Heute in den Feuilletons

Troubadour des großen Entgleitens

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.10.2008. Für die Welt unternimmt Necla Kelek einen Streizug durch den türkischen Bücherbasar und entdeckt religiöse Erbauungsschriften neben dem Sprengstoff der Aufklärung. Die FR fragt anlässlich der großen Berliner Retro: Ist Beuys nicht vielleicht doch ein "ewiger Hitlerjunge"? Die taz bringt ein Porträt der britischen Dramatikers Simon Stephens. Die FAZ steht vor dem Trümmerhaufen ihrer von George W. Bush ruinierten Ideale.

Welt, 04.10.2008

In der Literarischen Welt erzählt Necla Kelek eine kurze Geschichte der türkischen Literatur, in der sich nach der Phase des "Hungers nach Klassikern und Literatur" schnell die Übersättigung eingestellt hat: "Heute ist die Türkei wahrlich kein Land der Leser und dominiert wieder die religiöse Literatur den Bücherbasar in Istanbul, die revolutionären Pamphlete der Achtziger sind verschwunden und die der Aufklärung verpflichtete Literatur blüht, wenn auch vielfältig nur in intellektuellen Nischen. Religiöse Erbauungsschriften liegen im Basar neben dem Koran und Hitlers 'Mein Kampf', neben Klassikern, Trivialem und intellektuellem Sprengstoff wie Ece Temelkurans kritischen Bericht 'Agri'nin Derinligi' (Die Tiefe des Ararats) über das Verhältnis von Türken und Armeniern."

"Nicht Vertrauen und Hoffnung sind das Gebot der Stunde, sondern Wissen und Vernunft", gemahnt der Soziologe Wolfgang Sofsky im Feuilleton angesichts der Finanzkrise: "Dass weder Größe noch Tradition, weder Seriosität noch Staatsnähe vor dem Ruin schützen, ist eine Lektion der akuten Krise. Im Kapitalismus, diesem System schöpferischer Destruktion, gibt es Stabilität nur in der Imagination."

Weiteres: Manuel Brug sieht Martin Kusejs Münchner "Macbeth"-Inszenierung in "gut geölter Provokationsroutine" versinken. Uta Baier kommentiert die Ankündigung von Kulturstaatsminister Bernd Neumann, den Museen eine Million Euro für die Erforschung ihrer Bestände zur Verfügung zu stellen. Besprochen werden der Berliner Ausstellungszyklus "Kult des Künstlers" im Hamburger Bahnhof, das neue Album "Dig out your Soul" von Oasis und die ZDF-Produktion "Mein Herz in Chile".

Spiegel Online, 04.10.2008

Skype Text-chats in China werden überwacht, meldet der Spiegel. "Die US-Forschergruppe Citizen Lab hat der chinesischen Internet-Firma TOM, die den Skype-Dienst in China anbietet, in einem 16-seitigen Bericht eine 'umfassende Überwachung mit anscheinend wenig Rücksicht auf die Sicherheit und Privatsphäre der Skype-Nutzer' vorgeworfen. TOM-Skype zeichne Online-Unterhaltungen mit bestimmten Schlüsselwörtern auf, die von den chinesischen Behörden als verdächtig eingestuft wurden." Zu den Schlüsselwörtern gehören Begriffe wie "Demokratie" und "Tibet". Die Forscher von Citizen Lab konnten außerdem "zensierte Nachrichten sowie Millionen persönlicher Daten wie Benutzernamen, IP-Adressen, Telefonnummern und die nötigen Entschlüsselungscodes von acht öffentlich zugänglichen TOM-Skype-Servern herunterladen. Auch Skype-Nutzer aus anderen Ländern fielen der Kontrolle zum Opfer, wenn sie mit einem TOM-Skype-Nutzer in China kommunizierten." Skype-Telefongespräche sollen von der Überwachung angeblich nicht betroffen sein.

Skype-Präsident Josh Silverman gibt sich überrascht: "In April 2006, Skype publicly disclosed that TOM operated a text filter that blocked certain words in chat messages, and it also said that if the message is found unsuitable for displaying, it is simply discarded and not displayed or transmitted anywhere. It was our understanding that it was not TOM's protocol to upload and store chat messages with certain keywords, and we are now inquiring with TOM to find out why the protocol changed."

