Heute in den Feuilletons

Ich verliere nur begrenzt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.10.2008. Die NZZ will es nicht recht glauben: Michel Houellebecq und Bernard-Henri Levy sollen Verfemte sein? In der Welt erzählt ein anonymer Banker über die persönlichen Vorzüge seines Jobs. In der FR antwortet Necla Kelek auf Seyla Benhabib: Die Frage ist nicht, wo Frauen in der Türkei mit Kopftuch, sondern wo sie ohne hindürfen. Die SZ zeichnet italienische Debatten über Faschismus und Widerstand nach.

NZZ, 06.10.2008

Ziemlich gelangweilt legt Jürgen Ritte den Briefwechsel "Ennemis publics" zwischen Bernard-Henri Levy und Michel Houellebecq wieder aus den Händen, der doch eigentlich die literarische Sensation dieses Herbstes werden sollte: "Sie sind die Gebrandmarkten, die Aussätzigen, die 'maudits' unserer Tage. Das, so Houellebecq, verbinde sie, die doch sonst so vieles trenne, miteinander und beiläufig auch, so Levy, mit einem Charles Baudelaire. Der Dichter der 'Fleurs du mal' wird es dort, wo er jetzt sein mag, mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen. Levy und Houellebecq haben starke Verleger im Rücken, verkaufen ihre Bücher zehn- und hunderttausendfach in aller Welt, jede Zeitung steht ihnen offen, in jeder Fernsehsendung sind sie höchst willkommen. Verfemte?"

Weiteres: Klaus Bartels spürt der Herkunft der Bürokratie nach. Sieglinde Geisel resümiert das Berliner Literaturfestival. Urs Haffner erzählt die Geschichte der Missionarin Maria Bernarda, die als erste Schweizerin von Papst Benedikt XVI. heilig gesprochen wurde.

Besprochen werden Stefan Puchers "Perser"-Inszenierung in Zürich ("Ein Wurf. Stefan Pucher verzichtet auf jegliche Mätzchen. Er hält sich zurück und packt doch zu", meint Barbara Villiger Heilig) und eine Ausstellung zum Werk Isolde Ohlbaums im Literaturhaus München.

Welt, 06.10.2008

Ein anonymer Banker sieht auf der Magazinseite einen der Gründe für die Krise in einer Art pervertierten Angestelltenmoral - man hat Verantwortung, trägt sie aber nicht: "Die Versuchung ist für uns Banker in so einem Spiel immer die gleiche: Wenn ich gewinne, kann ich dadurch schnell reich werden, wenn ich verliere, kostet mich das höchstens den Job. Dann kann ich mir immer noch überlegen, was ich als Nächstes mache. Die Münze wird geworfen. Kopf: Ich gewinne viel. Zahl: Ich verliere nur begrenzt. Die Gewinnanreize überbieten den möglichen Verlust also bei Weitem. Da bleibt für große moralische Gedanken kein Platz."

Im Feuilleton feiert Peter E. Müller Leonard Cohen und verweist auf folgende Konzerte in Deutschland. Johannes Wetzel liest den in Frankreich heiß erwarteten Briefwechsel zweier prominenter Hassfiguren - nämlich Michel Houellebecq und Bernard-Henri Levy. Sven Felix Kellerhoff rät den deutschen Historikern, sich einem internen Ranking durch den Wissenschaftsrat nicht zu entziehen. Berthold Seewald hat eine Historikerdebatte über das Militärhistorische Museum Dresden angehört, das durch einen Anbau Daniel Libeskinds neue Akzente setzt. Auf der DVD-Seite erinnert Gerhard Midding an Carole Lombard, die in diesen Tagen hundert Jahre alt geworden wäre.

Besprochen wird Lutz Hübners Stück "Geisterfahrer" in Hannover.

Auf der Forumsseite unterhalten sich Veteranen der Popliteratur, Benjamin von Stuckrad-Barre und Moritz Uslar, über ihre Vorliebe für Udo Lindenbergs Lyrics.

FR, 06.10.2008

Necla Kelek widerspricht vehement Seyla Benhabibs Beitrag von Freitag, in dem die an der Yale-Universität unterrichtende Politologin die Kopftuchdebatte in der Türkei als Beginn einer Pluralisierung der Gesellschaft darstellte. Demokratischer Fortschritt, warnt Kelek nun, sei in der Türkei ganz und gar nicht spürbar, im Gegenteil: "Wer genau hinschaut, wird feststellen, dass sich die Türkei seit der AKP-Regierung zu einem Land entwickelt, in dem die islamische Lebensweise das alltägliche Leben zunehmend beherrscht. Es geht nicht mehr darum, ob ein Mädchen mit Kopftuch zur Uni kann, sondern darum, ob sie auf dem Land oder in der Stadt ohne Kopftuch auf die Straße kann, ohne belästigt oder beschimpft zu werden. ... Es gibt in der Türkei weder Freiheit von der Religion noch positive Religionsfreiheit - außer für die sunnitischen Muslime. Die Aleviten, die Christen, die Aramäer, Juden werden diskriminiert und in ihren Riten behindert und bedroht."

