Eis mutierte Speck."

Weiteres: Thomas Steinfeld entwirft einen Masterplan für das darbende Lindenau-Museum im thüringischen Altenburg und versucht zu erklären, dass Events nicht per se schlecht sind und die Bereitstellung von Momenten des "Innehaltens" Kulturfreunde aus der ganzen Welt anlocken könnten. Bei der Grammy-Verleihung vermiste Reinhard J. Brembeck die Innovation. Johannes Willms bedauert, dass die angekündigte flexible Kulturpolitik in Frankreich wohl wegen des lautstarken Protests der arrivierten Künstler, die um ihre Pfründe fürchten, nicht umgesetzt wird. Wolfgang Schreiber nutzt eine Zwischenzeit, um die Musik als Zeit-Kunst zu definieren, die das Vergehen derselben verdeckt. Fritz Göttler schreibt zum Tod des amerikanischen Filmschauspielers Roy Scheider, Jens Malte Fischer verabschiedet die gestorbene dänische Sopranistin Inga Nielsen.

Im Berlinale-Teil des Feuilletons geht es um die frühen Independent-Filmemacher Kent MacKenzie und Charles Burnett, sowie zwei brasilianische Filme - "Tropa de Elite" und "Cidade dos Homens", die Tobias Kniebe mag, und zwei Werke aus dem Iran ("Avaze Gonjeshk-ha") und den USA ("Elegy"), die er nicht mag.

Besprochen werden Fanny Ardants erste Operninszenierung, Andre Messagers "Veronique" im Pariser Chatelet, und Bücher, darunter Jacques Semelins Analyse von Völkermorden "Säubern und Vernichten" sowie Peter Heathers "grundlegendes" Buch zum "Untergang des Römischen Weltreichs" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).