Dazu passt eine Meldung aus Valleywag: Jimmy Whales, Mitbegründer von Wikipedia, ließ sich kürzlich zusammen mit Chinas Topzensor Cai Mingzhao fotografieren. "The pair also spoke a little bit, but not about 'the fact that a few politically sensitive pages are blocked,' according to an interview Wales gave to Rebecca MacKinnon, an advisory board member at Wikipedia's nonprofit parent, the Wikimedia Foundation."

NZZ, 04.10.2008

Im Gespräch mit Thomas David behauptet Paul Auster in Literatur und Kunst, er habe das Ende des Kapitalismus kommen sehen (aber warum hat er nicht rechtzeitig Bescheid gesagt?): "Es hat mich nicht überrascht, dass das passieren würde. In den letzten vierzig, beinahe fünfzig Jahren haben die USA mit dem Wachstum einer konservativen Bewegung, die schließlich jemanden wie Milton Friedman zur Gottheit des ökonomischen Gedankens erklärte, einen Kapitalismus der reinsten und rohesten Art hervorgebracht. Dieser Dschungel-Kapitalismus verschlingt alles, was ihn umgibt und frisst sich am Ende selbst."

Weitere Artikel: der Philosoph Ralf Konersmann denkt über die Gesichter von Philosophen nach. Der Gießener Philosoph Werner Becker verteidigt den Begriff des Individuums, welcher es verbiete, den Menschen nur als biologisches Wesen zu definieren. Der Filmpublizist Jörg Becker meditiert über die Gesichter des Todes im Kino, und es werden einige Bücher besprochen, darunter Denis Johnsons Roman "Ein gerader Rauch" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Feuilleton antwortet der Anglist Peter Hughes auf die nun schon seit Monaten an den Rest der Welt gestellte Frage "Was ist schweizerisch?" Georg-Friedrich Kühn begutachtet Peter Konwitschnys Einstand mit Schönbergs "Pierrot lunaire" als Chefregisseur der Oper Leipzig.

Besprochen werden die Ausstellung "Venedig von Canaletto und Turner bis Monet" in der Fondation Beyeler in Basel und eine Ausstellung zu W. G. Sebald in Marbach.

Auf der Medienseite erklärt ras. mit einigen Beispielen aus Schweizer Zeitungen, wie das Internet und der Konkurrenzkampf zwischen den Medien dafür sorgen, dass Privates immer stärker in die Öffentlichkeit gezerrt wird. Und Kurt Imhof fürchtet durch eine durch das Internet und den Neoliberalismus ausgelöste "die Entbettung der Medien von ihren sozialen Bindungen. Diese Entwicklung wird zum entscheidenden Faktor der Zerstörung der Balance zwischen Öffentlichkeit und Privatheit."

FR, 04.10.2008

Elke Buhr hat sich die im Rahmen der Ausstellungen zum "Kult des Künstlers" gezeigte große Beuys-Schau im Hamburger Bahnhof in Berlin angesehen und lässt es sich bei aller Verehrung für Beuys nicht nehmen, ein wenig Wasser in den Wein zu gießen: "Der Kunsthistoriker Beat Wyss hat kürzlich in der Zeitschrift Monopol am Mythos Beuys zu kratzen versucht, indem er darauf hinwies, dass Beuys als 'ewiger Hitlerjunge' mit seinen anthroposophisch inspirierten Gesellschafts-Phantasien das völkische Gedankengut der dreißiger Jahre mit der Revolutionsrhetorik der 68er verschmolz - das würde bedeuten, dass der kultisch verehrte Schamane Beuys von dem, was er angeblich bannen wollte, selbst nicht los kam. Und auch wenn die Berliner Ausstellung alles tut, um Beuys als über alle Zweifel erhabenen Humanisten und Utopisten in Gold und Honig zu tunken, so kann man dort einige Belege für Wyss' These finden: Wer das Prinzip der politischen Repräsentation abschaffen will, ist sicher kein guter Demokrat im konventionellen Sinne."

Weitere Artikel: Martin Zähringer stellt die Kleinverlage Literaturca aus Frankfurt am Main, J&D Dagyeli aus Berlin und Sardes aus Erlangen vor, die dem deutschen Publikum türkische Literatur nahezubringen versuchen. In ihrer Kolumne beschreibt Marcia Pally den Glauben an den freien Markt als Opium des amerikanischen Volkes. Christian Schlüter widmet dem Burning Man Festival im richtigen und im Second Life eine Times Mager.