Weitere Artikel: In einer Times Mager sinniert Arno Widmann über ehrbare Filmdiven und deren Wirkung auf das männliche Gemüt. Der 47. deutsche Historikertag in Dresden war dem Thema Ungleichheiten gewidmet, bot aber teilweise nur begrenzt globalgeschichtliche Perspektiven, schreibt Andreas Eckert.

Besprochen werden Stefan Puchers politisch hochaktuelle Inszenierung von Aischylos Tragödie "Die Perser" im Schauspielhaus Zürich (eine "wirklich erregend spannende, bewegende Aufführung", schreibt Peter Iden), die Oper "Barbier von Sevilla" im Festspielhaus Baden-Baden, das neue Album der schottischen Band Travis, "Ode To J. Smith", und Sven Regeners Buch "Der kleine Bruder" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 06.10.2008

Ralph Bollmann bemerkte auf dem Deutschen Historikertag in Dresden vorsichtige Veränderungen: "Die Zeiten, in denen sich das Fach mit einer teils esoterischen Themensetzung selbst marginalisierte, gehen möglicherweise dem Ende zu - auch wenn die wortmächtigen Kombattanten, die der Generation der Wehlers und Mommsen nachfolgen könnten, nach wie vor nicht erkennbar sind."

Weiteres: Brigitte Werneburg konnte auf der Shanghai Biennale und der Korea International Art Fair keinerlei Krisenzeichen erkennen, aber auch nur noch bescheidene Erfolge. Besprochen wird das neue Album der New Yorker Band TV On The Radio "Dear Science".

Und Tom.
Stichwörter: Dresden, Historikertag, Korea

SZ, 06.10.2008

Spike Lees neuer Film "Das Wunder von Sant' Anna" über ein Massaker der 16. SS-Panzergrenadier-Division "Reichsführer SS" an Hunderten von Frauen, Kindern und Greisen in einem italienischen Dorf, hat in Italien eine Debatte über den Faschismus ausgelöst, berichtet Henning Klüver. Lange Zeit hätte sich die Mehrheit der Italiener nach dem Krieg im Widerstand wiedererkennen wollen. "Doch in den letzten Jahren wurde eine neue Sichtweise salonfähig. Die Soldaten der faschistischen RSI, so wurde argumentiert, hätten zwar objektiv die falschen Werte vertreten, aber nach der Kapitulation am 8. September 1943 doch subjektiv die Ehre des Vaterlands retten wollen. Besonders die post-faschistische Partei Alleanza Nazionale vertrat diese Sichtweise, nachdem sie durch eine Koalition mit Silvio Berlusconi in den neunziger Jahren 'regierungsfähig' geworden war. Gleichzeitig richtete sich der Blick vieler Konservativer auf die Schattenseiten des Widerstands."

(Vielleicht löst der Film auch bei uns eine Debatte aus, denn einige der 2005 von einem italienischen Gericht zu lebenslangen Haftstrafen verurteilten SS-Männer, so Klüver, leben heute noch auf freiem Fuß in Deutschland.)

Weitere Artikel: Johan Schloemann berichtet vom Deutschen Historikertag in Dresden, wo es um so konkrete Dinge wie "Ungleichheit" und "Klasse" ging. Das Bode-Museum darf seinen schönsten jungen Mann behalten: Baccio Bandinellis bislang nur ausgeliehener Jüngling wurde von den Staatlichen Museen angekauft, freut sich Alexandra Mangel. Nachrichten aus dem Netz schickt Franziska Schwarz. Der Regisseur David Lynch wird anlässlich einer Ausstellung seiner Fotos über die Gemeinsamkeiten von Fotografie und Film interviewt. Christian Jostmann ist unzufrieden mit dem Auftritt der Ökonomen Joseph Stiglitz, Robert Mundell und Eric Maskin beim Dritten Wiener Nobelpreisträgerseminar. Julian Nida-Rümelin und David Linden schreiben in der Reihe "Was weiß die Wissenschaft vom Ich?" Joseph Hanimann gibt seine Eindrücke von Jonathan Littells Reportage aus Georgien wieder, die am Samstag in Le Monde veröffentlicht worden war.