Besprochen werden Martin Kusejs den Kritiker Joachim Lange sehr überzeugende Inszenierung von "Macbeth" zur Spielzeiteröffnung an der Bayerischen Staatsoper (der bedenkenlos auf Agenturtexte zurückgreifenden FR-Online-Strategie ist es zu verdanken, dass auch ein zu ganz anderen Schlüssen gelangender dpa-Text noch auf der Kultur-Startseite herumliegt), ein Ornette-Coleman-Konzert in Heidelberg und ein von Sir John Eliot Gardiner dirigiertes Brahms-Konzert mit Naturhörnern.

Aus den Blogs, 04.10.2008

Don Alphonso zitiert aus einem Blogbeitrag des Handelsblatt-Bloggers Harald Uhlig: "Sollte es einen run auf die Commerzbank geben, dann ist das Ende der Fahnenstange erreicht. Die Einlagensicherung des Bankenverbandes der Privatbanken ist nach dem Lehmann-Untergang so gut wie pleite." Der Eintrag wurde vom Handelsblatt gelöscht, weshalb Don Alphonso auf das Google-Cache verlinkte (wo der Beitrag offensichtlich auch nicht mehr zu finden ist). Uhlig erklärt in seinem letzten Blogeintrag, "dass mir kein anderer Weg bleibt als die Bitte an die Handelsblatt-Redaktion, meinen Blog zu schließen."
Stichwörter: Handelsblatt, Don Alphonso

TAZ, 04.10.2008

Simone Kaempf porträtiert den britischen Dramatiker Simon Stephens, der in Deutschland seine größten Erfolge feiert: "Die politischen Themen, über die er so ernsthaft spricht, würde Stephens nie eins zu eins auf die Bühne holen. 'Theater würde schlecht daran tun, die globalen Bewegungen und Ereignisse direkt auf der Bühne zu thematisieren. Theater dreht sich darum, wie Menschen sich untereinander verhalten', so erklärt er seine Perspektive. Er lässt seine Figuren in Alltagssituationen aufeinander treffen, die durch und durch von Verunsicherung und Desorientierung geprägt sind. Während viele deutsche Gegenwartsdramatiker die Probleme eher schlicht ausbreiten, verändert Stephens subtil die DNA seiner Figuren und schaut, was dann im alltäglichen Miteinander geschieht."

Weitere Artikel: Wiebke Porombka zieht eine Bilanz des diesjährigen Internationalen Literaturfestivals in Berlin. Stefan Reinecke fragt sich, ob die plötzlich eingetretene Stille nach dem Start von "Der Baader Meinhof Komplex" nicht für ein "gesunkenes Hysterie-Level" beim Thema RAF spricht. Elisabeth Raether blickt voraus auf das Wochenende der großen Modeschauen in Frankreich.Auf der Themen-des-Tages-Seite schildert Sebastian Moll die katastrophalen Auswirkungen der Finanzkrise auf die Sozialeinrichtungen New Yorks.

In der zweiten taz macht sich Arno Frank Gedanken über die aktuelle "Beschwichtigungsrhetorik". Warum die von wohlhabenden Ökos besuchte "Neobiedermeier"-Fairtrade-Cafekette Aran als "zivilisatorischer Fortschritt" zu begreifen ist, erklärt Jan Feddersen. Martin Reichert war in einer "Saunalandschaft". Felix Rettberg verabschiedet Steve Fossett und mit ihm einen ganzen "Heldentypus".

Besprochen werden Hannes Stöhrs Film "Berlin Calling", Mahmoud Al-Assads Film "Recycle" und Bücher, darunter Orlando Figes' historisches Stalinzeit-Mammutwerk "Die Flüsterer" und Elif Shafaks Roman "Der Bonbonpalast" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Dossier des taz mag berichten Laura Gallati und Alma Noser aus dem polnischen Städtchen Rymanow, das sechzig Jahre nach der Ermordung sämtlicher jüdischer Bewohner an einem "Remembrance Day" erstmals des Ungeheuerlichen gedachte. Natalie Tenberg porträtiert eine Heimweh-Reiseagentur und einen ihrer Kunden.

Und Tom.

FAZ, 04.10.2008

Im Aufmacher singt Frank Schirrmacher ein geradezu apokalyptisches Abschiedslied für George W. Bush: "Was Aktienbesitzern jetzt schwant, dass sie nach Jahren der Akkumulation nichts mehr besitzen, gilt ebenso für unser Handeln und Denken. Bush hat Freiheit, Demokratie, Wohlstand mit null multipliziert, er hat, mit erborgten Idealen, die Ideale deklassiert."