Andrian Kreye wäre beinahe schlecht geworden am Samstagabend mit Thomas Gottschalk und Carla Bruni bei "Wetten, dass...?", wie er auf der Medienseite zu erkennen gibt: "Ach, man solle die Politiker nicht immer so gängeln, hauchte sie da mit ihrer Kleinmädchenstimme, die arbeiteten doch Tag und Nacht für unser aller Wohl und seien ja nur Diener ihres Volkes. Dem Volk, dem sie sich selbst ja immer noch sehr verbunden und nah fühle. Gegen solch geballten Schwachsinn direkt aus dem Elyseepalast wirkt das Sturmgeschütz des amerikanischen Antiintellektualismus Sarah Palin wie große Philosophie. Ansonsten schleppte sich die Show wie gehabt durch drei endlose Stunden voller Herrenwitze und Kalauer. Warum hat man sich damals eigentlich so über Gottschalks Hartz-IV-Witzeleien aufgeregt? Für seine frauenfeindlichen und latent xenophoben Bemerkungen wäre er in jedem zivilisierten Lande längst Gegenstand heftiger Debatten."

Besprochen werden die Uraufführung von Hans Werner Henzes "Elogium Musicum" in Leipzig, die Ausstellung "Pjöngjang, Pjöngjang" im Kreuzberger Künstlerhaus Bethanien über eine Reise von Jenny Rosemeyer, Urenkelin von Otto Grotewohl, und der Künstlerin Eva-Maria Wilde nach Nordkorea, wo sie sich ein Bild vom Einfluss der DDR-Architekten machen wollten, Lars-Ole Walburgs Inszenierung von Felicia Zellers "Kaspar Häuser Meer" im Werkraum der Münchner Kammerspiele, einige DVDs und Bücher, darunter Andrzej Stasiuks "Fado" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 06.10.2008

Der konservative Philosoph Robert Spaemann nennt eine Reihe von Gründen, warum die Atomkraft nach menschlichem Ermessen keine Energieoption sein kann. Der erste der Gründe ist schon sehr grundsätzlich: "Da ist erstens die Vorstellung eines garantierten zivilisatorischen, technisch-wissenschaftlichen Fortschritts oder wenigstens der Erhaltung des heutigen zivilisatorischen Niveaus für die Dauer der Strahlung des Atommülls, also für die nächsten 10000 Jahre. Man muss das voraussetzen, wenn man durch Lagerung des Atommülls No-go-Areas schaffen will, deren Respektierung auch noch nach Jahrtausenden erwartet werden kann, weil das diesbezügliche Know-how noch existiert und weil unsere Warnschilder noch existieren, noch gelesen und noch verstanden werden. Nichts berechtigt zu dieser Erwartung. Sie ist eher eine unwahrscheinliche Annahme."

Weitere Artikel: Kerstin Holm macht in der Glosse an ein paar Beispielen deutlich, was es heißt, dass Russland inzwischen in Sachen Filz und Korruption mit Staaten wie "Bangladesch, Kenia und Syrien" mithalten kann. Die Historikerin Ute Daniel bedauert, dass Hans-Ulrich Wehler in seiner Erfolgsgeschichte der Modernisierung für die Abweichler und Leistungsverweigerer nur Verachtung übrig hat. Mechthild Küpper stellt eine Umfrage vor, die zu den Ergebnissen der Friedrich-Ebert-Stiftung, die Demokratieferne in Deutschland betreffend, in beträchtlichem Widerspruch steht. Jochen Stöckmann hat eine Tagung zu den Gründungsjahren der Bundesrepublik besucht, die in Oldenburg stattfand. Bei einem Nürnberger Symposion zur Mathematik bei Albrecht Dürer war Ernst Horst. Jürgen Kaube porträtiert den Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe, der zum neuen Präsidenten des Deutschen Historikerverbands gewählt wurde.

Besprochen werden die Uraufführung von Hans-Werner Henzes "Elogium Musicum", Herbie Hancocks Eröffnungskonzert zum Heidelberger "enjoy jazz"-Festival, die Giovanni-Bellini-Ausstellung in Rom, eine Züricher Inszenierung der "Perser" von Stefan Pucher und Bücher, darunter Leonard Cohens Gedichtband "Lob der Sehnsüchte" und Peter Springers Geschichte des "Voyeurismus in der Kunst" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Über interessante Revirements im FAZ-Feuilleton berichtet der Spiegel, laut turi2: Felicitas von Lovenberg löst Hubert Spiegel als Literaturchef ab. Spiegel wird Autor.