Weitere Artikel: In der Leitglosse bezieht Patrick Bahners Stellung gegen den an der Uni Münster lehrenden islamischen Theologen Muhammed Kalisch, der abweichende Lehren vertritt, aber mangels einer islamischen Kirche nicht angemessen bestraft werden kann. Jürg Altwegg weist auf eine riesige Reportage Jonathan Littells aus Georgien hin, die heute in Le Monde veröffentlicht wurde. Eduard Beaucamp beklagt in seiner Kunstkolumne, dass die Museen die Entstehungsumstände moderner Skulpturen vernachlässigen, so dass häufig eine "Gussschwemme" droht.

Auf der Schalplatten-und-Phono-Seite stellt Kerstin Holm eine CD mit Werken russischer Avantgardekomponisten vor. Außerdem geht's um eine CD des Pianisten Kolja Lessing, der dringend für eine Wiederentdeckung des Komponisten Wladimir Vogel plädiert, um eine CD des Stax-Gitarristen Steve Cropper und um die neue CD von Peter Licht.

Auf der Medienseite berichtet Jürg Altwegg über die Pläne des schlechthin allzuständigen französischen Präsidenten für die französische Presse. Für die letzte Seite des Feuilletons ist Andreas Platthaus mit Uwe Tellkamp im Dresdner Villenviertel Weißer Hirsch spazieren gegangen, wo Tellkamps viel gefeierter Roman "Der Turm" spielt.

Im Aufmacher von Bilder und Zeiten fragt Mark Siemons, ob China angesichts der Schwächung Amerikas dem Westen die Systemfrage stellen wird. Diemar Dath plädiert für eine Wiederentdeckung der Dichterin Helga Doolittle. Karen Krüger porträtiert die türkische Autorin Perihan Magden. Auf der Literaturseite geht's um die neuen Romane von Klaus Modick und von August Lafontaine. Für die letzte Seite interviewt Andreas Platthaus die amerikanische Operndiva Mary Costa.

In der Frankfurter Anthologie stellt Elke Heidenreich ein Gedicht Reiner Kunzes vor - "Apfel für M. R.-R."

SZ, 04.10.2008

Andreas Zielcke fragt, was eigentlich "Realismus" im Finanzbereich genau heißen soll, wenn der Markt sein Reales doch einzig im Preis bestimmt. Christopher Schmidt glaubt, dass der Vertrag von Stephan Märki, dem Generalintendanten von Weimar, nicht zuletzt seines "erklärten Antiprovinzialismus" wegen nicht verlängert wird. In seiner "Nackt in Nowosibirsk"-Kolumne berichtet der Schriftsteller Georg Klein diesmal über real existierende sowie über aus dem Straßenbild und dem Gedächtnis getilgte Gedenkstätten. Sehr kritisch beurteilt Kaspar Renner den neuen, hauptsächlich vom Historiker Paul Nolte konzipierten "Public History"-Masterstudiengang an der FU Berlin, weil er methodische Grundlagenkenntnisse der Geschichtswissenschaft nicht vermittelt. Volker Breidecker muss feststellen, dass im neuen "Caricatura"-Museum für Komische Kunst in Frankfurt zwischen dem künstlerisch Haltbaren (Gernhardt, Waechter) und dem ganz in seiner Zeit Verhafteten (Poth, Traxler) nicht hinreichend unterschieden wird.

Besprochen werden Martin Kusejs Inszenierung von Verdis "Macbeth" an der Bayerischen Staatsoper, Simon Solbergs "Faust"-Inszenierung am Münchner Volkstheater, die große Beuys-Werkschau in Berlin, Nicolai Rohdes Film "10 Sekunden" und Bücher, darunter Marlene Streeruwitz' neuer Roman "Kreuzungen" und Simon Blackburns Loblied auf die "Wollust" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende singt Hilmar Klute eine große Hymne auf den gerade durch Europa tourenden Leonard Cohen (Website) als "Troubadour des großen Entgleitens im ausgechillten Posthistoire". Christiane Schlötzer erinnert sich ans Pioniersein. Über Filme, die wie der gerade laufende "Gomorrha" in Elendsvierteln spielen, denkt Eva Munz nach. Sarah Khan stellt einen Waschsalon in Berlin-Moabit vor. Auf der Literaturseite gibt es ein Debüt: Die bisher als Schauspielerin und Musikerin hervorgetretene Julia Hummer veröffentlicht ihren ersten literarischen Text; er trägt den Titel "Marlon heißt er und er hat um sieben Schluss". Detlef Esslinger hat sich dem Ex-US-Präsidentschaftskandidaten Michael Dukakis unterhalten: übers "Verlieren".